Wie man auf die Welt schaut, so bietet sie sich dar. Wählt man einen differenztheoretischen Zugang systemtheoretischer Provenienz, dann benutzt man die Grundunterscheidung System/Umwelt und beobachtet Organisationen als formalisierte soziale Systeme der Kommunikation von Entscheidungen, die getrennt von ihrer Umwelt rekursiv geschlossen und autopoietisch operieren. Die Menschen gehören in dieser Sichtweise zur Umwelt der Organisation. Sie werden als psychische Systeme gefasst, die strukturell mit sozialen Systemen gekoppelt sind. Das heißt, beide Systemtypen operieren überschneidungsfrei, indem sie ihre jeweiligen Autopoiesen durch die Verkettung von Gedanken bzw. von Kommunikationen realisieren, stellen sich aber wechselseitig ihre Strukturleistungen zur Verfügung. Die Fragen, die sich in diesem Aufsatz stellten, sind nun: Wie bilden Organisationen ihre jeweilige Identität heraus? Wie ist das Verhältnis von Organisation und Individuen zu bestimmen? Und wie gelingt es Organisationen, dass sich die beschäftigten Individuen mit ihnen identifizieren? Die Beantwortung der Fragen wird anhand von empirischen Daten aus einem Forschungsprojekt zur Identität und Funktionslogik von Weiterbildungsorganisationen versucht.
Schüsselwörter: Organisationsidentität, Mitarbeiteridentifikation, Weiterbildungsorganisation, Selbstbeschreibung, Fremdbeschreibung
Keywords: Organizational Identity, Identification of employees, Organization of adult education, self-description, re-description
The way you look at the world determines how it represents itself. Choosing a differentiated theoretical approach originating in systems theory, you use the basic distinction system/environment and observe organizations as formalized social systems which communicate decisions and operate separately from their environment in an autopoietically closed and recursive manner. From this perspective, people belong to the organizational environment. They are conceptualized as psychic systems that are structurally coupled with social systems. That is, both types of systems operate without any overlap by realizing their respective autopoieses through the concatenation of thoughts or communication, while making their structural capacities mutually available. The questions raised in this paper are: How do organizations create their respective identities? How is the relationship between the organization and the individuals to be defined? And how do organizations succeed in getting the employed individuals to identify with them? An answer to these questions is attempted using empirical data from a research project on the identity and functional logic of training organizations.
Schüsselwörter: Organisationsidentität, Mitarbeiteridentifikation, Weiterbildungsorganisation, Selbstbeschreibung, Fremdbeschreibung
Keywords: Organizational Identity, Identification of employees, Organization of adult education, self-description, re-description
Die Systemtheorie kommt beim Thema Organisation zwar ohne Menschen aus, denn Organisationen werden als das Netzwerk rekursiv vernetzter Entscheidungskommunikation betrachtet. Trotzdem werden aber die Organisationen selbst als gesellschaftliche Akteure bzw. als Mitteilungshandelnde von Kommunikation in Anspruch genommen. »Dies bedeutet auch, dass Organisationen ein pars-pro-toto entwickeln müssen, eine ‚Instanz‘, die die Selektivitätsgeschichte des Systems beobachtet und auf dieser Grundlage ‚Äußerungen‘ produziert oder ‚entgegennimmt‘, die in die Autopoiesis des Systems eingehakt werden: als Entscheidungen, die sich auf Entscheidungen beziehen« (Fuchs 2010, S. 270). Organisationen sind gesellschaftliche Akteure, haben eine Adresse; man kann ihnen schreiben und man bekommt von ihnen eine autoritative Antwort, auf die man sie wiederum verpflichten, im Extremfall sogar verklagen kann. Organisationen werden in der gesellschaftlichen Kommunikation als juristische Personen behandelt; sie müssen also eine Identität haben, die kommunikativ adressiert und/oder als handelnd beobachtet werden kann. Wie kann dies gehen?
Die erste Bedingung hierfür ist, dass Organisationen über Entscheidungen Mitgliedschaften regeln, also psychische Systeme für organisationale Kommunikationen in Anspruch nehmen. Individuen werden auf diese Weise zu Personen (siehe Kapitel 2), also zu kommunikativen Adressen, die Stellen in den formalen Weisungsketten der Organisation besetzen. Diesen Personen können dann in der Beobachtung Kommunikationen als Entscheidungen zugerechnet werden. Diese Entscheidungen sind, auch wenn es alternative Möglichkeiten und mehr oder weniger große Variationsbreiten gibt, nicht völlig beliebig, sondern durch programmatische Regeln in einem gewissen Rahmen vorherbestimmt. Im Prozess des rekursiven Verknüpfens von Entscheidungen entstehen mit der Zeit unvermeidlich so genannte »Eigenwerte« (von Foerster 1993, S. 241), die als Identität oder Selbst der Organisation kondensieren, wodurch sich die Organisation selbst und ein anderer Beobachter die Organisation wiedererkennt. Die Identität bzw. das Selbst der Organisation entsteht als kommunikativer Prozess im Verlauf der Zeit dadurch, dass sich die Organisation ihr Beobachten und Kommunizieren zeitversetzt beobachtet, also durch eine (Selbst)Beobachtung zweiter Ordnung. »Das Selbst bezeichnet mithin jene Einheit, die ein System im Unterschied zu anderen für sich selbst ist. Es macht die Organisation sich selbst als Gegenstand der Beobachtung, des Gestaltens und Veränderns verfügbar« (Wimmer 2011, S. 537). Organisationen individualisieren sich dann durch die Geschichte ihrer kommunizierten Entscheidungen, die durch Entscheidungsprämissen, die auf Entscheidungen beruhen, dirigiert werden. Die zweite Bedingung ist, dass die entscheidenden Stellen in ein hierarchisches Gefüge eingeordnet sind, das darüber disponiert, was wo mit welcher Zuständigkeit und welcher Verantwortung entschieden werden darf. Die Identität einer Organisation drückt sich dann in allen ihren legitimierten Verlautbarungen und Handlungen aus; sie konstituiert darüber hinaus die Art der Selbstpräsentation ebenso wie das gesamte Tun.
Organisationale Identitäten sind nicht ohne weiteres gegeben, sie müssen durch Selbstbeschreibungen narrativ formuliert werden. »Unter ‚Selbstbeschreibung‘ wollen wir die Produktion eines Textes [...] verstehen, mit dem und durch den die Organisation sich selbst identifiziert« (Luhmann 2000, S. 417). Texte sind das Gedächtnis sozialer Systeme; in der Selbstbeschreibung konstituiert sich das System als Einheit aller seiner Operationen. Die Funktion von Selbstbeschreibungen liegt darin, die laufend anfallenden Selbstreferenzen zu bündeln und zu zentrieren, um deutlich zu machen, um welches Selbst es bei der Identität der Organisation geht. Jedes System ist als Gesamtheit für sich selbst unerreichbar und intransparent; in der Selbstbeschreibung reduziert die Organisation ihre Komplexität, Widersprüchlichkeit und Kontingenz auf eine handhabbare und kommunizierbare Einheit. Über Reflexionsschleifen werden Selbstbeobachtungen in Selbstbeschreibungen transformiert. Mit einer Selbstbeschreibung stellt sich die Organisation nach innen und außen dar. »Organisationen benutzen ihre Selbstbeschreibungen, um ihre individuelle Besonderheit in einer Terminologie herauszustellen, die, wie man hofft, allgemeine Anerkennung findet« (ebd., S. 438). Da aber kein System sich selbst vollständig überblicken kann, hat jede Selbstbeobachtung – wie jede Beobachtung generell – ihren blinden Fleck. Das liegt daran, dass der Unterscheidungsgebrauch der Beobachtung in der je aktuellen Beobachtungsoperation nicht mitbeobachtet werden kann. Man müsste sich andernfalls je aktuell beim Beobachten beobachten, was in einen unendlichen Regress liefe.
Wenn Menschen respektive Individuen mit ihrem Bewusstsein zur Umwelt von Organisationen gehören bzw. wenn soziale Systeme und psychische Systeme überschneidungsfrei operieren, dann bleibt als Frage unserer theoretischen Begriffsarbeit noch zu klären, wie Menschen/Individuen in die Kommunikation einer Organisation gelangen können. Hierfür hat die Systemtheorie den Begriff der Person bereitgestellt. Ausgehend vom lateinischen ‚persona‘, das die Maske des Schauspielers bezeichnete, durch deren trichterförmige Mundöffnung ihre Stimmen hindurchtönten (per-sonare), meint Person hier nicht die Einzigartigkeit eines Menschen oder eine Ganzheit einer individuellen Persönlichkeit, sondern eine in der und durch die Kommunikation erzeugte semantische Repräsentanz. Personen sind kommunikative Adressen. »Die Form der Person dient ausschließlich der Selbstorganisation des sozialen Systems, der Lösung des Problems der doppelten Kontingenz durch Einschränkung des Verhaltensrepertoires der Teilnehmer« (Luhmann 1995, S. 152). »Personen dienen der strukturellen Kopplung von psychischen und sozialen Systemen. Sie ermöglichen es den psychischen Systemen, am eigenen Selbst zu erfahren, mit welchen Einschränkungen im sozialen Verkehr gerechnet wird« (ebd., S. 153f.). Die strukturelle Kopplung (vgl. Luhmann 1997, S. 92ff.) von sozialem und psychischem System verläuft über das Medium der Sprache, die in Organisationen die Form einer Spezialsemantik annimmt (siehe Kapitel 3). Die Form der Person kann dann in der organisationalen Kommunikation als Autor oder Adressat einer Mitteilung oder als Thema der Kommunikation beobachtet werden.
Im kommunikativen Netzwerk der Organisationen sind mit Personen also keine Menschen aus ‚Fleisch und Blut‘ gemeint, sondern gewissermaßen ‚Funktionsbündel‘. In Organisationen existieren spezifische Erwartungsstrukturen, die als »Di rigate für die Realisierungsmöglichkeiten sozialer Adressen« fungieren (Fuchs 2010, S. 176). Fuchs benutzt für diese Struktur, die das Meiste vorgibt und nur bestimmte Lücken zum Ausfüllen freilässt, auch die Metapher Formular (ebd.). Das Wort führt als Bedeutung die Formalisierung, das Uniformieren als ‚In-eine-Form-Bringen‘ passend mit sich. Man könnte mit Sève (1973, S. 266f.) auch von Individuali tätsformen sprechen, als »notwendige Aktivitätsmatrizen«, die Individuen in bestimmten Verhältnissen ausfüllen müssen. »Organisation ist, wie Gesellschaft selbst und wie Interaktion auch, eine bestimmte Form des Umgangs mit doppelter Kontingenz. Jeder kann immer auch anders handeln und mag den Wünschen und Erwartungen entsprechen oder auch nicht – aber nicht als Mitglied einer Organisation. Hier hat er sich durch Eintritt gebunden und läuft Gefahr, die Mitgliedschaft zu verlieren, wenn er sich hartnäckig querlegt« (Luhmann 1997, S. 829). Deshalb sind Organisationsmitglieder eben keine ‚ganzen Menschen‘. Die Form der Person ermöglicht die Zurechnung von Verantwortlichkeit und die Diagnose eventueller Abweichungen von den Erwartungen.
Organisationen sind kommunikative Netzwerke von Entscheidungen, und ihre Mitglieder tauchen in diesen Kommunikationen als Personen auf, d.h. als Sender, Empfänger oder Thema der Kommunikation. Wie allerdings eine Folgekommunikation auf eine kommunikative Offerte reagiert, ist prinzipiell nicht festgelegt. Sie kann grundsätzlich immer zustimmen oder ablehnen; und dies gilt vice versa. Durch Erwartungsstrukturen und symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien wird diese doppelte Kontingenz jeglicher Kommunikation dadurch kompensiert, dass ein positiver Anschluss der jeweils folgenden Kommunikationsbeiträge befördert wird. So regelt als wichtigstes Kommunikationsmedium in Organisationen das Geld in Form der Gehaltszahlung, dass die Mitglieder den organisationalen Erwartungen entsprechen. Darüber hinaus gibt es weitere Kommunikationsmedien, die vor allem die Identifikation der Mitglieder mit ihrer Organisation sicherstellen sollen. Diese Medien fallen in den verschiedenen Organisationen sehr unterschiedlich aus; es kann sich dabei z.B. um Konsens oder Anerkennung handeln (siehe Kapitel 5). Die Kommunikationen selbst richten sich – strukturiert über eine Grundunterscheidung – an den Relevanzen für das System aus, d.h. an dem, was für das System operativ bedeutsam ist. Relevanzen können in der Umwelt des Systems vorliegen oder im System selbst. Die kommunikative Grundunterscheidung – oder anders ausgedrückt: den Code – übernehmen die Organisationen von dem gesellschaftlichen Funktionssystem, dem sie sich in erster Linie zuordnen. Für die Wirtschaft orientiert sich der Code an der Zahlungsfähigkeit, für das Religionssystem ist es der Glauben, für das Bildungssystem das Lernen. Mit ihrer jeweiligen Grundunterscheidung als Relevanzfilter scannen Organisationen ihre Umwelt und entscheiden so, worauf sie reagieren und was sie ignorieren wollen.
Auf der Basis der Grundunterscheidung bzw. des Codes ihres gesellschaftlichen Funktionssystems, dem sie angehören, und gegebenenfalls einer Zweitcodierung, die sie z.B. einem weiteren gesellschaftlichen Bezugssystem – für das sie z.B. besondere Leistungen erbringen – entnehmen, bilden Organisationen in ihrer Kommunikation eine Spezialsemantik (vgl. Willke 1994, S. 61) bzw. Sondersemantik (Luhmann 1997, S. 373) aus, mit der sie entscheiden können, welche Kommunikation zur Organisation und welche zur Umwelt gehören. Organisationen erzeugen »besondere Operationskorrelate, besondere Semantiken, besondere Unterscheidungen, mit deren Hilfe sie die Welt beobachten« (Luhmann 2000, S. 216). Was sich nicht in die Codierung der eigenen Semantik übersetzen lässt, wird ignoriert, verschwindet im Rauschen. Die Spezialsemantik ist die jeweils besondere Sprache einer Organisation, in der sich ihr Code gewissermaßen kaskadierend entfaltet und sich die Regelsysteme, die Erwartungs- und Entscheidungsmuster verdichten. Diese Spezialsemantiken entwickeln hinter dem Rücken der Beteiligten eine eigenständige Realität, die nicht mehr allein auf die Handlungen von Personen zurückführbar ist. In ihrer Spezialsemantik fertigen Organisationen auch ihre Selbstbeschreibungen an, womit sie sich ihrer eigenen Identität versichern (siehe Kapitel 1).
In einem mehrjährigen empirischen Forschungsprojekt untersuchen wir umfangreiche (ca. 80 Seiten lange) Selbstbeschreibungen von Weiterbildungsorganisationen in einer semantischen Diskursanalyse daraufhin, welche Muster der organisationalen Selbstpräsentation sich – gewissermaßen subkutan – in den inhaltlichen Aussagen finden lassen (vgl. zusammenfassend Zech et al. 2010, S. 25ff.).
Forschungs methodologisch beruht unser Vorgehen auf dem von Luhmann so genannten operativen Konstruktivismus (vgl. 1996, S. 18f.). Dieser bezweifelt keineswegs, dass es eine Realität gibt, setzt aber Welt nicht als Gegenstand, sondern im Sinne der Phänomenologie als unerreichbaren Horizont voraus. Deshalb bleibt keine andere Möglichkeit als Realität durch Beobachtung zu konstruieren oder – als wissenschaftliche Beobachtung zweiter Ordnung – Beobachter zu beobachten, wie sie Realität konstruieren. Wissenschaft ist nach Luhmann (vgl. 1992, S. 517ff.) grundsätzlich eine Beobachtung zweiter Ordnung: Sie beobachtet Beobachter, wie sie über Beobachtung ihre jeweilige Realität konstruieren, und baut auf dieser Basis ihre eigenen Theorien.
Den Ausgangspunkt unserer forschungs methodischen Herangehensweise bilden dann Luhmanns Überlegungen zum Verhältnis von description und redescription. Wir gehen – wie gesagt – mit Luhmann davon aus, dass sich organisationale Identitäten in einem Prozess der Selbstbeschreibung der Organisationen herausbilden. Eine wissenschaftliche Theorie der Organisation beobachtet nun aus einer Perspektive zweiter Ordnung sich selbst beobachtende Organisationen. Diese Dekonstruktion von deren Selbstbeschreibungen wird dann in wissenschaftlichen Fremdbeschreibung en rekonstruiert. Die Kombination von Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung ergibt einen theoretischen Gewinn, weil die Wissenschaft auf empirischer Basis reflexive Theorien ihres Gegenstandes bauen kann, die Dimensionen zu bezeichnen in der Lage sind, die Selbstbeschreibungen als Beobachtungen erster Ordnung verschlossen bleiben.
Beim methodischen Vorgehen orientieren wir uns bei unseren Dekonstruktionen und Rekonstruktionen an der Foucaultschen Diskursanalyse. Unter Diskursen (vgl. Foucault 1977; 1986) werden Formationen des Lebens, der Erkenntnis und des Handelns verstanden, die eine spezifische, nicht notwendige Sicht der Realität wiedergeben und die damit bestimmte Ordnungen realisieren sowie einen bestimmten Sinn produzieren, der nicht wahr sein muss, der aber den Beteiligten als wahr gilt und dadurch bestimmte Wirkungen zeitigt, Bestimmtes ermöglicht und Anderes verhindert. Die Aufgabe besteht darin, Diskurse »als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen« (1986, S. 74). Die Analyse von Diskurspraktiken fragt also nach den Formen, die ein bestimmtes Wissen artikulieren, und nach den Folgen, die dies hat. »Der wissenssoziologischen Diskursanalyse geht es darum, Prozesse der sozialen Konstruktion, Objektivation, Kommunikation und Legitimation von Sinn, d.h. Deutungs- und Handlungsstrukturen auf der Ebene von Institutionen, Organisationen bzw. sozialen (kollektiven) Akteuren zu rekonstruieren und die gesellschaftlichen Wirkungen dieser Prozesse zu analysieren« (Keller 2006, S. 115). Bei der Diskursanalyse werden die Selbstbeschreibungen der Organisationen also nicht von den Intentionen der Subjekte her verstanden, sondern aus den diskursiven Mustern, in die das Beschreiben eingeschrieben ist. Dieser Gedanke ist dann systemtheoretisch anschlussfähig, denn auch Luhmann argumentiert, dass Gesellschaft – ebenso wie ihre Phänomene wie z.B. die Organisationen – nur in der Gesellschaft, und das heißt in der Kommunikation, vorkommen. Die Gesellschaft insgesamt sowie ihre Teile die Organisationen sind für uns nur als Beschreibungen zugänglich.
Die Diskursanalyse will »die Analyse der historischen und sozialen Formationen so weit voranzutreiben, bis ihre singuläre Merkwürdigkeit offen zu Tage tritt« (Veyne 2009, S. 19). So entstehen individuell typische Beschreibungsmuster. Diese Muster sind einerseits individuell; sie verweisen aber andererseits auf gesellschaftliche Muster, die sich als Institutionen herausgebildet haben. Unsere darauf aufbauende Typenbildung ist dabei nicht den Weberschen Idealtypen abgeschaut. Im Gegensatz dazu verfolgen wir eine Art Singularitätsprinzip; wir wollen die Originalität einer bestimmten einzelnen Formation bestimmen und auf den Begriff bringen. Es geht zunächst darum, typische Muster in singulären Einzelfällen zu erschließen, die so vielleicht gar kein zweites Mal vorkommen und deshalb auch nicht zu Idealtypen aggregiert werden können. Wenn ähnliche Muster in verschiedenen Einzelfällen auftauchen, ist dies durch die Einlagerung der Diskurse in Dispositive bzw. der Selbstbeschreibungen in gesellschaftliche Institutionen nicht verwunderlich. Dennoch behält jeder Einzelfall seine spezifische individuelle Färbung, er ist ein je besonderer Fall in einem allgemeinen gesellschaftlichen Möglichkeitsraum.
Der diskursanalytische Zugriff auf sprachliche Formationen hat eine große Nähe zu unserem systemtheoretischen Versuch der Analyse von Spezialsemantiken. Die Systemtheorie unterscheidet zwar Bewusstsein und Kommunikation als verschiedene Systeme, sieht diese aber durch Sprache und Sinn als strukturell gekoppelt an. Operativ geschlossene Systeme sind auf Selbstorganisation angewiesen; sie können also die eigenen Strukturen nur durch eigene Operationen aufbauen und ändern. Kommunikationen haben daher eine Doppelfunktion: »Sie legen (1) den historischen Zustand des Systems fest, von dem dieses System bei der nächsten Operation auszugehen hat. Sie determinieren das System als jeweils so und nicht anders gegeben. Und sie bilden (2) Strukturen als Selektionsschemata, die ein Wiedererkennen und Wiederholen ermöglichen, also Identitäten … kondensieren und in immer neuen Situationen konfirmieren, also generalisieren« (Luhmann 1997, S.94).
Deshalb kann aus der Rückübersetzung der Selbstbeschreibungen der Weiterbildungsorganisationen auf das Strukturierungsmuster ihres habituellen Typs geschlossen werden. Hierbei lehnen wir uns an das Habitus-Konzept von Bourdieu an. »Der Habitus ist nicht nur strukturierende, die Praxis wie deren Wahrnehmung organisierende Struktur, sondern auch strukturierte Struktur« (1989, S. 279). Das Handeln erzeugt den Handelnden, das Sprechen den Sprechenden, die Gewohnheit den Habitus, der als durch Vergangenheit geformte Struktur, aktuelle Handlungen und Artikulationen strukturiert. Der Habitus ist ein Erzeugungsmuster, das über Distinktionen Beobachtungen und Bewertungen hervorbringt. Was wir also in unserer Forschung als habituellen Typ bezeichnen, ist das individuell typische Muster des Einzelfalls, wie es sich aus unseren Analysen der Selbstbeschreibungen rekonstruieren lässt. Der habituelle Organisa tionstyp ist eine sedimentierte Praxisform, die Inkorporation institutioneller Praxis, die dem Kommunizieren und Handeln der Organisationsmitglieder strukturiert strukturierend vorausgesetzt, ihnen also nicht individuell verfügbar ist. Der habituelle Typ bezeichnet also die den Individuen übergeordnete Funktionslogik der Organisation wie sie sich in den Selbstbeschreibungen ausdrückt . Er ist institutionalisiert als ein mit einer bestimmten Zeitfestigkeit versehenes Muster stabilisierter Erwartungen und Erwartungserwartungen, das die Organisation in ihrer eigenen Praxis herausgebildet hat und das nun ihre Praxis strukturiert.
Der Schluss von der Spezialsemantik einer Selbstbeschreibung auf Typisches einer Organisation ist zulässig, wenn man von einer Isomorphie von Sprache, Denken und Handeln ausgeht wie z.B. auch Leithäuser und Volmerg bei ihrer empirischen Hermeneutik (vgl. 1979, S. 9ff.). Sie benutzen bei ihren Analysen sprachlicher Äußerungen den Begriff des Sprachspiels. Ein Sprachspiel bestimmt und dokumentiert die Regeln der alltäglichen Interaktionspraxis in der Sprache (ebd., S.19f.). Dieser Begriff geht ursprünglich auf Wittgenstein (vgl. 1990, S. 250) zurück und soll hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil einer Tätigkeit oder einer Lebensform ist. Sloterdijk (vgl. 2009, S. 222ff.) sieht Sprachspiele deshalb als Artikulationen wiederholter und dadurch gewohnheitsmäßiger Praxis an. Das Soziale, die gewohnheitsmäßige handelnde und kommunizierende Praxis sedimentiert sich in den Sprechern als »präpersonal verankertes generatives Prinzip des Handels« (ebd. S. 288). Sloterdijk setzt die Sprachspiele dann auch mit den Foucaultschen diskursiven Praxen gleich (vgl. ebd. S. 234).
Die über die semantischen Diskursanalysen entstandenen habituellen Organisationst ypen rekonstruieren die organisationalen Selbstbeschreibungen u.a. unter folgenden kategorialen Gesichtspunkten: Welches Selbstverständnis haben die Organisationen von sich? Welches Organisations- und welches Personalverständnis lassen die Selbstbeschreibungen erkennen? Wie beschreiben sie ihre Führung und ihre organisationale Steuerung? Gibt es Besonderheiten ihres Sprachgebrauchs, die eine spezielle organisationale Semantik erkennen lassen? In welcher Art machen die Organisationen Identifikationsangebote an ihre Mitglieder? Bezeichnet werden diese singulären habituellen Organisationstypen jeweils mit einer Metapher (vgl. Weick 1998, S. 72ff.), die das Wesentliche ihrer je besondere Identität und Funktionslogik griffig zum Ausdruck bringen soll.
In dem eben dargestellten Forschungsprojekt wurden zehn Fälle organisationaler Selbstbeschreibungen von Weiterbildungsorganisationen analysiert und zu den folgenden habituellen Identitätstypen verdichtet. Rekonstruiert wird dabei, wie über Spezialsemantiken und symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien die Identifikation der Mitglieder mit ihrer Organisation sichergestellt werden soll. Jedes spezifische Identitätsverständnis der eigenen Organisation mit den entsprechenden Identifikationsversuchen gegenüber der Mitgliedschaft verweist auf einen entsprechenden blinden Fleck, der nicht in den Fokus der organisationalen Selbstbeobachtung gerät.
Die Spezialsemantik dieser Volkshochschule im Randbereich einer Großstadt erinnert in ihrer Grundtönung eher an familiäre denn an berufliche Kontexte; sie entstammt dem Harmoniemilieu der bürgerlichen Mitte. Die Organisation, in der es in jeder Hinsicht persönlich zugeht, wird als zwischenmenschliches Interaktionssystem verstanden und nach dem Familienmodell geführt. Die VHS legt Wert auf die Feststellung, dass immer alles gemeinsam entschieden wird; Überordnungen werden abgelehnt, denn alle sollen gleichberechtigt sein. Das Personal wird als gleichberechtigtes Familienmitglied angesprochen. Die strukturelle Kopplung der psychischen Systeme der Mitarbeitenden an das soziale System Organisation gelingt vor allem dadurch, dass die Kommunikation sich an der Codierung Konsens/Dissens entfaltet, wobei selbstreferenziell darüber Konsens besteht, dass Konsens besser ist als Dissens. Das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium ist Harmonie. Die egalitäre familiäre Selbstbeschreibung bzw. Identitätskonstruktion der Organisation hat als blinden Fleck, der übersehen wird, dass die eigene Einrichtung in die Verwaltungsstrukturen der Stadt eingebettet ist und daher selbstverständlich deren Hierarchie unterliegt.
Die Spezialsemantik dieser Volkshochschule im ländlichen Raum ist lustbetont. Es geht vor allem um Freude bei der Arbeit und Spaß beim Lernen. Der Bildungsanbieter fühlt sich für die berufliche und persönliche Entwicklung der nachbarschaftlichen Bevölkerung des Landkreises zuständig. Als Organisation versteht er sich als selbstbewusster Teil der Verwaltungsstruktur des Kreises mit eigenen Autonomiespielräumen. Geführt und gesteuert wird die Organisation über die verbindliche Regelung von Entscheidungsräumen, in denen die Beschäftigten weitgehend selbstständig – gewissermaßen nach ‚Lust und Laune‘ – agieren können. Das Personal wird dabei in seiner leiblich-seelischen Ganzheit angesprochen. Die strukturelle Kopplung mit deren psychischen Systemen geschieht über die sprachliche Codierung sinnlich/unsinnlich, wobei Lust als symbolisch generalisierte s Kommunikationsmedium für Identifikation sorgen soll. Bei dieser rundum lustbetonten Selbstbeschreibung der Organisation verschwindet die Tatsache im blinden Fleck, das Arbeiten und Lernen nicht immer nur das reine Vergnügen sind, sondern auch Anstrengung und Frustrationen mit sich bringen.
Diese gemeinnützige Weiterbildungsorganisation in kirchlicher Trägerschaft kommuniziert in einer religiös-moralischen Semantik der Pflichterfüllung. Als christliche Unternehmung hat man sich vor allem die Bildung von Behinderten und Benachteiligten zur Aufgabe gesetzt. Die eigene Organisation versteht man folglich als Dienstgemeinschaft, die über einen respektvollen und wertschätzenden persönlichen Umgang gesteuert wird. Das Personal wird als Dienstleister am Menschen betrachtet. Strukturell gekoppelt wird es über eine sprachliche Codierung, die mit der Unterscheidung würdevoll/würdelos beobachtet. Werte sorgen als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium für die Bindung der Mitglieder an ihre Organisation. Der hohe moralisch Anspruch dieser Selbstbeschreibung lässt als blinden Fleck eine realistische Analyse der Situation von Behinderten und Benachteiligten vermissen, die in unserer Gesellschaft vielfältigen Exklusionsmechanismen unterliegen und denen nicht allein durch guten Willen und moralisches Engagement geholfen werden kann.
Diese Organisation ist ein Weiterbildungsanbieter der Gewerkschaften, der berufliche Bildung und Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt betreibt. Sie kommuniziert in einer politischen Spezialsemantik von Beteiligung und Ausschluss. Organisation wird als partizipative Selbstorganisation verstanden Die Steuerung erfolgt durch die Schaffung von Beteiligungsräumen durch die Führung zur Selbstorganisation der Beschäftigten. Das Personal wird als politischer Aufklärer angesprochen. Die strukturelle Kopplung arbeitet mit der semantischen Codierung Beteiligun g/Teilnahmslosigkeit, und das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium zur Herstellung von Identifikation ist Ideologie. Bei dieser politisch hoch aufgeladenen Selbstbeschreibung der Organisation verschwindet als blinder Fleck der offizielle Organisationszweck der Weiterbildung für die Wirtschaft fast vollständig aus dem Beobachtungsfokus. Die Auftraggeber zahlen bestimmt nicht für die politische Aufklärung, die hier subversiv betrieben wird.
Dieser Weiterbildungsanbieter ist eine gemeinnützige private Organisation im psychotherapeutischen Sektor. Bildung wird als psychologische Persönlichkeitsentwicklung für unterschiedliche Zielgruppen betrieben. Die Spezialsemantik kreist um psychotherapeutische Perfektibilität. Als Organisation versteht man sich als partnerschaftliche Unternehmung. In der organisationalen Steuerung setzt man auf Evolution – allerdings mit einer strategisch dominanten Geschäftsführung. Das Verständnis des Personals unterstellt intrinsisch motivierte Selbstverwirklicher, die über die sprachliche Codierung mit der Grundunterscheidung ganzer Mensch/reine Arbeitskraft strukturell gekoppelt werden. Das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium ist folglich die Komplettinklusion der Mitglieder in die Organisation. Der ausgeprägte Drang, in dieser organisationalen Selbstbeschreibung das eigene Größenselbst zu betonen, führt zu dem blinden Fleck, dass das Anregungspotenzial der Umwelt als Lernchance unterschätzt wird.
Dieses gemeinnützige private Bildungsinstitut widmet sich als kulturpädagogische Einrichtung der künstlerisch-kreativen Entwicklung seiner Teilnehmenden, aber auch der entsprechenden Weiterentwicklung der Lehrenden. Die Spezialsemantik ist eine Sprache der schöpferischen Gestaltung. Die Organisation wird als Kultivierungsstätte betrachtet. Sie wird über die Kultivierung von Handlungsmöglichkeiten gemanagt (vgl. Baecker 2001). Das Personal wird als Gärtner (vgl. March/Weil 2008) angesehen, der das Wachstum der Teilnehmenden pflegt. Die sprachliche strukturelle Kopplung der Mitglieder an die Organisation erfolgt über eine Codierung, die mit der Grundunterscheidung entwick e l n/nicht-entwickeln arbeitet. Das dabei eingesetzte symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium ist Wachstum. Der blinde Fleck dieser organisationalen Selbstbeschreibung ist dahingehend zu verorten, dass Kultur nicht als Vergleichsfolie der Selbstrelativierung genutzt wird.
Dieser kommerzielle Weiterbildungsanbieter im IT-Bereich kommuniziert in einer technik- und zweckorientierten Spezialsemantik. Die Zielgruppe der Bildungsarbeit sind vor allem aufstiegsorientierte Arbeitnehmer/innen. Die eigene Organisation wird als Maschine behandelt und man versucht, sie technologisch zu steuern. Das Personal wird dabei als pädagogischer Ingenieur behandelt und eingesetzt. Es wird strukturell über die Codierung funktionieren/nicht-funktionieren gekoppelt, wobei mit dem symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium Technologie gearbeitet wird. Das technisch orientierte Selbstverständnis dieser organisationalen Selbstbeschreibung missversteht als blinden Fleck, dass Pädagogik und Lernen nicht technologisierbar sind und daher anders funktionieren als eine Maschine (vgl. Luhmann/Schorr 1988, S. 228ff.).
Diese ebenfalls kommerzielle Bildungsorganisation ist eine Einrichtung eines Wirtschaftsverbandes einer feinmechanischen Branche, die als Monopolist die Beschäftigten der Mitgliederorganisationen weiterbildet. Die Spezialsemantik, in der man kommuniziert, ist eine der rechtlichen und moralischen Normierung. Die eigene Organisation versteht und behandelt man wie ein standardisiertes Werkzeug, das über eine mechanische Input-Steuerung auf Kurs gehalten werden kann. Das Personal soll dabei als Maschinist funktionieren. Die strukturelle Kopplung an die Organisation wird über die Codierung geregelt/ungeregelt versucht. Das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium ist der Standard. Bei dieser organisationalen Selbstbeschreibung, die ganz auf Regelungen und Standardisierung setzt, verschwindet die Dynamik des unhintergehbar selbstgesteuerten Lernprozesses im blinden Fleck.
Bei diesem Bildungsanbieter handelt es sich um die Abteilung Aus- und Weiterbildung eines großen regional führenden Unternehmens. Die Zielgruppe sind daher die besten Auszubildenden der Region und die weiterzubildenden Beschäftigten des eigenen Exzellenzbetriebes. Die Spezialsemantik ist als unternehmerische Dienstleistung für die eigene Firma aufgebaut. Als (Sub)Organisation sieht man sich als nachgeordnete Konzernabteilung mit eigenen Freiheitsgraden. Die Steuerung erfolgt hierarchisch. Das Personal wird als professionelle Fachkraft angesprochen und im Interesse der Zukunft des Unternehmens eingesetzt. Als regional führender Ausbildungsbetrieb werden Beschäftigte und Auszubildende über die Codierung exzellent/nicht-e xzellent strukturell gekoppelt. Das dabei wirksame symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium ist der Erfolg. Der begrenzte Blick auf die Elite der Auszubildenden negiert als blinden Fleck die gesellschaftliche Verantwortung für die weniger Begabten.
Die unternehmerisch-marktwirtschaftliche Spezialsemantik dieser Weiterbildungsabteilung eines internationalen Konzerns ist am gesellschaftlichen Bezugssystem der Wirtschaft ausgerichtet. Auch bei der Bildung geht es vor allem um Kosten/Nutzen-Erwägungen, um den optimalen Einsatz von Ressourcen, um messbare Erfolge und den Mehrwert für das Unternehmen. Dabei ist es der Weiterbildungsabteilung aber besonders wichtig, die Entwicklungsnotwendigkeiten des Unternehmens mit den Entwicklungsinteressen der Beschäftigten zu Einklang zu bringen. Als Organisation(seinheit) versteht man sich als nachgeordneter, aber strategisch bedeutsamer Teil eines erfolgreichen Wirtschaftsunternehmens. Die Steuerungsentscheidungen werden geordnet an einer hierarchischen Kaskade von den zuständigen Führungskräften getroffen. Das Personal des Unternehmens und die Lernenden der Weiterbildungsabteilung werden vor allem als Leistungsproduzenten bzw. als High Potentials oder Top-Performer bezeichnet. Die strukturelle Kopplung der psychischen Systeme der Mitarbeitenden an das Kommunikationssystem der Organisation wird durch eine Sprache sichergestellt, die mit der Codierung effizient/nicht-effizient unterscheidet, wobei selbstreferenziell Einvernehmen darüber besteht, dass es für die Organisation und die Beschäftigten gleichermaßen von Vorteil ist, wenn das Unternehmen effizient und erfolgreich ist. Das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium ist daher Leistung, auch im Sinne der Gegenleistung. Die Konzentration auf die Top-Performer in der zu bildenden Klientel vernachlässigt als blinden Fleck die Tatsache, dass Leistung auch aus guter Teamarbeit erfolgt.
Apelt und Tacke zeigen in ihrem »Handbuch Organisationstypen« (2012), dass sich bereichsspezifische Besonderheiten von Organisationen unterscheiden lassen. In ihrem Handbuch werden z.B. politische Organisationen, Verwaltungsorganisationen, Krankenhäuser, Schulen oder Sportvereine beschrieben. Weiterbildungsorganisationen kommen nicht vor, daher liegt hier unser besonderer inhaltlicher Beitrag zu organisationalen Identitätstypen.
Auf der Basis unserer Einzelfallanalysen lässt sich in Bezug auf eine gemeinsame Identität von Weiterbildungsorganisationen aber auch hier eine besondere Typik skizzieren:
Der Identitätskern der Weiterbildungsorganisation – wie von Bildungsorganisationen generell – ergibt sich aus der Übernahme der Grundcodierung Lernen/Nicht-Lernen ihres gesellschaftlichen Funktionssystems Bildung bzw. lebenslanges Lernen. Spezifisch für Weiterbildungsorganisationen erscheint aber die Tatsache, dass eine jeweils spezifische Ausprägung dieser Grundidentität dadurch gewonnen wird, dass die einzelnen Organisationen ihre Identität durch eine Zweitcodierung spezifizieren, die sie semantisch einem weiteren gesellschaftlichen Bezugssystem entnehmen, für das sie ihre Bildungsleistungen hauptsächlich erstellen, z.B. die Wirtschaft oder die Kultur. Weiterbildungsorganisationen sind in dieser Hinsicht intermediäre Organisationen, weil sie Bildung mit verschiedenen anderen Abnehmersektoren der Gesellschaft koppeln.
Als Bildungseinrichtungen sind Weiterbildungsorganisationen als Wissensorganisationen zu typisieren, weil sie durch die Produktion von Qualifikationen Individuen und andere Organisationen dabei unterstützen, ihre Aufgaben zu erledigen bzw. ihre Probleme zu lösen (vgl. Zech 2010, S. 25ff.). Damit gehören sie zum Typus der Professionalorganisation, die sich durch lose Kopplungen der weitgehend autonomen Expertensubsysteme auszeichnet. In den Identitätskonstruktionen der Weiterbildungsorganisationen kommt die Tatsache der existenziellen Bedeutung der individuellen Arbeitsleistungen von Wissensarbeiter/innen in einer starken Personenzentrierung zum Ausdruck. Organisationsmitglieder werden daher auch nicht in erster Linie als abhängig beschäftigte Arbeitsnehmer/innen angesprochen, sondern als ‚ganze Menschen‘. Der Bezug auf den Menschen ist also für die Identität der Organisation besonders wichtig, und das gilt sogar für die Weiterbildungsabteilung der auf Effizienz bedachten gewinnbringenden Organisation, die sich besonders dafür zuständig fühlt, dass die individuellen Interessen bei den Entwicklungsnotwendigkeiten der Gesamtorganisation Berücksichtigung finden.
Dies führt in der internen Organisationssteuerung zu einer weitgehend getrennten Dualität von organisationaler und professioneller Handlungslogik. Das Management der Organisation und das Organisieren pädagogischer Prozesse werden deshalb nicht selten als getrennt erlebt und behandelt. Das führt in der Regel zu Identitätskonstruktionen, die auch die eigene Organisation pädagogisieren, sie als Interaktionssystem verstehen, das sich durch den guten Willen der Beteiligten konsensual steuern ließe. Gelegentlich kommt es in wirtschaftsnahen Weiterbildungsorganisationen auch zu abstrakt gegenteiligen Selbstdefinitionen als ‚Maschine‘, die sich technologisch steuern ließe. Diese Identitätskonstruktion unterschätzt dann die operativ geschlossene Eigenlogik der Bildungsprozesse von Lernenden.
Weiterbildungsorganisationen definieren ihre Identität fast immer auch gemeinnützig, weil das meritorische Gut Bildung neben einem Preis für die Nutzer einer finanziellen Förderung durch das gesellschaftliche Gemeinwesen bedarf. Das Verständnis der Selbstzweckhaftigkeit von Bildung führt dazu, dass Weiterbildungsorganisationen sich nicht oder nicht in erster Linie als Wirtschaftsunternehmen sehen, die ihre Leistungen zu marktgerechten Preisen verkaufen (können und wollen). Hier ist eine allerdings eine Differenzierung angebracht für die rein kommerziellen Organisationen, z.B. die Unternehmensabteilungen. Aber auch hier fühlt sich die (Sub)Organisation für Weiterbildung in einem besonderen Maße den individuellen Beschäftigten verpflichtet, für die sie ihre Bildungsangebote bereitstellt. Immer geht es hier auch darum, die Persönlichkeit der Lernenden mit zu entwickeln und nicht nur ‚Mitarbeiterkapazitäten‘ zu qualifizieren.
Lernen hat einen starken Zukunftsbezug und macht daher eine wirkliche Erfolgsmessung schwierig. In der Weiterbildung kann man im Gegensatz zur Schule nur gelegentlich auf Zensuren als Erfolgsäquivalent ausweichen. Ein Erfolg der Bildung erweist sich erst in der späteren Praxis der Kunden, die für die Bildungsorganisationen nicht mehr zu erreichen ist. Diese unaufhebbare Ungewissheit in der Erfolgsbeurteilung hat Rückwirkungen auf die Identitätskonstruktionen von Weiterbildungsorganisationen, die hinsichtlich ihres eigenen Organisationserfolges in der Regel sehr vage bleiben. Dies gilt selbst dann, wenn die wirtschaftsnahen Weiterbildungsorganisationen ihre Spezialsemantiken mit der Zweitcodierung Leistung oder Effizienz aufladen.
Wenn wir nach dieser Skizze der Identität von Weiterbildungsorganisationen auf die Seite der Beschäftigten wechseln, dann können wir komplementäre Identifikationsansprüche beobachten:
Ein Blick auf die Kopplungsmedien der organisationalen Kommunikation zeigt, dass diese Medien überwiegend weich codiert sind. Es geht dann um Harmonie, Lust, Würde, Beteiligung, Komplettinklusion als ‚ganzer Mensch‘ und persönliches Wachstum. Selbst da, wo die die Identifikation der Mitglieder über die Erfüllung von Standards, Technologie, Leistung und Erfolg sichergestellt werden soll, handelt es sich um zusätzliche Medien, die die ‚weichen‘ Medien nicht ersetzen, sondern ergänzen. Denn ebenso, wie der Bildungserfolg Organisation nur schwierig zu evaluieren ist, wird auch die Bewertung von Leistung und Erfolg der Beschäftigten mehr gefühlt als gemessen.
Die Beschäftigten erwarten von ihrer Organisation, nicht als ‚Humankapital‘, ‚Mitarbeiterkapazität‘ etc. – wie in Wirtschaftsbranchen nicht selten üblich – behandelt zu werden, sondern sie wollen als Mensch Berücksichtigung finden. Generell verläuft die Identifizierung der Beschäftigten ebenso wie ihre Motivation stark innengeleitet. Äußere Anreize gibt es kaum und sie zählen in ihrer Wertigkeit auch nicht in gleicher Weise wie das Intrinsische.
Das hat natürlich Folgen. Man könnte so weit gehen zu formulieren, dass die Beschäftigten von der Organisation erwarten, dass diese so ist wie sie selber sind. Das heißt, die Identität der Organisation soll gewissermaßen die Verlängerung oder Bündelung der individuellen Identitäten sein. Die Organisation wird aus der individuellen Beobachterperspektive nicht getrennt von den Einzelnen wahrgenommen, und wenn dies geschieht, dann in der Regel nicht als Ermöglichungsbedingung, sondern als Behinderung der eigenen Entfaltung.
Identität – von Individuen und Organisationen – ist nicht in erster Linie Selbstausdruck, sondern zunächst und vorgängig erst einmal narrative Selbstkonstitution. Aber noch vor ihrer Beschreibung bildet sich Identität im Tun. »Im Anfang war die Tat«, schreibt Goethe im Faust (1999, S. 44). Jenseits des Intentionalen entsteht Identität in der Handlungspraxis und wird durch die Selbstbeschreibung dann auf den Begriff gebracht und verfestigt, womit sie wieder konstituierend auf die Handlungspraxis zurück wirkt. Identität ist strukturierende Strukturiertheit oder wie Bourdieu zu seinem Habituskonzept schreibt: »nicht nur strukturierende, die Praxis und deren Wahrnehmung organisierende Struktur, sondern auch strukturierte Struktur« (1989, S. 279).
Für unsere empirischen Analysen gilt, dass das Organisationale und das Individuelle sich als verschränkt und komplementär zeigt – oder wie es die Systemtheorie ausdrückt: als strukturell gekoppelt. Beide Seiten stellen sich – obwohl operativ getrennt – ihre Potenziale wechselseitig zur Verfügung. Die Ergebnisse unserer Forschung belegen, dass in Weiterbildungsorganisationen die organisationalen Identitäten die Identifikationsansprüche der Beschäftigten ebenso hervorbringen und stützen, wie sich die Identifikationsansprüche der Mitarbeitenden auf die Organisationsidentitäten auswirken. Giddens (1997) hat für solche komplementären Verschränkungen die Denkfigur der »Dualität von Struktur« geprägt. Das Handeln sozialer Akteure und die Strukturen sozialer Systeme betreffen nicht »zwei unabhängig voneinander gegebene Mengen von Phänomenen – einen Dualismus –, sondern beide Momente stellen eine Dualität dar« (Giddens 1997, S. 77). Dieser Gedanke ist systemtheoretisch deshalb reinterpretierbar, weil kommunikative Anschlussfähigkeit in sozialen Systemen durch sedimentierte Erwartungsstrukturen sichergestellt wird, die sich ihrerseits in und durch Kommunikationen erst bilden. Identifikation von Mitarbeitenden ist nur möglich innerhalb von Bedingungen, die durch die organisationale Identität vorgegeben sind. Ebenso müssen Organisationen auf die Identifikationsansprüche ihrer Beschäftigten Rücksicht nehmen, wenn sie intrinsische Arbeitsmotivationen nicht frustrieren wollen.
Die wechselseitige komplementäre Verschränkung von Organisationsidentität und Mitarbeiteridentifizierung hat allerdings nicht nur die positive Seite, dass Mitarbeitende sich in ihrer Organisation »zuhause« fühlen. Als negative Seite fällt ins Gewicht, dass die Komplementarität Abweichungen und damit Veränderungen erschwert. Wenn gegen Erwartungsstrukturen – egal von welcher Seite – verstoßen wird, setzt üblicherweise ein Prozess der Re-Normalisierung ein, der Abweichendes wieder zurück in Bekanntes holt. Erforderliche Organisationsentwicklungen werden so behindert.
Der am Beispiel von Weiterbildungsanbietern erfolgte empirische Nachweis, wie sich organisationale und individuelle Identitäten im Einzelfall konkret verschränken, hat daher unmittelbare Auswirkungen auf ein Veränderungsmanagement von Organisationen. Wenn unter den heutigen volatilen Umweltbedingungen Organisationen gefordert sind, kontinuierliche und gelegentlich auch substanzielle Neuorientierungen vorzunehmen, um überleben zu können, dann stehen die relativ zeitfesten Identitäten diesen Überlebensnotwendigkeiten nicht selten einschränkend und behindernd im Wege. Zwingend wird also ein Vorgehen, das organisationale und individuelle Perspektiven stärker miteinander vermittelt, als dies in der Organisationsberatung bisher üblich war (vgl. Dehn 2013). Denn hier finden sich – trotz erster Integrationsüberlegungen (vgl. z.B. Königswieser/Sonuc/Gebhardt 2006) – immer noch die klassischen Trennungen zwischen personenorientierten Konzepten der Prozessberatung und sachorientierten Vorgehensweisen der klassischen Fachberatung, die es mit neuen Konzepten zu überwinden gilt. Hier könnte an unsere Forschungen weiterführend angeschlossen werden.
Apelt, Maja & Tacke, Veronika (Hg.) (2012): Handbuch Organisationsforschung. Wiesbaden (Springer VS).
Baecker, Dirk (2001): Vom Kultivieren des Managements durch die Organisation – und umgekehrt. In: Bardmann, Theodor M.; Groth, Torsten (Hg.): Zirkuläre Positionen 3. Organisation, Management, Beratung. Wiesbaden (Westdeutscher Verlag), S. 4366.
Bourdieu, Pierre (1989): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/Main (Suhrkamp, 3. Auflage).
Dehn, Claudia (2013): Dualität von Struktur in Beratungsprozessen – wie organisationale und individuelle Perspektiven miteinander vermittelt werden können. In: Zech, Rainer: Organisation, Individuum, Beratung. Systemtheoretische Theorie- und Praxisreflexionen. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht), S. 221–236.
Foerster, Heinz von (1993): Wissen und Gewissen. Frankfurt/Main (Suhrkamp).
Foucault, Michel (1977): Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt/Main; Berlin; Wien (Ullstein).
Foucault, Michel (1986): Archäologie des Wissens. Frankfurt/Main (Suhrkamp, 2. Auflage).
Fuchs, Peter (2010): Das System Selbst. Eine Studie zur Frage: Wer liebt wen, wenn jemand sagt: ‚Ich liebe dich!‘? Weilerswist (Velbrück).
Giddens, Anthony (1997): Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt/Main; New York (Campus, 3. Auflage).
Goethe, Johann Wolfgang (1999): Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil, Urfaust. München (Beck).
Keller, Reiner (2006): Wissenssoziologische Diskursanalyse. In: Keller, Reiner; Hirseland, Andreas; Schneider, Werner & Viehöver, Willy (Hg.) (2006): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 1: Theorien und Methoden. Wiesbaden (Verlag für Sozialwisenschaften, 2.; aktual. u. erw. Aufl.), S.115-146.
Königswieser, Roswita; Sonuc, Ebru & Gebhardt, Jürgen (Hg.) (2006): Komplementärberatung. Das Zusammenspiel von Fach- und Prozeß-Know-how. Stuttgart (Klett-Cotta).
Leithäuser, Thomas & Volmerg, Birgit (1979): Anleitung zur empirischen Hermeneutik. Psychoanalytische Textinterpretation als sozialwissenschaftliches Verfahren. Frankfurt/Main (Suhrkamp).
Luhmann, Niklas (1992): Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt/Main (Suhrkamp).
Luhmann, Niklas (1995): Die Form ‚Person‘. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch. Opladen (Westdt. Verlag), S.142154.
Luhmann, Niklas (1996): Die Realität der Massenmedien. Opladen (Westdeutscher Verlag, 2.; erw. Aufl.).
Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Teilbände. Frankfurt/Main (Suhrkamp).
Luhmann, Niklas (2000): Organisation und Entscheidung. Opladen; Wiesbaden (Westdeutscher Verlag).
Luhmann, Niklas & Schorr, Karl Eberhard (1988): Reflexionsprobleme im Erziehungssystem. Frankfurt/Main (Suhrkamp).
March, James G. & Weil, Thierry (2008): On Leadership. Oxford (Blackwell Publishing).
Sève, Lucien (1973): Marxismus und Theorie der Persönlichkeit. Frankfurt/Main (Marxistische Blätter, 2. Auflage).
Sloterdijk, Peter (2009): Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Frankfurt/Main (Suhrkamp).
Veyne, Paul (2009): Foucault. Der Philosoph als Samurai. Stuttgart (Reclam).
Weick, Karl E. (1998): Der Prozeß des Organisierens. Frankfurt am Main (Suhrkamp, 2. Auflage).
Willke, Helmut (1994): Systemtheorie II: Interventionstheorie. Stuttgart; Jena (G. Fischer).
Wimmer, Rudolf (2011): Die Steuerung des Unsteuerbaren. In: Pörksen, Bernhard (Hg.): Schlüsselwerke des Konstruktivismus. Wiesbaden (VS-Verlag), S. 520547
Wittgenstein, Ludwig (1990): Philosophische Untersuchungen. In: Ders.: Werkausgabe Band 1. Frankfurt am Main (Suhrkamp, 7. Auflage), S. 225580.
Zech, Rainer (2010): Handbuch Management in der Weiterbildung. Weinheim und Basel (Beltz)
Zech, Rainer; Dehn, Claudia; Tödt, Katia; Rädiker, Stefan; Mrugulla Martin & Schunter, Jürgen (2010): Organisationen in der Weiterbildung – Selbstbeschreibungen und Fremdbeschreibungen. Wiesbaden (VS-Verlag)