Editorial

Ralph Sichler

Mit der Thematisierung des Verhältnisses von Identität und Wandel in Organisationen stehen wir in einer langen Tradition des abendländischen Denkens. Abstrahiert man vom Bezug zu Organisationen, lassen sich die Wurzeln bis in die antike Philosophie Griechenlands zurückverfolgen. Aus Parmenides und Heraklit werden häufig zwei Antipoden der Auseinandersetzung um die Qualitäten Sein und Werden gemacht, der eine die Identität des Seins, der andere dessen permanente Veränderung – meist mit dem vielstrapazierten Ausspruch »Alles fließt« charakterisiert – hypostasierend. Ob aufgrund der dünnen Quellenlage bei den Vorsokratikern diese Gegenüberstellung zu Recht besteht oder zu plakativ ist, lassen wir hier einmal dahingestellt. Deutlich wird allerdings, dass die Beschäftigung mit den Phänomenen Wandel und Identität im Denken der Menschen offenbar tief verankert ist. Aristoteles, dessen Philosophie die Wissenschaft bis auf die heutige Zeit vieles Grundlegendes verdankt, hat in seiner Auseinandersetzung mit dem griechischen Denken bis auf seine Zeit auf kongeniale Weise versucht, Veränderung und Beständigkeit im Sein zusammen zu führen. Er unterscheidet das Subjekt einer Veränderung, welches bleibt, von den Attributen, welche entstehen oder vergehen. Wenn der Mensch gebildet wird, bleibt der Mensch. Das heißt: Der Mensch, dem zuvor die Bildung fehlte, ist derselbe. Was fehlt, ist der schwindende Mangel an Bildung. Was vergeht, ist die Unbildung, was entsteht, ist das Gebildetsein des betreffenden Menschen. Aristoteles folgert daraus, dass in allen Fällen des Werdens immer etwas existiert, das zugrunde liegt (griech. hypokeimenon; lat. subiectum). Es ist das Werdende, das bleibt.

Mit dieser klassischen Überlegung scheint auch das Gelände abgesteckt zu sein, in dem Veränderungsprozesse in Organisationen und deren Identität thematisiert und analysiert werden können. Allerdings: Das, was im Wandel eines Unternehmens oder einer Institution zugrundeliegt und damit bestehen bleibt, im wahrsten Sinne dingfest zu machen, ist ein schwieriges, mitunter vertracktes Unterfangen. Natürlich ist es allein schon sprachlich unabdingbar, dass wir von etwas sprechen, eben auf etwas Zugrundeliegendes verweisen, wenn wir einen Wandlungsprozess konstatieren. Die Überlegung von Aristoteles war möglicherweise auch in erster Linie eine sprachliche Analyse – so liegt es zumindest nahe, wenn man heute den linguistic turn in der Philosophie einbezieht. Doch was meint das Gleichbleibende bei einem Veränderungsprozess einer Organisation? Die Organisation selbst? Oder andere Aspekte der Organisation wie den Namen oder die Marke, ihre Produkte, den Vorstand, ihr Selbstverständnis, ihre Geschichte? Die Erfahrung zeigt, dass der Wandel sehr tiefgreifend sein kann und von dem, was einmal war, oft nichts mehr übrig lässt. In manchen Fällen – etwa im Zuge einer Übernahme oder Fusion – verschwindet sogar die Organisation als öffentlich wahrnehmbares, eigenständiges Rechtssubjekt. Und doch: Es wird identifizierbare Aspekte oder Teile der betreffenden Organisation geben müssen, die auch bei radikalen Veränderungen bestehen bleiben. Ansonsten wäre es in der Tat schwierig, sowohl die Veränderung als auch das, was Beobachter und Beobachterinnen berechtigt, von dieser Organisation als etwas Beständigem zu sprechen, zu erkennen.

Damit ist der Kern der Problemstellung dieser Ausgabe des Journals für Psychologie angedeutet. Wenn von Wandel und Identität in Organisationen gesprochen wird, dann besteht ein wesentlicher Bestandteil der Frage gerade darin, woran die Veränderung und woran die Kontinuität festgemacht wird. Für uns war dabei von besonderem Interesse, was mit Identität bei gerade sich verändernden Organisationen gemeint ist? Wovon sprechen wir, wenn im Wandel eines Unternehmens etwas – aristotelisch gesprochen – zugrundeliegt, das bleibt?

Generell kann konstatiert werden, dass durch den zunehmenden globalen Wettbewerb, durch den technologischen Wandel und dem Wechsel von Eigentümerinnen und Eigentümern derzeit zahlreiche Organisationen einem starken, oft lang anhaltenden Veränderungsdruck ausgesetzt sind. Um am Markt zu bestehen, sehen sich Organisationen gedrängt, sich weiterzuentwickeln und den Wandel möglichst aktiv von sich aus zu gestalten. Die damit verbundenen Veränderungen erzeugen allerdings häufig Unsicherheit. Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern leisten nicht selten passiven oder gar aktiven Widerstand. Ein Kernthema, das mit dem Wandel in Organisationen einhergeht, betrifft die Frage nach der Identität von Organisationen sowie – damit im Zusammenhang stehend – nach der Identifikation der Belegschaft mit dem Unternehmen: Was kennzeichnet als zeitlich übergreifende Merkmale die Organisation, bei der ich beschäftigt bin? Wer sind wir als Unternehmen? Inwieweit identifiziere ich mich mit meiner Organisation und fühle mich an sie gebunden – (gerade) auch dann, wenn sich dort Dinge (tiefgreifend) verändern? Inwiefern wandelt sich mein Bild von der Organisation, bei der ich arbeite, im Zuge von Veränderungsprozessen, welche die Organisation insgesamt betreffen?

Im Themenschwerpunkt dieser Ausgabe des Journals für Psychologie wird diesen und verwandten Problemstellungen nachgegangen. Dabei steht die Frage der Identität von Organisationen (in Wirtschaft und anderen Bereichen wie beispielsweise dem Bildungssektor) einschließlich der damit verbundenen Identifikation der Mitglieder mit ihrer Organisation vor dem Hintergrund von Prozessen des Wandels und der Veränderung (und damit einhergehender Probleme) im Zentrum der Analyse. Vertreten sind sozialwissenschaftliche, insbesondere soziologische sowie organisationspsychologische Beiträge, die sich alle in unterschiedlicher Weise auf empirische Studien stützen. Wir freuen uns, dass vor allem die qualitative Forschung prominent vertreten ist. Die Komplexität unserer Problemstellung lässt sich durch interpretative Ansätze besser ausleuchten, als dies etwa mit Fragebogenstudien geleistet werden könnte.

Unter den eingereichten Beiträgen sind etliche der Organisationssoziologie zuzurechnen. Auch die wirtschaftswissenschaftliche Organisationslehre ist vertreten. Es fällt auf, dass dort in erster Linie ein transindividueller Zugang zur Themenstellung vorherrscht. Unter den theoretischen Ansätzen liegt dabei vor allem der systemtheoretische Zugang in Anlehnung an die Organisationstheorie von Niklas Luhmann als Analyseinstrument zugrunde. Dies stellt für den psychologischen Zugang, der ja naturgemäß stärker am Individuum und dessen Einbettung in soziale Strukturen und Prozesse anknüpft, insofern eine Herausforderung dar, als Luhmann bekanntermaßen das Psychische in die Umwelt der sozialen Systeme verlegt hat. Auch der Mensch ist für keine originäre Analysekategorie. Das Individuum wiederum wird aus der Kommunikation relevanter sozialer Systeme rekonstruiert.

Für die theoretische Diskussion in der Psychologie kann dies jedoch nur als anregend angesehen werden. Es ist faktisch häufig Praxis in der Psychologie, jedoch keine theoretisch befriedigende Lösung, ein quasi sozial entleertes, abstraktes Individuum der soziologischen Perspektive gegenüberzustellen. Für die Zukunft dürfte die Integration soziologischer und solcher psychologischer Zugänge, welche an der sozialen Interaktion zwischen Individuen anknüpfen, ein vielversprechender Ansatz sein. Dazu sollte mit dieser Ausgabe des Journals ein kleiner Beitrag geleistet werden. Denn gerade am Beispiel der Identität und des Wandels von Organisationen lässt sich die Verschränkung sozialer und individueller Bezüge aus theoretischer und praktischer Perspektive besonders gut nachzeichnen.

Im Folgenden werden die Beiträge dieser Ausgabe kurz vorgestellt:

Matthias Tomenendal und Sina Goldkamp machen in ihrer Arbeit zunächst deutlich, dass die organisationswissenschaftliche Identitätsforschung vor allem von sozialpsychologischen Ansätzen geprägt wurde. Im Unterschied dazu wird im Rahmen eines systemtheoretischen Zugangs ein dynamisches Organisationsverständnis entwickelt, welches aufgrund seines reflexiven Charakters von einer immanent wandelbaren Organisationsidentität ausgeht. Anhand von zwei Fallbeispielen wird deutlich gemacht, dass Unternehmen riskieren, in eine Identitätsfalle zu tappen, wenn sie (insbesondere im Zuge von Veränderungsprozessen) ihre Identität nicht verändern.

Leopold Ringel beleuchtet formale und informale Strukturelemente von Organisationen, welche jeweils unterschiedliche Potentiale für den Aufbau von organisationsbezogener Identität aufweisen. Der Autor veranschaulicht seine in Anlehnung an Luhmanns Organisationssoziologie entwickelte theoretische Position an einem Fallbeispiel. Dabei wird deutlich, dass Veränderungsprozesse in Organisationen mit einem weitgehend stabilen Aufbau und konsistenten Identitätsmerkmalen an den Beharrungskräften ihrer eigenen Strukturen scheitern können.

Die Auswirkungen von organisationalen Veränderungen auf die Bildungsarbeit thematisieren Karin Lohr, Thorsten Peetz und Romy Hilbrich in ihrem Beitrag. Sie konzentrieren sich dabei zum einen auf Verunsicherungsprozesse, die sich bei in Bildungsinstitutionen Beschäftigten einstellen und die deren professionelle Identität nachhaltig tangieren. Zum anderen beleuchten sie als zentrale Analysekategorie deren Eigensinn, welcher für die Interpretation und Assimilation von organisationaler Veränderung eine bedeutende Rolle einnimmt.

Am Beispiel von Weiterbildungsorganisationen wendet sich Rainer Zech der Frage zu, wie Organisationen ihre Identität herausbilden und wie es gelingt, dass sich Beschäftigte mit ihrer Organisation identifizieren. Der Autor begreift dabei das Konstrukt der organisationalen Identität als eine bestimmte Form der Selbstbeschreibung einer Organisation. Im Rahmen organisationaler Spezialsemantiken und symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien kommt es im besten Fall zu einer Verschränkung organisationaler und individueller Identitätsaspekte. Auf der anderen Seite werden durch eine hohe Komplementarität der Identität von Organisationen und der Identifizierung der Beschäftigten mit ihrer Organisation Veränderungen erschwert.

Alexandra Zimmermann, Gina Falkner und Julia Müllner beleuchten in ihrem Beitrag die Bedeutung der Identifikation und Nicht-Identifikation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihrer Firma. Sie veranschaulichen ihre theoretischen Überlegungen am Beispiel eines Unternehmens, das eine Reihe von gravierenden strukturellen Veränderungen durchlaufen hat. Dabei zeigt sich, dass die Nicht-Identifikation mit dem Unternehmen nicht einfach mit fehlender Identifikation gleichgesetzt werden kann. Vielmehr stellt diese eine eigene, besondere Form der Identifikation mit dem Unternehmen dar.

Einen weiteren Aspekt im Fadenkreuz von Identität und Veränderung in Organisationen diskutiert Martin Elbe in seinem Text. Er streicht heraus, dass das Erleben von Unsicherheit, welches häufig mit Veränderungen in Organisationen einhergeht, zur Institutionalisierung des Managements auf der Unternehmensseite und zur Institutionalisierung einer Employography (persönliche Berufsbiographie) bei den Beschäftigten führt. Dies wiederum hat zur Folge, dass sich die Entwicklung von Organisationen und die organisationale Sozialisation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, damit kollektive und individuelle Identitäten zunehmend entkoppeln.

Stella Müller und Karolina Barglowski beleuchten Strukturveränderungen in der Sozialen Arbeit. Aufgrund von Standardisierungs- und Ökonomisierungstendenzen kommt es zu einer Umgestaltung der Handlungsspielräume, welche die in der Wohlfahrt Beschäftigten nutzen und ausfüllen können und sollen. Im Rahmen eines interaktionstheoretischen Zugangs zum Feld werden Gesprächsprotokolle aus Interviews mit ausführenden Akteuren in wohlfahrtsstaatlichen Organisationen ausgewertet und in Beziehung zu verschiedenen Orientierungstypen im berufsbezogenen Handeln der Sozialarbeit gesetzt.

Mit der Identitätsarbeit älterer Führungskräfte in Organisationen setzt sich Sylke Meyerhuber auseinander. Organisationale Veränderungsprozesse betreffen zum einen gewachsene Führungs- und Kooperationsstrukturen, zum anderen wirken sie sich auf den Übergang in den Ruhestand aus. Am Beispiel einer Längsschnittstudie mit einem Hauptabteilungsleiter werden im Zuge der hermeneutischen Analyse von drei auf mehrere Jahre verteilten Interviews die betreffenden Entwicklungs- und Wandlungsschritte nachvollzogen. Entfaltet wird ein Kaleidoskop an anerkennenden, aber auch kränkenden Erfahrungen, welche zur Ausbildung von beruflicher Identität in Auseinandersetzung mit organisationalen Prozessen, Strukturen und Veränderungen beitragen.

In der Rubrik Psychologie in der Berufspraxis werden von Georg Ebner und Christian Krammer das Konzept und der Prozess eines Veränderungsprojekts im Öffentlichen Dienst (Akademie der Landesverteidigung Österreich) vorgestellt. Dabei wird herausgearbeitet, dass die Einbindung der betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Changeprozess sowie die offene Kommunikation durch Foren und Instrumente wie »World Café« und »Point of Communication« die Nachhaltigkeit und Akzeptanz von Veränderungen maßgeblich erhöhen.

Der Herausgeber dieses Schwerpunkts dankt allen Mitwirkenden an diesem Heft. Neben den Autorinnen und Autoren sind auch die Gutachterinnen und Gutachter zu nennen, welche durch ihr Feedback maßgeblich zur Qualität der Texte dieser Ausgabe beigetragen haben: Jarg Bergold, Andrea Birbaumer, Martin Dege, Tanja Eiselen, Helmut Lück, Sarah Meisenberger, Sylke Meyerhuber, Aglaja Przyborski, Jürgen Seel und Alexandra Zimmermann.

Inwieweit den unterschiedlichen Geschlechtern in der Schreibweise der Autorinnen und Autoren Rechnung zu tragen ist, wurde durch den Herausgeber nicht vorgegeben. Die Beiträgerinnen und Beiträger haben jeweils ihre eigene, bevorzugte Lösung gewählt.

Nicht zuletzt möchte ich mich für die Verspätung der Ausgabe bei den Autorinnen und Autoren sowie Leserinnen und Lesern entschuldigen. Ich bitte um Nachsicht. Vielerlei berufliche und private Gründe haben dazu geführt, nun überwiegt die Freude über das Erscheinen dieser Ausgabe mit ihren wertvollen Beiträgen.

Über den Autor

Ralph Sichler

Dr. phil., Diplom-Psychologe, Leiter des Fachbereichs Management-, Organisations- und Personalberatung an der Fachhochschule Wiener Neustadt sowie Professor für Angewandte Psychologie an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien.

Arbeitsschwerpunkte: Arbeit und Autonomie, Soziale Anerkennung in Arbeit und Organisation, Personalmanagement, Führung, Kulturpsychologie, Grundlagen interpretativer Sozialforschung.

Univ. Doz. Dr. Ralph Sichler Fachhochschule Wiener Neustadt Fachbereich Management-, Organisations- und Personalberatung Johannes Gutenberg-Straße 3 A-2700 Wiener Neustadt

E-Mail: ralph.sichler@fhwn.ac.at