Editorial

Irene Strasser & Andrea Birbaumer

Auf der Suche nach der Genderforschung in der Psychologie

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Genderthemen lässt sich in den meisten kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen besser nachzeichnen als in der Psychologie. Gerade diese aber, als weiblich dominiertes Berufsfeld, und ihre Verankerung in der Wissenschaft stellen ein bedeutendes und interessantes Spannungsfeld dar. In der psychologischen Praxis zeigt sich die Diskrepanz zwischen einer hohen Anzahl an psychologisch tätigen Frauen und deren marginalen Repräsentation in den Führungsebenen deutlich.

In diesem Schwerpunktheft widmen wir uns daher der Frage nach dem Stellenwert von Genderforschung und feministischer Theorien in der psychologischen Theorie und Praxis. Aber: Genderforschung in der Psychologie? Auf diese Frage hin werden wohl viele erst einmal in eine längere Denkpause verfallen. Darauf folgen dann recht unterschiedliche Antworten. Aber auch Rechtfertigungsdiskurse werden ausgebreitet (z.B. man habe die Kategorie »Geschlecht« als (Stör?)variable ja ohnehin erhoben und müsse sie nur als solche in die statistische Analyse mit einbeziehen), und man zerbricht sich vielleicht den Kopf darüber, wie im Konkreten die Zweigeschlechtlichkeit zu überwinden sei, immerhin würden StudienteilnehmerInnen sehr verwundert sein, wenn in Fragebögen neben der Geschlechterkategorien »männlich« und »weiblich« auch noch »sonstiges« zum Ankreuzen stünde. Nun mögen diese etwas zugespitzt anmutenden (und doch aus dem Alltag gegriffenen) Erörterungen zunächst zynisch klingen; sie sind aber vielmehr ein Ausdruck dessen, dass die wissenschaftliche Psychologie nach wie vor ein sehr ernstzunehmendes Problem hat.

Während in benachbarten Disziplinen wie der Soziologie und den Erziehungswissenschaften sowie in der psychologischen Praxis noch eher eine Berücksichtigung von Gendertheorien bzw., wie Schmerl (1998, S.237) es nennt, die »Vorstellung 'Feminismus und Psychologie'« stattfindet, tut sie dies nicht im Bereich der akademischen Psychologie, nicht da wo sich die Psychologie als Wissenschaft der Weiterentwicklung und Ausbildung widmet. Christiane Schmerl hat in ihrem bereits 1998 erschienenen (jedoch nach wie vor gültigen) Beitrag eine Zwischenbilanz zum Verhältnis der deutschsprachigen Psychologie zu Feminismus bzw. feministischer Theorien gezogen und geht der Frage nach, worin die fehlende Befassung mit genderrelevanten Themen innerhalb der Psychologie begründet sein könnte. Hier mag zum einen das Unvermögen der Mainstreampsychologie sich mit den »blinden Flecken« allgemein auseinanderzusetzen sowie der Tatsache, dass über lange Zeit hinweg der »Mann« als Gegenstand psychologischen Interesses gleich gesetzt wurde mit dem »Menschen« schlechthin, zum Tragen kommen (zu feministischer Wissenschaftskritik siehe z.B. Singer 2004, Keller 2007). Dies spielt – wenngleich mittlerweile Erkenntnisobjekte wie Erkenntnissubjekte auch Frauen sind – nach wie vor eine tragende Rolle, nämlich unter anderem in denjenigen zahlreichen Theorien, die dieser Herangehensweise entspringen und nach wie vor als gültig und auch grundlegend für die Psychologie angesehen werden. In einem vehementen Bemühen der (Mainstream)Psychologie sich als Naturwissenschaft darzustellen, bleibt die Sicht auf viele epistemologische Probleme verdeckt. Die auffallend starke heteronormative Verortung psychologischer Theorien, die sich in aktuellen Lehrbüchern ebenso findet wie in Forschungsthemen der deutschsprachigen Psychologie, müsste eigentlich Fragen nach dahinter liegenden Menschenbildannahmen und dem Verhältnis von Natur und Kultur aufkommen lassen. Forschungsthemen die (De)konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit, die homosexuelle PartnerInnenschaften, Transgender und Aspekte wie »doing gender« einbeziehen sucht man meist vergebens (hier lohnt sich am ehesten ein Blick in die US-amerikanische akademische Psychologie). Gerade in der vermeintlichen Versicherung, man habe die Kategorie Geschlecht im Sinne einer isolierten »Variable Geschlecht« unter Kontrolle, sie stünde mit ihrer »biologisch begründeten« Definition quasi ideologiefrei objektivierbar und der Analyse zur Verfügung, liegt ein bedeutender Widerspruch (vgl. auch Tißberger 2010, S. 271ff zu Gender als interdependenter Kategorie). Auch aufgrund der in der Psychologie oft fehlenden theoretischen Verortung von »Gender« ist schnell einmal etwas »psychologische Genderforschung«; wichtig scheint nur, etwas über die Variable Geschlecht aussagen zu können. So kommt es häufig zu einer Überbetonung von minimalen Geschlechterunterschieden, wobei diesen »Erkenntnissen« oft andere Gruppenunterschiede oder interindividuelle Differenzen untergeordnet werden. Bezüge zu den vielfältigen Ansätzen feministischer TheoretikerInnen fehlen im deutschsprachigen Raum meist, mit wenigen Ausnahmen. Es entsteht der Eindruck, die Psychologie bemühe sich, die Genderforschung »neu zu erfinden«, und dabei bleibt oft nicht viel mehr übrig als die schon erwähnte Jonglage mit der Variable Geschlecht. Die gesellschaftliche Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit wird selten kritisiert, ja oftmals nicht einmal als solche wahrgenommen, sondern innerhalb des Rahmens biologistischer Erklärungsansätze implizit vorausgesetzt. Da stellen bedauerlicher Weise auch viele Beiträge in aktuellen Publikationen zur psychologischen Geschlechterforschung keine Ausnahmen dar (siehe auch Rezensionsbeitrag). Hier riskiert die psychologische Forschung auf der Stelle zu treten, während der Blick auf wirklich interessante und gesellschaftlich hoch relevante Fragestellungen verstellt bleibt. Denn »geht man vom System der symbolischen Repräsentanz der Zweigeschlechtlichkeit aus, mit dem sich alle Menschen auseinander setzen und in das sie sich vergesellschaften müssen, so kann es eigentlich keinen thematischen Bereich innerhalb der Psychologie geben, in dem die Gender-Kategorie nicht wirksam werden würde.« (Musfeld 2001, S. 61).

Dass es dieser Ansicht entsprechend sehr wohl eine Befassung mit feministischen Themen und Genderforschung innerhalb der deutschsprachigen Psychologie gibt, verdeutlicht vorliegende Schwerpunktausgabe.

Brigitte Schigl gibt in ihrem Beitrag zunächst einen Überblick über feministische und gendertheoretische Diskurse und setzt diese in Beziehung zu konkreten Handlungsfeldern psychosozialer und klinischer Praxis. Sie widmet sich außerdem der Frage, inwiefern sich Frauen- und Geschlechtertheorien und Themen der Frauengesundheitsbewegung gegenseitig beeinflussen. Der Beitrag geht auch auf feministische Kritik an unterschiedlichen Psychotherapierichtungen vor dem Hintergrund von Bedingungen feministischer Psychotherapie ein und schließt mit dem Plädoyer feministische und Gendertheorien in psychologische und therapeutische Ausbildung als Standards aufzunehmen.

Mit der Frage, ob und in welcher Art und Weise die Themen 'Geschlecht und Sexualität' in behavioristischen Lerntheorien verhandelt werden beschäftigt sich Anna Sieben. Nach einem kurzen Überblick über die behandelten Theorien werden diese hinsichtlich ihrer Beschreibungen von Geschlechterdifferenzen etwa in Bezug auf Emotionen, Verhaltensweisen, »Instinkten« analysiert. Der Thematisierung von Sexualverhalten, sexueller Orientierung und der Skizzierung dieser als angeborene oder erlernte Aspekte wird ebenso nachgegangen und diese hinsichtlich heteronormativer Setzungen kritisch diskutiert. Abschließend wird dargestellt, inwiefern zahlreiche Beispiele in den untersuchten behavioristischen Lerntheorien geschlechterstereotype Vorstellungen transportieren und dies hinsichtlich ihrer epistemologisch relevanten Bedeutung interpretiert.

Julia Scholz beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit dem Konzept des psychologischen Essentialismus. Dieses, als ursprünglich philosophisches Konzept in die Psychologie eingeführt, beschreibt implizite Annahmen bei der Beurteilung anderer (als Zugehöriger bestimmter Kategorien): Mit »tief verankerten Eigenschaften« sind oberflächliche Aspekte verbunden, die Mitglieder einer Kategorie teilen. Wie sich dieses Essentialisieren im Zusammenhang mit der Kategorie Geschlecht zeigt wird dargestellt und die unterschiedlichen Konstellationen essentialisierender Einzelpersonen und Gruppen sowie »Essentialisierung als gesellschaftlicher Konsens« analysiert. Welche Auswirkungen Essentialisierungen haben und welche Implikationen sich für die Genderforschung ergeben wird abschließend behandelt.

Mit dem aktuell erschienenen »Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung« (herausgegeben von Gisela Steins, Verlag für Sozialwissenschaften, 2010) beschäftigt sich Andrea Birbaumer in ihrer Buchbesprechung.

Das Heft schließt mit dem Einzelbeitrag von Martin Wieser, der sich mit Körperbildern und Seelenmetaphern in Aufklärung und Industrialisierung beschäftigt. Nach einer Verortung der (frühen) Ursprünge der »Mechanisierung des Körpers« setzt sich der Autor mit der Metapher der »reizbaren Maschine« im Kontext Philipp Sarasins Arbeiten auseinander. Abschließend widmet sich der Beitrag anhand der Arbeiten von Ebbinghaus und Herbart der »Maschinenmetaphorik der frühen akademischen Psychologie«.

Literatur

Musfeld, Tamara (2001): Gender. In: Heiner Keupp & Klaus Weber (Hg.): Psychologie. Ein Grundkurs (54-70). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Schmerl, Christiane (1998): Feminismus und (deutsche) Psychologie – Versuch einer Zwischenbilanz. Zeitschrift für Politische Psychologie, 6, 223-240.

Singer, Mona (2004): Feministische Wissenschaftskritik und Epistemologie. In: Ruth Becker, Beate Kortendiek (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, (257-266). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Tißberger, Martina (2010): Dark Continent. Über das Unbewusste von Sexismus und Rassismus. In Gisela Steins (Hg.), Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung (371-394). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Autorenhinweis

Irene Strasser

Irene Strasser, Mag.a phil., lebt in Celovec/Koroška, Universitätsassistentin an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Fachbereich Entwicklungs- und Pädagogische Psychologie. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Erfolgreiches Altern, subjektive Entwicklungstheorien, Weisheit, Entwicklungspsychologie der Lebensspanne, Frauen- und Genderforschung in der Psychologie.

E-Mail: irene.strasser@uni-klu.ac.at

Andrea Birbaumer

Andrea Birbaumer lebt in Wien, Mag. a phil., Gesundheits- und Arbeitspsychologin, Notfallpsychologin, Lektorin an der TU Wien, freie Wissenschaftlerin, Obfrau der GkPP - österreichische Berufsvertretung für PsychologInnen. Lehr- und Arbeitsschwerpunkte: Arbeits- und Organisationspsychologie, Gesundheitspsychologie, Evaluation, Qualitative Methoden, Mentoring, Genderforschung, speziell Frauen, Arbeit und Technologien.

E-Mail: birbaumer@gkpp.at

E-Mail: andrea.birbaumer@tuwien.ac.at