Semiprofessionen und der Wandel wohlfahrtsstaatlicher Organisationen: Subjektbezogene Erfahrungen zur institutionellen Transformation von Wohlfahrtsstaatlichkeit[1]

Stella Müller & Karolina Barglowski

Zusammenfassung

Aktuelle Veränderungen in der wohlfahrtsstaatlichen Hilfe werden oftmals mit zunehmenden Ökonomisierungs- und Standardisierungstendenzen in der Sozialen Arbeit in Verbindung gebracht. Am Beispiel von Semiprofessionen in der Arbeits- und Wohnungslosenhilfe wird gezeigt, dass sich in Bezug auf Dienstleistungen in den Organisationen des Wohlfahrtsstaates mit neuen gesetzlich-institutionellen Normierungen und organisationalen Regulierungen auch Handlungsspielräume bieten, die aktiv behauptet und subjektiv ausgefüllt werden. Ausgehend von spezifischen Veränderungsprozessen in der Arbeitsorganisation und den Arbeitsabläufen wird der Frage nachgegangen, wie Mitarbeiter_innen wohlfahrtsstaatlicher Organisationen Handlungsspielräume nutzen und welche Bedeutung diese aus Sicht der Beteiligten für professionelle Interventionen haben.

Schüsselwörter: Professionelles Handeln, wohlfahrtsstaatliche Hilfe, institutioneller Wandel, Soziale Arbeit, Standardisierung, Arbeitsorganisation, Reorganisation

Keywords: Professionalism, welfare state assistance, institutional change, social work, standardization, labor organization, reorganization

Summary

Previous debates in welfare state research often indicate that changes in welfare state assistance go along with increased pressure with regard to cost, control and standardized work processes for employees involved in service sector organizations. However, this article challenges the notion of standardized work processes of employees involved in welfare state organizations that go along with legal and institutional regulations. Based on specific processes of change in the work organization and work practices, the article shows how employees in welfare state organizations – in this case, a job center and an institution for homeless women – use their scope of action and what those involved believe is the effect of this scope of action in professional interventions.

Schüsselwörter: Professionelles Handeln, wohlfahrtsstaatliche Hilfe, institutioneller Wandel, Soziale Arbeit, Standardisierung, Arbeitsorganisation, Reorganisation

Keywords: Professionalism, welfare state assistance, institutional change, social work, standardization, labor organization, reorganization

1. Einleitung

Aktuelle Veränderungen im deutschen Wohlfahrtsstaat werden in der öffentlichen Debatte oftmals mit zunehmenden Ökonomisierungstendenzen in einen Zusammenhang gesetzt (vgl. Lessenich 2009b, 2012). In den Sozialwissenschaften besteht heute weitgehend Einigkeit darüber, dass Transformationen von Wohlfahrtsstaatlichkeit keine monokausalen Prozesse sind, sondern sich auf höchst unterschiedliche Weise auf verschiedene Nationen, Organisationen und Akteure auswirken (vgl. in jüngster Zeit: Bode 2013). Neuere Untersuchungen verweisen vor allem auf die selbstläufige Dynamik von u.a. gesetzlich-institutionellen Normierungen, intra- und interorganisationalen Regulierungen oder beruflichen Standardisierungen. Diese rufen für verschiedene Berufe (z.B. für die Soziale Arbeit) und Organisationen des sozialen Sektors, wie Sozialverwaltungen und Wohlfahrtsverbände, grundsätzlich unterschiedliche Effekte hervor (vgl. Schneiders 2010; Düring 2011).

Unser Beitrag geht der Frage nach, welche Bedeutung »veränderte Handlungsspielräume« (Bode/Leitner 2012, S. 373) aus Sicht der Akteure für wohlfahrtsstaatliche Hilfen und Dienstleistungen haben. Unsere These lautet, dass den arbeitsbezogenen Handlungsspielräumen bei solchen Dienstleistungen eine subjektive Dimension zukommt, die das berufliche Selbstbild der Akteure tangiert. Diese subjektive Dimension unterscheidet sich von einem »professionellen Habitus«, wie er in den Diskursen der Sozialen Arbeit eingefordert wird (siehe etwa Becker-Lenz/Müller 2009), insofern, als sie – unabhängig von Fachlichkeit – ein personales Moment der Organisation von Arbeit im sozialen Sektor anspricht. Dieses personale Moment wird als interaktiv ausgehandelte (handlungspraktische) Orientierung konzeptionalisiert (vgl. Bohnsack 2008) und aus einer interaktionistischen Perspektive beleuchtet.

Dabei bezeichnen subjektive interaktive Orientierungen »jene Sinnmuster, die unterschiedliche (einzelne) Handlungen strukturieren, hervorbringen. Sie sind Prozessstrukturen, die sich in homologer Weise in unterschiedlichen Handlungen, also auch den Sprechhandlungen, ebenso wie in den Darstellungen der Handlungen reproduzieren« (Przyborski 2004, S. 55). Diese Orientierungen sind den Beforschten selbst für gewöhnlich nicht präsent, sodass man diese auch nicht unmittelbar dazu befragen kann. Sie werden jedoch in den Beschreibungen ihrer eigenen Handlungen offenbar, in denen sich Orientierungen manifestieren (ebd.).

Da heterogene Organisationsformen, Klientelen und Akteure sowie komplexe Arbeitsabläufe für das hier betrachtete Untersuchungsfeld charakteristisch sind, nimmt unser Beitrag exemplarisch die Handlungsspielräume zweier Beschäftigtengruppen in den Blick, die in den letzten Jahren durch Gesetzesnovellen und durch intra- wie interorganisationale Entwicklungen einem massiven Wandel unterworfen wurden, und zwar Fachkräfte in einer reorganisierten Wohnungsloseneinrichtung sowie Fachkräfte in Einrichtungen der Bundesagentur für Arbeit. Indem wir nicht grundsätzlich zwischen diesen durchaus verschiedenen Beschäftigtengruppen und Organisationen unterscheiden, machen wir deutlich, dass die personale Dimension von Dienstleistungen über Beschäftigtengruppen, Organisationen und konkrete Fälle hinweg ein wichtiger Bestandteil der jeweiligen Praxis der Akteure ist. Wir zeigen schließlich, dass berufliche Standardisierungsprozesse, die für diese Beschäftigtengruppen paradigmatisch sind, von Akteuren in der Sozialverwaltung immer auch »eigensinnig« interpretiert und umgesetzt werden (vgl. Blumer 1981). Auf diese Weise machen wir darauf aufmerksam, dass wohlfahrtsstaatliche Organisationen (durch Standardisierung) zwar auf die Fähigkeiten der Mitarbeiter_innen über Aus- und Fortbildung steuernd eingreifen können (vgl. Hildenbrand 2004), die Übernahme dieser Routinen und Elemente fachlichen Wissens aber immer auch ein subjektives Komplement besitzt.

Unter den Begriff der wohlfahrtsstaatlichen Organisationen subsumieren wir alle Organisationen, die wohlfahrtsstaatliche Dienste anbieten. Neben den Ämtern als hauptverantwortliche Instanzen sind auch die freien Träger der wohlfahrtsstaatlichen Hilfe (frei-gemeinnützige Wohlfahrtsverbände und privatgewerbliche Anbieter) gemeint, die als Leistungserbringer z.B. in Form sozialpädagogischer Qualifikationsmaßnahmen, mit Arbeitsuchenden zu tun haben. Aus einer interaktionistischen Perspektive hat Fritz Schütze die Begriffe »bescheidene Profession« und »Semiprofession« geprägt (Schütze 1992, S. 132), da Mitarbeiter_innen in Sozialverwaltungen grundsätzlich zwischen pädagogisch-professionellen und herrschaftlich-bürokratischen Interventionen wählen müssen (vgl. auch Becker-Lenz 2005; Urban 2004). Wir verwenden diesen Begriff im Folgenden ebenfalls, bevorzugen jedoch eine andere als die in der Professionstheorie häufig verwendete normative Lesart (vgl. auch Becker-Lenz et al. 2009): In Anlehnung an Schütze (1992, 1999) vertreten wir eine (zunächst wertfreie) Konzeption von »Semiprofession«, die es uns gestattet, die Bedeutung von Professionalität nicht theoretisch, sondern mit Bezug auf die Anforderungen der Praxis zu rekonstruieren.

2. Eine interaktionistische Perspektive auf die subjektive Dimension wohlfahrtsstaatlicher Dienstleistungen

Zunächst wäre zu klären, inwieweit sich in einer interaktionistisch gefassten Konzeption von wohlfahrtsstaatlicher Hilfe strukturelle Spielräume bieten: Im Verlauf der Interaktion stimmen Akteure – Mitarbeiter_innen und ihre Klient_innen – ihre Handlungen immer wieder aufeinander ab, etwa indem sie projizierte »Ziele« verändern. Diese Interaktionen finden nicht »im luftleeren Raum«, sondern vor dem Hintergrund einer von den beteiligten Akteuren ausgehandelten Ordnung auf verschiedenen Ebenen statt, welche die weiteren Interaktionen und somit weitere Aushandlungsprozesse strukturieren (vgl. Strauss 1993). Diese Ordnungen – seien sie gesetzlich institutionalisiert, organisationsbedingt oder durch Interaktionen selbst erzeugt – wirken sich als rahmende Bedingungen auf spezifisch-subjektive Interaktionssituationen aus. Ordnungen unterliegen jedoch einem ständigen Wandel und besitzen nur begrenzte Gültigkeit – aufgrund dessen ist ein Blick auf die beteiligten Individuen aufschlussreich. Diese versuchen stets, auf die Bedingungen von Interaktionen einzuwirken oder zumindest sich an diese Bedingungen anzupassen und sie in Handlungsabläufe zu übersetzen, obwohl sie nicht alle Bedingungen der Situation kontrollieren können (vgl. Garfinkel 1967).

Bei einer Betrachtung der Diskurse um Inhalte und Interaktionen in sozialer Arbeit wird deutlich, dass eine individuelle Dimension in der Fallbearbeitung oft eingefordert wird. Hinsichtlich eines Professionalisierungsprojektes der Sozialen Arbeit wird ein professioneller Habitus sogar als Kernmerkmal genannt (vgl. Becker-Lenz/Müller 2009). Insbesondere Bohler (2006) stellt heraus, dass sozialarbeiterisches Handeln eine individuelle Dimension beinhaltet, die nicht allein in den interaktionistischen Begriffen aufgeht. Für ihn gehört zu einem professionellen Habitus u. a. »einerseits, sich insbesondere in der diagnostischen Phase der Gespräche und der Fallarbeit den Klienten zu öffnen, um die Probleme […] adäquat wahrnehmen zu können. Um jedoch andererseits in der Lage zu sein, genau diese professionell zu leisten […], muss der affektiven Nähe mit ihrer immanenten Tendenz zum Mit-Leiden […] durch eine innere reflexive Distanzbewegung Grenzen gesetzt werden« (Bohler 2006, S. 27). Demnach differenziert sich die individuelle Dimension sozialarbeiterischen Handelns für Bohler in einen inneren und einen äußeren Bereich. Der äußere Bereich stellt das fachliche Wissen der Individuen dar, das erworben werden kann; unter dem inneren Bereich des Individuums hingegen ist das berufliche Selbstbild und Selbsterleben von Subjekten zu verstehen, das durch die reflexive Betrachtung bestimmter Orientierungen im Handeln selbst beobachtbar wird (siehe Kap. 1). Für ein Professionalisierungsprojekt der Sozialen Arbeit schließt Bohler nun, dass u.a. ein besonderer beruflicher Habitus vorhanden sein müsse, der durch die Verinnerlichung bestimmter sozialpädagogischer Orientierungen erreicht werde und beispielhaft auf vorgelebte und gelingende berufliche Praxis sowie ihrer Reflexion in Formen von Supervision beruhe (vgl. Bohler 2006).

Diese Ausführungen zeigen, dass der subjektnahen Seite der beteiligten Individuen in ihrem beruflichen Handeln eine wesentliche Rolle in der Interaktionsgestaltung zukommt und die Analyse von individuellen Handlungsstrategien auch im Kontext der Betrachtung eines institutionellen Wandels fruchtbar sein kann. Denn ein Wandel von (Arbeits‑)Organisation hängt auch von dem praktischen Wissen und Können der Subjekte zu diesen Transformationen ab, deren individuellen Motive näher untersucht und in die Analyse mit einbezogen werden sollten (für die Arbeitsforschung siehe Nohl 2012; für die hier betrachtete Berufsklassifikation der Semiprofession vgl. etwa Weber 2009).

3. Staatliche Dienstleistungen im modernen Wohlfahrtsstaat

Welche Aufgabe kommt den Mitarbeiter_innen in wohlfahrtsstaatlichen Organisationen durch den (permanenten) »Wandel des Sozialen im Umbau des Sozialstaates« (Lessenich 2009b, S. 163) zu? Diese Frage unseres Beitrages soll im Folgenden anhand zweier Diskursstränge der sozialwissenschaftlichen Forschung zu wohlfahrtsstaatlicher Hilfe skizziert werden.

In der Wohlfahrtsstaatforschung besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass heutige politische Zielvorgaben zu einer neuen Generation politischer Steuerungsmaßnahmen gehören, der zwei wesentliche Merkmale eigen sind, durch die sich die aktuelle Phase von der Wachstumsphase der 1980er Jahre unterscheidet (vgl. Evers 2008). Zum einen zeichnet sich Adalbert Evers zufolge die neue Generation von Sozialpolitiken durch die Bewertung ihres Beitrages zu wirtschaftlicher Entwicklung und Modernisierung aus, die, zum anderen, zur Durchsetzung dieser neuen Bewertungsmaßstäbe eine starke Sprache erfordere. Mit »starker Sprache« ist gemeint, dass in sozialpolitischen Programmatiken Verhaltensanforderungen, sogenannte »Aktivierungskonzepte«, formuliert und umgesetzt werden, die für ausführende Akteure auf allen Ebenen u.a. Lern- und Mobilitätsbereitschaft oder Eigenverantwortung fördern bzw. einfordern (vgl. Bandemer/Hilbert 2005). In diesem gegenwärtigen Regime sind Mitarbeiter_innen wohlfahrtsstaatlicher Organisationen damit beauftragt, auch gegenüber ihren Klient_innen eine neue Form von Politik durchzusetzen (vgl. Hielscher/Ochs 2009; Dahme 2008; Ludwig-Mayerhofer et al. 2007).

In der Forschung zur Sozialen Arbeit in Verwaltungen hat sich analog zur Aktivierungsproblematik im Wohlfahrtsstaat der Diskurs dazu eröffnet, wie Regulierungs- und Standardisierungsprozesse zu interpretieren sind, die mit neuen Formen politischer Steuerung einhergehen (siehe dazu den Sammelband von Langer/Schröer 2011a). Bei der Beantwortung dieser Frage kristallisieren sich im Wesentlichen zwei Argumentationslinien heraus: Während die einen wachsende Regulierungs- und Standardisierungsprozesse in der Sozialverwaltung als technologisch-rationale Denkmuster interpretieren, die den »Kern sozialpädagogischer Prozessgestaltung« missverstünden (Hansen 2007, S. 401) und der in der Sozialen Arbeit eingeforderten »Einzelfalloffenheit« diametral entgegenständen (Ebd., S. 414), argumentieren die anderen, dass solche Prozesse in der Sozialverwaltung vor allem mit einem Mehr an Ausbildung und Akademisierung einhergingen, deren Auswirkungen überhaupt erst in empirischen Studien untersucht werden müsse (vgl. Langer/Schröer 2011b).

Jenseits dieser Perspektiven, die Entwicklungen in der Sozialen Arbeit oftmals homogenisierend betrachten, fragen wir in unserem Beitrag danach, welche Bedeutung die Akteure »veränderten Handlungsspielräumen« (Bode/Leitner 2012, S. 373) interaktioneller und subjektiver Art beimessen.

4. Aktivierung, Fürsorglichkeit und Semiprofessionalität als Orientierungsmuster im arbeitsbezogenen Handeln

Die Fragestellung dieses Beitrags soll durch Rückgriff auf empirisches Material aus zwei Forschungsprojekten zur wohlfahrtsstaatlichen Hilfe bei Arbeits- bzw. Wohnungslosigkeit untersucht werden. Die Projekte »Wirkungen des SGB II auf Personen mit Migrationshintergrund« (Institut Arbeit und Qualifikation et al. 2009) und »Arbeitszufriedenheit und Organisationsbindung nach Reorganisationsprozessen« (eine Evaluation zur Reorganisation einer Wohnungslosenunterkunft eines frei-gemeinnützigen Wohlfahrtsverbandes in den Jahren 2006 bis 2008) erforschten in verschiedenen Organisationen des deutschen Wohlfahrtsstaates, wie ausführende Akteure die Problem- und Handlungsfelder der Arbeits- bzw. Wohnungslosigkeit bearbeiten. Der institutionelle Wandel als spezifische Folge von Gesetzesnovellen in diesen Feldern und die sich daraus ergebenden Veränderungen für die Mitarbeiter_innen der wohlfahrtsstaatlichen Organisation wurden sowohl auf die Vorstrukturierung von Organisationsfeldregulierungen als auch auf die Interaktionsdynamiken in der Klientenbeziehung hin untersucht. Die qualitativ-rekonstruktive Untersuchung umfasste die Erhebung narrativer leitfadengestützter Interviews, die in verschiedenen lokalen Settings mit Mitarbeiter_innen von Organisationen geführt und mit der dokumentarischen Methode ausgewertet wurden (zur Datenerhebung narrativer Experteninterviews vgl. Meuser/Nagel 2002, zur Auswertungspraxis der dokumentarischen Methode vgl. Bohnsack et al. 2007). Die hier vorliegende Analyse konzentriert sich auf Interviewpassagen, die – unabhängig von konkreten Fallschilderungen – die Sicht der Mitarbeiter_innen auf die Spielräume bei der Erbringung wohlfahrtsstaatlicher Dienstleistungen widerspiegeln.

Als Untersuchungsdimensionen dienten Fragen zur Bezugnahme auf die neue Organisationsstruktur, zur Wahrnehmung formaler Rollenerfordernisse, zur Definition des pädagogisch-professionellen Auftrags, zur Gestaltung der pädagogisch-professionellen Hilfebeziehung und zur Auslegung bürokratisch-herrschaftlichen Handelns.

Aus unserem Sample, bestehend aus elf narrativen, leitfadengestützten Experteninterviews mit Fachkräften in Arbeitsagenturen und bei einem frei-gemeinnützigen Träger einer Wohnungslosenunterkunft, haben wir schließlich eine »praxeologische Typologie« rekonstruiert (Bohnsack 2012, S. 48), die für die hier untersuchten Akteure zu einer sinngenetischen Typenbildung von Orientierungen im berufsbezogenen Handeln (sinn‑)verdichtet werden konnte. Die sinngenetische Typenbildung zeigt, »in welch unterschiedlichen Orientierungsrahmen die erforschten Personen […] Themen und Problemstellungen bearbeiten« (Nohl 2012, S. 163, Hervorhebung i.O.) und leistet somit einen Beitrag zur Frage danach, wie der empirische Zugang zu Deutungsmustern bei Veränderungsprozessen in Organisationen gelingen kann, der die Erlebnishorizonte von Akteuren miteinbezieht und somit der Subjektivität der Akteure Rechnung trägt.

Anhand der identifizierten Orientierungen lässt sich im Hinblick auf die untersuchten Dimensionen ein differenziertes Bild zu den Bearbeitungsmustern wohlfahrtsstaatlicher Aufgaben (wie Hilfe bei Arbeits- oder Wohnungslosigkeit) nachzeichnen, die von typischen ausführenden Akteuren selbst vollzogen werden (siehe Tabelle 1). Hinter dem Begriff der Aktivierung – gleich ob er in der Sozialpolitik(forschung) unterschiedlich interpretiert wird – verbirgt sich ein Orientierungsmuster, das der sozialpolitischen Forderung nach »Aktivierung« typischerweise sehr nahe kommt. Dazu bilden die Muster der Fürsorglichkeit und der Semiprofessionalität Kontraste, die typische subjekteigene Deutungs- und Bearbeitungsmuster der organisatorischen und sozialpolitischen Transformation verdeutlichen. Während das Orientierungsmuster der Fürsorglichkeit die sozialarbeiterischen Elemente des arbeitsbezogenen Handelns bekräftigt, meint Semiprofessionalität eine Orientierung, die Ermessensspielräume zugunsten des Wohls der Klient_innen auflöst, dabei aber veränderte Organisationsregeln umsichtig berücksichtigt und handlungspraktisch wirksam beibehält (vgl. Schütze 1992, 1999).

Tabelle 1: Sinngenetische Typen von Orientierungen im berufsbezogenen Handeln bei ausführenden Akteuren in wohlfahrtsstaatlichen Organisationen

Diese aus dem empirischen Material rekonstruierten Typen handlungspraktischer Orientierungen werden im Folgenden nachgezeichnet. Die Fallrekonstruktionen in der Arbeitslosen- und Wohnungslosenhilfe zeigen, dass Mitarbeiter_innen wohlfahrtsstaatlicher Organisationen Handlungsspielräume haben, die sie aktiv behaupten und subjektiv ausfüllen.

4.1 Aktivierung

Die Mitarbeiter_innen, die als Personen typisch das aktivierende Muster vertreten, tendieren in ihrem Werte- und Handlungsmodus zu strukturellen Veränderungen in der Arbeitsmarkt- bzw. Sozialpolitik. Im Vordergrund ihres Interesses steht das Ziel der sozialen bzw. beruflichen Integration. Da Hilfebedürftigkeit gewissermaßen als individuelles Versagen wahrgenommen wird, setzen sie unwillkürlich voraus, dass ihre Klient_innen aktiviert werden müssen.

Frau Kray[2], eine Arbeitsvermittlerin für Jugendliche und junge Erwachsene, sieht ihren Auftrag darin, ihre Klient_innen in die Lage zu versetzen, ihre Beschäftigungschancen auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen:

»Unsere Kunden hier im Team sind alle jünger als 25 Jahre und verfügen nicht über eine abgeschlossene Berufsausbildung. Das ist der Punkt. Das heißt, dass die Jugendlichen, die eine abgeschlossene Ausbildung haben, durch die anderen Erwachsenen-Teams mit betreut werden, aber unsere haben alle keine abgeschlossene Ausbildung. Das heißt, vorrangiges Ziel ist dann natürlich auch zu qualifizieren, gerade im Hinblick auf eventuell einen Erwerb von Schulabschlüssen und möglichst auch Ausbildung oder, wenn beides nicht möglich ist, in Arbeit.«

Die Erhöhung der Beschäftigungschancen erreicht Frau Kray nicht z.B. dadurch, dass sie nach konkreten Stellenangeboten sucht, sondern indem sie eine bessere Qualifizierung ihrer Klient_innen anstrebt. »Qualifizieren« bedeutet für Frau Kray, den Klient_innen zu sagen, was sie tun müssen:

»Oberste Priorität sollte immer erst mal Ausbildung sein, soweit es irgendwie möglich ist, aber oft ist es aufgrund der Persönlichkeit der Kunden auch einfach nicht möglich. Oder manche haben auch kein Interesse, können nicht, wollen nicht, weil schulmüde … oder, oder, oder.«

Diese Autonomie absprechende Art der Intervention ist charakteristisch für eine aktuelle Tendenz in der Arbeitsmarktpolitik, in der Klient_innen mit dem Grundsatz des »Förderns und Forderns« (Schulze-Böing 2002, S. 160) stärker als bisher bei der Suche nach Arbeitstätigkeiten nicht nur unterstützt, sondern auch in ihren Grundhaltungen und Tätigkeiten »zwingender« gefordert werden. Auch Frau Kray gibt ergänzend zu verstehen, dass ihre Klient_innen »multiple Vermittlungshemmnisse« haben und sich selbst keine Gedanken über ihre berufliche Zukunft machen können,

»denn die Kunden im Fallmanagement sind diejenigen, die ganz massive multiple Vermittlungshemmnisse haben und die natürlich erst einmal aus dem Weg geräumt werden können, bevor ich mir überhaupt Gedanken dazu machen kann, jemanden in den Arbeitsmarkt zu integrieren.«

Das Fallmanagement ist eine Dienstleistung, die dazu dienen soll, Jugendliche durch begleitete Hilfen schneller, passgenauer und einzelfallorientierter in den Arbeitsmarkt zu integrieren (vgl. Blanke 2000). In ihrer Rolle als Fallmanagerin setzt Frau Kray nun voraus, dass ihre Klient_innen grundsätzlich nicht in der Lage sind, eigenständig Krisen zu bewältigen, und dass die Persönlichkeit, die individuelle Schullaufbahn und die Interessen der Klient_innen einer positiven Entwicklung entgegenstehen. Diese Deutung entspricht durchaus der sozialpolitischen Programmatik und erfolgt, wie Frau Kray folgerichtig weiter ausführt, im Zeichen einer angestrebten Arbeitsmarktintegration:

»Ja, klar, es ist natürlich schon so, dass das vorrangige Ziel, egal ob jetzt unter 25, über 25, Fallmanagement, Vermittlung natürlich eine möglichst hohe Integrationsquote in den Arbeitsmarkt ist, das ist unser täglich Brot.«

Integrieren ist also das »täglich Brot« der Mitarbeiter_innen, meint im »Aktivierungsparadigma« (Dahme/Wohlfahrt 2004, S. 14) jedoch nicht allein eine Vermittlungsleistung, sondern die Erhöhung der allgemeinen »Integrationsquote«. Diese bezieht sich nicht mehr auf die Zahl erfolgreicher Vermittlungen, sondern auf die Zahl von Übergängen aus der Arbeitslosigkeit in den Arbeitsmarkt oder in Maßnahmen. Indem die öffentliche Arbeitsverwaltung ihre Klient_innen dazu anhält, intensiver Arbeit zu suchen bzw. eine Stelle oder eine Maßnahme anzunehmen, die sie sonst verweigert hätten, wird zwar nicht vermittelt, aber trotzdem das eigentliche Ziel erreicht, nämlich dass Personen aus der Arbeitslosigkeit in Erwerbsarbeit oder in Maßnahmen zur Erhöhung ihrer Beschäftigungsfähigkeit gelangt sind.

Freilich zeigen sich nicht alle Klient_innen kooperativ und halten sich an die gesetzliche Zielsetzung. Insofern sind die Interventionen der Befragten in vielen Fällen auch durch Elemente im interaktionsbezogenen Setting gekennzeichnet, die eine non-direkte Gesprächsführung sinnvoll erscheinen lassen. Das heißt, dass es in Gesprächen darum geht, Klient_innen einerseits hinsichtlich ihrer (Bildungs‑)Laufbahn zu beraten, andererseits direktiv Informationen zu vermitteln, etwa im Hinblick auf Weiterbildungsangebote, individuelle Teilnahmevoraussetzungen oder voraussichtliche Verwertbarkeit der erworbenen Kenntnisse bzw. Fähigkeiten. Charakteristisch für die hier untersuchte Praxis ist, dass Interventionen durch ein humanistisch-orientiertes Beratungskonzept (vgl. Rogers 1991) dominiert werden, die auf implizite Menschenbilder rekurrieren (vgl. Schiersmann 2000). Auch die typischen Akteure setzen ihre Interventionen auf der Grundlage der (wahrgenommenen) Persönlichkeit ihrer Klient_innen an: Charakteristisch für Vertreter_innen des aktivierenden Musters ist eine Lenkung ihrer Klient_innen durch Sanktionen in Form von Unterstützungskürzungen. Während Vertreter_innen des semiprofessionellen Orientierungsmusters ausschließlich positive Anreize nutzen und Vertreter_innen des fürsorglichen Musters die Eltern von Klient_innen disziplinieren, rekurrieren Vertreter_innen des aktivierenden Musters nun auf das Gesetz, das sanktioniert. Auch Frau Kühn, eine weitere Arbeitsvermittlerin, die nach dem Modus des aktivierenden Musters verfährt, verweist zur Erläuterung ihrer individuellen Praxis auf die gesetzlichen Regelungen und gibt zu verstehen, dass sie kein »Paradebeispiel« für die Anwendung der gesetzlichen Vorgaben ist:

»Also ich glaube, ich bin, also – oder sagen wir mal so: Ich darf die 100 % [Leistungskürzungen], darf ich ja geben, wenn entweder die Eingliederungsvereinbarung nicht erfüllt ist oder eine Maßnahme abgebrochen wird ohne wichtigen Grund oder Arbeitsablehnung, solche Sachen. Ich bin jetzt, was das Einsparen der Passivleistungen angeht, sicherlich nicht das Paradebeispiel, weil ich jemand bin, der erst eine gelbe Karte zeigt, also auch ermahnt und auch die Möglichkeit gibt, das noch mal nachzuholen, also ich erkläre das noch mal, belehre noch mal. Also bei mir gibt es die nicht sofort. Aber nach einer Ermahnung oder auch mal nach einer zweiten Ermahnung gib es die dann schon, und dann auch mit aller Härte. Das ist so.«

Frau Kühn erläutert ihre individuelle Praxis im Hinblick auf die Dimension der Kosten des Sozialstaates (»Einsparen der Passivleistungen«). Diese Perspektive diszipliniert sowohl Frau Kühn als auch ihre Klient_innen, ist aber in der betriebswirtschaftlichen Ausrichtung des Vermittlungsprozesses auch strukturell angelegt (vgl. Schütz/Oschmiansky 2006). Als Vertreterin des aktivierenden Musters löst Frau Kühn dieses strukturelle Problem in ihrer Rolle durch Ausübung von Zwang, um seitens ihrer Klient_innen eine Verhaltensveränderung herbeizuführen. Ihre Strategie setzt auf Erklärung, Belehrung und Ermahnung und erst zuletzt auf finanzielle Sanktionen. Dass ihre Strategie wenig effizient ist, resümiert Frau Kühn mit dem Verweis darauf, dass sie letztendlich »mit aller Härte« sanktioniere.

Ziel der professionellen Interventionen im aktivierenden Muster ist die soziale bzw. berufliche Eingliederung von Klient_innen, die nicht Kooperationspersonen von Fallarbeit, sondern Steuerungsobjekte sind. Dementsprechend sind die Interaktionen der Vertreter_innen dieses Musters durch disziplinierend-kontrollierende Elemente gekennzeichnet. Die Einhaltung formaler Organisationsregeln wird in der Definition des Auftrags relevant, die sich wenig an pädagogisch-professionellen Entscheidungen oder an der Handlungsfreiheit mündiger Bürger orientiert. Bürokratisch-herrschaftliches Handeln dominiert die jeweiligen Ermessensspielräume dieses Musters.

4.2 Fürsorglichkeit

Die Ursachen von Hilfebedürftigkeit verorten Vertreter_innen des fürsorglichen Musters in erster Linie in gesellschaftlichen Strukturen und erst in zweiter Linie in der subjektiven Lage der Hilfeempfänger_innen. Der Arbeitsvermittler Herr Schäfer, ein typischer Vertreter dieses Musters, sieht die strukturellen Probleme auf dem Arbeitsmarkt deutlich und problematisiert neue Regeln seiner Organisation:

»Wir haben zu wenige Ausbildungsplätze, das ist ganz klar hier. Es sind viele, die sind hier in der Warteschleife, die brauchen keine Maßnahmen, die brauchen einen Job. Da besteht nämlich die Gefahr: Die versaue ich mir in Maßnahmen, die werden immer unmotivierter, wenn die wissen: Ich gehe da hin, bringt mir sowieso nichts, die können mir nix mehr beibringen, ja? Die sind absolut arbeitsmarktreif, ja? Und leider haben wir kein Angebot, ja? Das ist dann wirklich traurig. Aber ich muss ja, ich muss ja was mit denen machen, ja? Ich bin ja verpflichtet als Vermittler, die irgendwo einzuteilen, wenn ich dann nachweisen kann, dass die selber aktiv sind, dann geht das schon. Aber da muss man immer aufpassen, das ist klar.«

Die Fokussierung der neuen Arbeitsmarktpolitik auf stärkeres Fordern bei der Arbeitsvermittlung ist belastend: Einerseits für Herrn Schäfers Klient_innen und andererseits für Herrn Schäfer selbst (»ich muss ja«). Entsprechend kritisiert er bürokratische Organisationsregeln, die sowohl seine eigenen Handlungsspielräume im Hinblick auf den Umgang mit »arbeitsmarktreif[en]« Klient_innen als auch die Handlungsspielräume seiner Klient_innen selbst einengen. Herr Schäfer empfindet Mitgefühl und lässt seine Fürsorge – soweit möglich – auch handlungspraktisch relevant werden, z. B. indem er seine »arbeitsmarktreif[en]« Klient_innen von Nachweispflichten befreit.

Vertreter_innen des fürsorglichen Orientierungsmusters kritisieren neue Bestimmungen allerdings auch nicht grundsätzlich. Positiv äußern sie sich über die Erweiterung des eigenen Handlungsspielraums in gewissen Belangen, z. B. über die Möglichkeit, ihre Klient_innen zu lenken. Ob Vertreter_innen dieses Musters Organisationsregeln kritisieren, hängt also davon ab, wie sie den Grad der Autonomie ihrer Klient_innen einschätzen. Herr Schäfer beschreibt die bürokratisch-herrschaftlichen Elemente der Organisation folgendermaßen:

»Früher beim Sozialamt war es ja so, das war alles mehr oder weniger freiwillig, eine Familie ist in der Sozialhilfe drin, Jugendlicher ist von der Berufsschule fertig, Schulabschluss nicht erreicht, so. Jetzt können wir dem natürlich Maßnahmen – haben wir damals auch schon gehabt – anbieten, ja, aber nicht verpflichten. Wenn er jetzt ein Maßnahmenangebot kriegt und lehnt er es ab, kriegt er eine Sanktion, die er nicht merkt, sondern die Eltern, weil er – viele Jugendliche wissen das gar nicht – sagt: ‚Ich kriege doch gar kein Geld von euch.‘ Sage ich: ‚Doch, du kriegst Geld.‘ Und dann rechne ich ihnen vor, was ihnen zusteht. Geht natürlich in die Kasse vom Vater, ja? Ja, also praktisch, wenn der jetzt drei Monate nicht erschienen ist, wird erst mal die Leistung eingestellt, weil kein Mensch weiß, wo der Jugendliche verblieben ist, fehlt ja Geld in der Bedarfsgemeinschaft. Da sagt der [Vater]: ‚Was hast du gemacht?‘ Ja, da sage ich: ‚Wo ist denn dein Sohn? Den habe ich lange nicht mehr gesehen‘. ‚Ja, das kann gar nicht sein, der geht doch jeden Morgen aus dem Haus‘. Da geht es dann los. Da kriegt der Ärger, das macht der aber nur einmal, dann kriegt der richtig Stress. So, dann hört der mir schon mal zu.«

Neue Sanktions- und Zumutbarkeitsregelungen im Sozialleistungssystem verschaffen Herrn Schäfer einen leichteren Zugriff auf seine Klient_innen. Indem er Leistungen für die Eltern seiner jugendlichen Klient_innen kürzt, sichert er sich die Aufmerksamkeit seiner Klient_innen für sein Arbeitshandeln. Sanktionen in Form von Unterstützungskürzungen zielen jedoch nicht – wie im aktivierenden Orientierungsmuster – auf eine Verhaltensänderung seitens seiner Klient_innen ab. Vielmehr informiert Herr Schäfer mit seinem bürokratisch-herrschaftlichen Handeln über seine Beistandschaft. Instruktiv ist die Formulierung »weil kein Mensch weiß, wo der Jugendliche verblieben ist«: Herr Schäfer initiiert »vorübergehend sanktionierend« die Suche nach seinen Klient_innen mit dem Ziel, adäquate Hilfe zu leisten.

Ein analoger Handlungsmodus findet sich auch in anderen Arbeitsfeldern des sozialen Sektors. Frau Koch, eine Sozialbetreuerin in der untersuchten Wohnungsloseneinrichtung, beansprucht in ihrer Tätigkeit, entgegen den Organisationsregeln, die Beistandschaft für ihre Klient_innen für sich:

»Da würde ich gern ein bisschen mehr tun, wenn ich dürfte. Also so ein bisschen mehr begleiten. Gerade so die jungen Mädels, die Schwierigkeiten haben. Also mit Wohnung finden und so, da würde ich gern mit denen die Zeitungen durchgucken und sagen: ‚Komm, jetzt fahren wir da hin und machen einen Termin, und dann gucken wir uns gemeinsam die Wohnung an‘. Und das darf ich nicht. Die Frauen müssen das selbstständig können.«

Frau Koch betrachtet die Klientinnen der Wohnungsloseneinrichtung als »junge Mädels«, d.h. als Schutzbefohlene mit nachvollziehbaren Problemen, beispielsweise bei der Wohnungssuche. Ihre Sicht auf die Hilfebedürftigkeit bzw. -beziehung konkurriert mit den Vorstellungen und daraus resultierenden Regeln in der Wohnungsloseneinrichtung, in der Frau Koch tätig ist, weshalb sich ihr selten Gelegenheit bietet, ihr fürsorgliches Orientierungsmuster handlungspraktisch auszuleben.

Die Arbeitsvermittlerin Frau Finke hingegen, deren Äußerungen ebenfalls als typisch für das fürsorgliche Orientierungsmuster gelten können, wendet nach wie vor eine Strategie der »Einzelfallarbeit« an, die es ihr erlaubt, ihrem individuellen Anspruch, adäquate Hilfe zu leisten, gerecht zu werden:

»Ich habe auch da eine Einstellung, dass ich immer sag: Hm, dass es gar keine Integration gibt, das würde ich für den Zeitabschnitt bis U25 schließe ich das für mich erst mal aus. Man kann immer wieder gucken, ob man eine Veränderung miteinander überwinden kann. Aber da schon die Prognose zu geben mit 18: »Das wird nie was«, widerstrebt mir, ich denke immer, es macht immer noch mal Sinn, sich den einen oder anderen anzugucken, aber vielleicht bin ich eben auch ziemlich in der Einzelfallarbeit geprägt.«

Das Gegenmodell adäquater Hilfe besteht dieser Erzählung zufolge im Untersagen von Hilfe. Frau Finkes Unterstützung setzt stattdessen an einem grundlegenden Bedürfnis von Hilfeempfänger_innen an: Dem Bedürfnis nach Stabilisierung ihrer Lebenslage. Diese Hilfe entspricht damit einer reifegradorientierten Begleitung und schließt die gesamte Person der Hilfeempfänger_innen in die Hilfeleistung ein.

Diese Hilfeleistung durch die Vertreter_innen des fürsorglichen Orientierungsmusters erfolgt jedoch nur unter der Voraussetzung, dass Klient_innen sich auf eine soziale Beziehung zu den Helfer_innen selbst einlassen. Frau Finke beispielsweise beschreibt ihre Sicht folgendermaßen:

»Aber wenn es dann so gar nicht mehr miteinander geht, na gut, dann würde ich auch in dem Moment eher sagen, äh, zu überlegen, das Fallmanagement an der Stelle zu beenden, zu sagen: Okay, im Rahmen der Mitarbeit geht im Moment nicht wirklich was. Deswegen auch nur erst mal das reguläre Angebot in der persönlichen Betreuung über persönliche Ansprechpartner mit Eingliederungsvereinbarung und Sanktion und Folge.«

Frau Finke sieht ihre Aufgabe darin, eine Dienstleistung zu erbringen, die vorrangig durch die Beziehung zwischen ihr und ihren Klient_innen beeinflusst wird. Das Fallmanagement erscheint hier als eine Art Sonderleistung, die sie für alle diejenigen erbringt, die »mitarbeit[en]«, indem sie sich auf einer zwischenmenschlichen Ebene auf sie einlassen. Klient_innen, die sich dieser Sonderleistung und damit vor allem auch Frau Finke selbst verweigern, werden als unwillig eingestuft und sanktioniert.

Das fürsorgliche Muster rückt die Klient_innen in den Fokus der professionellen Intervention. Die Klient_innen sind Schutzbefohlene, denen die zunächst wahrgenommene Pflicht erwächst, sich aus ihrer Notlage zu befreien. Bürokratisch-herrschaftliches Handeln ist auf die Erziehung und Lenkung der Klient_innen ausgerichtet und nicht wie im aktivierenden Muster darauf, Organisationsziele zu erreichen.

4.3 Semiprofessionalität

Typisch für Vertreter_innen der semiprofessionellen Orientierung ist, dass sie sich bei der Anwendung von Organisationsregeln persönlich ebenso öffnen und sich einlassen wie bei der Bearbeitung von Problemen ihrer Klient_innen. Frau Gabriel, eine Sozialbetreuerin in der untersuchten Wohnungsloseneinrichtung, erklärt:

»Wir arbeiten jetzt strukturierter als früher im Obdach. Da lief es halt, wie es lief. Und hier arbeiten wir nach einem System. Das fängt an bei der Aufnahme – wie eine Aufnahme zu machen ist –, das geht über den Verwaltungsapparat. Und natürlich auch eine gewisse Konsequenz mit den Klientinnen. Wir sind ja nun nicht dazu da, deren Leben zu leben, sondern wir sind dazu da, sie ein bisschen zu stützen, sie aber vor allem selbstständig zu halten. Hilfestellungen jederzeit, aber nicht auf Biegen und Brechen für die alles tun.«

Die untersuchte Wohnungsloseneinrichtung widmet sich dem Problem der Wohnungslosigkeit von Klient_innen, indem sie ihnen eine Unterkunft bietet und sozialarbeiterische Betreuung gewährleistet. Eine Reorganisation hat bewirkt, dass die Klient_innen nunmehr je nach Problemlage in verschiedenen Unterkünften untergebracht und mit einer Reihe von Angeboten zur beruflichen und sozialen Integration versorgt werden können. Für die Mitarbeiter_innen hat die Reorganisation zur Folge, dass ihre professionellen Interventionen stärker als zuvor durch bürokratische Bestimmungen (Unterteilung der Klient_innen in Hilfegruppen, Dezentralisierung der Betreuungsleistung usw.) strukturiert werden. Frau Gabriel, eine idealtypische Vertreterin des semiprofessionellen Musters, äußert sich positiv zur bürokratischen Strukturierung der Arbeitsabläufe, da diese sie zu einer Systematisierung der professionellen Intervention anhält (»das geht über den Verwaltungsapparat«). Anders als bei Frau Kray, einer Vertreterin des aktivierenden Orientierungsmusters, ersetzt der »Verwaltungsapparat« für Frau Gabriel nicht die pädagogisch-professionellen Entscheidungen (»sie ein bisschen zu stützten«). Aber diese pädagogisch-professionellen Entscheidungen nehmen auch nicht eine Form an, wie sie tendenziell bei ihrer »fürsorglichen« Kollegin Frau Koch zu beobachten ist; vielmehr grenzt Frau Gabriel sich in ihrer Darstellung von dieser typisch von Mitarbeiter_innen des fürsorglichen Musters vertretenen Form von Hilfe ab (»nicht auf Biegen und Brechen für die alles tun«).

Als problematisch sehen Vertreter_innen des semiprofessionellen Musters an, dass die Dezentralisierung der Arbeitsabläufe eine kollegiale Fallbearbeitung erschwert. So urteilt Frau Gabriel:

»Was ich schade finde, ist der Kontakt zu unseren Ergänzungsdienstlerinnen. Weil: Man sieht nur noch eine in der Woche, in so einem Großteam, sodass der Austausch fehlt. Ich meine, das sind ja alles Mädels, die studieren und die wirklich in der Theorie drin sind, und ich konnte mir bisher von den Studentinnen auch immer was abhören. Und wir hier im Kernteam, haben für solche Gespräche nicht so viel Zeit.«

Die Autonomie in der Fallbearbeitung erschwert Frau Gabriel den kollegialen Austausch, der ihr bisher als eine Art Supervision und Weiterbildung zugleich wertvoll war. Frau Gabriel beklagt zwar, dass ihr aufgrund der dezentralen Versorgung ihrer Klient_innen die Zeit für kollegiale Gespräche fehle, andererseits nutzt sie die getrennte Aufgabenwahrnehmung der Betreuung von Klient_innen konstruktiv dafür, ihre pädagogische Hilfe gezielter anzubieten und einzusetzen:

»Die Arbeit mit den Klienten hat sich stark verändert. Im Obdach war das so, dass die Leute relativ alleine gelassen wurden. Man hat zwar Hilfestellungen ein bisschen gegeben, aber mehr oder weniger konnten die ihren Alltag selber leben. Und hier ist es: Ich nehme die Klienten direkt an die Hand, damit sie was tun. Von alleine tun sie nichts.«

Frau Gabriel hat den Anspruch, ihren Klient_innen Hilfestellung zu leisten. Die Dezentralisierung der Organisation hatte für sie vor allem eine Veränderung der Hilfebeziehung zu den Klient_innen zur Folge: Waren Interventionen zuvor durch wenig gegenseitige Anteilnahme gekennzeichnet, haben sie nun instruierenden Charakter. Die bürokratische Umstrukturierung der Arbeitsabläufe erleichtert den typischen Akteuren, die im Modus des semiprofessionellen Musters verfahren, somit den pädagogisch-professionellen Zugang zur Intervention bei Wohnungslosigkeit.

Wie gelingt Vertreter_innen des semiprofessionellen Musters aber die Vermittlung zwischen bürokratisch-herrschaftlichem und pädagogisch-professionellem Handeln konkret? Aufschlussreich hierfür ist die folgende Äußerung des Arbeitsvermittlers Herrn Bauer, als er auf die Motivation seiner Klient_innen zu sprechen kommt:

»Und dann noch ein Thema: Zur Motivation stelle ich eigentlich schon zu Beginn des Jobcenters letztendlich fest: Die Leute sind nach wie vor der Meinung, wenn sie arbeiten gehen, bekommen sie kein Arbeitslosengeld II mehr. Und ich kläre in fast jedem Gespräch darüber auf, dass es nicht so ist. Dass sich das immer nach der Höhe des Einkommens richtet. Und wir machen auch mal so Gesprächsrunden mit Gruppen von eben Leuten, die schon längere Zeit ohne Arbeitsstelle waren, und klären auch über solche Sachverhalte auf, aber diese Meinung, die kriegt man aus den Köpfen nur ganz schwer raus.«

Eine oberflächliche Lektüre könnte zu dem Schluss verleiten, Herr Bauer rede resignativ über seine Bemühungen oder gar abwertend über seine Klient_innen. Betrachtet man diese Textstelle jedoch genauer, wird deutlich, dass Herr Bauer den Interessen seiner Klient_innen durchaus Beachtung schenkt: Er gesteht seinen Klient_innen zu, das Möglichste für sich herauszuholen. Daher kann er »solche Sachverhalte« auch ansprechen, ohne auf übergeordnete moralische Maßstäbe zu verweisen. Zwar äußert er sich etwas verärgert über das Sachproblem, dass ständig Bedarf an regelbezogener Aufklärung besteht, da diese zusätzliche Arbeit für ihn bedeutet. Doch er nutzt die Aufklärung auch zur »Motivation« seiner Klient_innen, denn eine Zeitarbeitsstelle stellt für viele von ihnen eine realistische Option dar, da ihnen mangels beruflicher Qualifikationen und/oder aufgrund einer schlechten regionalen Arbeitsmarktlage zunächst kaum Chancen auf ein Normalarbeitsverhältnis eingeräumt werden können.

Das semiprofessionelle Muster stellt den Darstellungen der Befragten zufolge einen Balanceakt zwischen Organisationregeln und Fallarbeit dar, wobei Ermessensspielräume durch die Orientierung an positiven Anreizen sowie durch Belassen der Handlungsautonomie der Klient_innen im eigenen Arbeitshandeln subjektiv genutzt werden.

5. Fazit

In diesem Aufsatz wurden verschiedene Modi der subjektiven Nutzung von Handlungsspielräumen in der Arbeits- bzw. Wohnungslosenhilfe identifiziert und aus einer interaktionistischen Perspektive gedeutet. Ausgehend von der Frage, welche handlungspraktischen Orientierungen bei unterschiedlichen an wohlfahrtsstaatlichen Dienstleistungen beteiligten Akteuren zu beobachten seien, wurde eine Typologie entwickelt, die zwischen drei Typen praktischer Orientierung im berufsbezogenen Handeln differenziert. Die Typen zeigen, dass die identifizierten Handlungsspielräume je nach Orientierung der Fachkräfte auf einem Kontinuum zwischen einer fürsorglichen, den Klient_innen zugewandten, und einer bürokratisch-formalistischen Auslegung variieren. Darüber hinaus kann eine semiprofessionelle Variante des Deutungs- und Bearbeitungsmusters identifiziert werden, die die Balance dieses Kontinuums aufrecht hält. Um eine weitere Unterscheidungsdimension herauszuarbeiten, wurde die Frage nach einem institutionellen Wandel wohlfahrtsstaatlicher Organisationen gestellt, der sich in Form von gesetzlich-institutionellen Normierungen, intraorganisationalen Regulierungen und beruflichen Standardisierungen auf die Handlungsspielräume im beobachteten Interaktionsgeschehen auswirkt.

In Bezug auf die hier untersuchten Beispiele lassen sich hinsichtlich der Handlungsspielräume bei der Erbringung wohlfahrtsstaatlicher Dienstleistungen unterschiedliche Schlüsse ziehen, die im Folgenden noch einmal resümiert werden. Vertreter_innen des aktivierenden Musters folgen subjektiv in ihren Werte- und Handlungsorientierungen weitestgehend den Routineverfahren der Organisation. Infolgedessen erfährt die pädagogisch-professionelle Fallbearbeitung eine Einschränkung. Die juristischen Kodifizierungen (z.B. Zumutbarkeitsregelungen) und organisationalen Regulierungen (Kosteneffizienz) bewirken, dass auch die professionellen Rollenverständnisse vor der Folie des Einzugs neuer sozialpolitischer Bewertungsmaßstäbe definiert werden. Die Folge ist eine Aktivierungspraxis, die durchaus den sozialpolitischen Programmatiken entspricht. Zwar ist evident, dass institutionelle Veränderungen sich auch auf die Handlungsspielräume der anderen rekonstruierten Typen auswirken. Allerdings zeigt die Analyse des Interaktionsgeschehens unter Einbezug der Deutungen ihrer typischen Akteure, dass institutionelle Neuerungen sich nicht eins zu eins in Ausführungsbestimmungen übersetzen lassen. Wie unsere Beispiele belegen, lehnen die Vertreter_innen des fürsorglichen Musters, entsprechend ihrer subjektiven Übersetzung dieser Bestimmungen in die eigene Alltagspraxis, bürokratisches Handeln sogar mehr oder weniger ab, obwohl es sie durchaus auch von unüberschaubaren Problemstellungen der Berufsarbeit entlasten kann (vgl. Schütze 1999). Stattdessen werden Neuerungen in der wohlfahrtsstaatlichen Organisation, die herrschaftliches Handeln begünstigen (z.B. Sanktionsregelungen), dazu genutzt, eigene alternative Schwerpunkte in der Fallarbeit zu setzen, um ihre Klient_innen zu stärken. Das semiprofessionelle Muster unterliegt sodann zwar grundsätzlich ebenso den »paradoxen« Nebenwirkungen (Schütze 1992) wohlfahrtsstaatlichen Helfens unter bürokratischen Bedingungen (vgl. von Harrach et al. 2000), aber gerade das Ablehnen gesetzlich-institutioneller Neumodellierungen von Klient_innen-(Stereo‑)Typisierungen und deren sozialer Kontrolle zeigen, dass auch in der gegenwärtigen Hilfe bei Arbeits- und Wohnungslosigkeit subjektiv gestaltbare Handlungsspielräume im Arbeitshandeln vorhanden sind, die eine semiprofessionelle Bearbeitung von Problemen ermöglichen – und dies vor allem aufgrund der subjektiven Kreativitätsleistungen.

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Endnoten:

[1]

Wir danken Anja Weiß, Sylke Meyerhuber und Jarg Bergold für die nützlichen Hinweise zu diesem Artikel.

[2]

Dieser wie auch alle weiteren Namen und personenbezogenen Angaben sind aus Gründen der Anonymisierung geändert.

Über die Autorinnen

Stella Müller

Diplom-Sozialwissenschaftlerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Soziologie, Universität Duisburg-Essen

Arbeitsschwerpunkte: Organisationssoziologie, Professionssoziologie, Soziale Ungleichheit, Qualitative Sozialforschung

Stella Müller Universität Duisburg-Essen Institut für Soziologie Lotharstr. 65 47057 Duisburg

E-Mail: stella.mueller@uni-due.de

Karolina Barglowski

Diplom-Sozialwissenschaftlerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld

Arbeitsschwerpunkte: Soziale Ungleichheit, Sozialpolitik, Migrationssoziologie, Kultursoziologie, Qualitative Sozialforschung

Karolina Barglowski Universität Bielefeld Fakultät für Soziologie Postfach 100131 33501 Bielefeld

E-Mail: karolina.barglowski@uni-bielefeld.de