Polyamory – Gel(i)ebte Mehrfachbeziehungen aus kulturwissenschaftlicher Perspektive

Marta Mazanek

Zusammenfassung

Die vorliegende kulturwissenschaftliche Erhebung polyamoröser Lebenswirklichkeiten konzentriert sich darauf, wie diese konstruiert und gelebt werden. Im Zentrum der Untersuchung stehen spezifische Handlungs- und Empfindungsebenen, die für die gesamte Erhebungsgruppe oder aber auch für Einzelne signifikant sind. Dabei bilden deduktive Kernfragen bezüglich des Beziehungskonzeptes Polyamory einen Rahmen, der durch induktiv gewonnene Aspekte ergänzt zu einer möglichst weiten Erschließung der Beziehungspraxis führen soll.

Beginnend mit den Darstellungen der Beziehungssituationen durch die Befragten, somit deren subjektiven Verständnissen von Polyamory, führt die hier gekürzt vorgestellte Betrachtung des Konzeptes über eine vergleichende Darstellung von grundlegenden Fragen nach individuellen Perspektiven, Motiven und Konflikten und schließt mit den persönlichen Zukunftsperspektiven und Erfahrungen im gesellschaftlichen Umfeld.

Schüsselwörter: Polyamory, Mehrfachbeziehungen, Beziehungsform, Mononormativität, alternative Lebensmodelle, Empirisch

Keywords: Polyamory, relationships with multiple partners, ethical/consensual non-monogamy, alternative lifestyles, cultural studies

Summary

The following analysis of polyamorous everyday life realities is focused on the ways in which they are constructed and lived. The main topics refer to the specific levels of actions and emotions which are significant for the whole sample or for individuals. Together with aspects won in an inductive way the deductive key issues about the relationship concept of polyamory provide the framework for a broadest possible exploration of the practices within the relationships.

Beginning with the respondents’ descriptions of their relationships’ situations and thus with subjective understandings of polyamory this brief presentation of the concept leads through a comparing contemplation of fundamental issues about individual perspectives, motives and conflicts and ends up with future prospects and experiences within the social environment.

Schüsselwörter: Polyamory, Mehrfachbeziehungen, Beziehungsform, Mononormativität, alternative Lebensmodelle, Empirisch

Keywords: Polyamory, relationships with multiple partners, ethical/consensual non-monogamy, alternative lifestyles, cultural studies

Im Folgenden möchte ich einen Teil der Ergebnisse vorstellen, die im Rahmen meiner Magisterarbeit Das Beziehungskonzept Polyamory Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung polyamoröser Lebenswelten im Studienfach Empirische Kulturwissenschaft am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen entstanden sind.

Ziel dieser Untersuchung war es lebensweltliche Handlungsebenen zu erschließen und mit Polyamory einhergehende emotionale Ebenen zu ergründen. Um einen die Lebenswirklichkeit der Personen erfassenden Einblick in diese Beziehungsform zu erlangen, schien ein qualitativer Zugang mittels der auf einem offenen Fragenkatalog basierenden Interviews adäquat. Hierdurch wurden Alltagshandlungen und subjektive Handlungsgründe im Zusammenhang mit Fähigkeiten, Leistungen und Bestrebungen hinterfragt. Die Fallkontrastierung möglichst verschiedener Lebensweisen im Hinblick auf wichtige Eckpfeiler der Beziehungsform führte trotz einer begrenzten Anzahl an Befragungen zu einer facettenreichen Erschließung von Differenzen und Gemeinsamkeiten gelebter Polyamory.

Die Befragungen fanden im Zeitraum von April bis Juni 2012 in verschiedenen Städten in Deutschland statt.

Kurzvorstellung der Interviewpartner_innen

Das Alter der befragten Personen bewegte sich zum Zeitpunkt der Interviews zwischen 23 bis 59 Jahren. Während Elisa (23, Studentin) sich mit dem Polyamory-Konzept aus einer emanzipatorischen Perspektive heraus theoretisch auseinandergesetzt hatte und gerade dabei war ihre bestehende Beziehung für weitere Partner_innen zu öffnen, befand sich Daniel (59, Fotograf) bereits in seiner dritten Ehe, die auf seinen bisherigen Erfahrungen basierend unter der Bedingung der Offenheit für weitere Personen geschlossen wurde. Judiths (25, Studentin) Dreiecksbeziehung, die auf der langjährigen monogamen Beziehung zu ihrem Freund aufgebaut war, fand vor Kurzem ein Ende, indem sich ihre Partner_innen für eine Zweierbeziehung entschlossen. Jürgens (52, arbeitslos) Ehe endete aufgrund seiner Untreue. Seitdem unterhielt er Fernbeziehungen zu mehreren Frauen, die er im Internet oder auf Polyamory-Treffen kennengelernt hatte. Die Beziehungen zwischen Thomas (42, Arzt), Ina (42, Sozialarbeiterin), Katja (37, Angestellte) und Laura (46, Qualitätsmanagerin), die leider nicht an der Befragung teilnehmen konnte, bildeten den Kern eines Beziehungsnetzwerkes. Dieser Kern bestand aus der Ehe von Thomas und Laura sowie beider Beziehungen zu Ina und überdies einer Beziehung zwischen Katja und Thomas. Das Netzwerk war nach außen hin sowohl für weitere sexuelle als auch für emotionale Kontakte geöffnet.

Bedürfnisse im Zentrum polyamoröser Beziehungsführung

Die Art und Weise, wie die befragten Personen ihre eigene Beziehungssituation spontan umschreiben, verdeutlicht ihr subjektives Verständnis von Polyamory; dementsprechend beginnt jede Befragung mit der einleitenden Bitte um eine Darstellung der persönlichen Beziehungsform.

Obwohl bei den meisten Interviewpartner_innen durchaus ein Bewusstsein für die Kritik am Polyamory-Begriff vorhanden ist, ordnen sich fast alle im Vertrauen auf ihre persönliche Auslegung des Wortes der dazugehörigen Szene zu. Diese individuelle Auslegung entspricht mehr den Grundzügen der Polyamory-Literatur, die mit dem Ziel Ausgrenzungen und Diskriminierungen zu vermeiden um eine Offenheit der Definition bemüht ist, als den teilweise restriktiven Diskussionen um das Beziehungskonzept im Internet, wo die Verbreitung des Begriffes maßgeblich stattfand. Die virtuellen Auseinandersetzungen und die darin beobachteten repressiven Elemente veranlassen beispielsweise Thomas zu einer distanzierten Haltung gegenüber der Beziehungsbezeichnung Polyamory, obwohl er seine Beziehungsform durchaus darunter einordnen würde. Während dies als Akt der Widerständigkeit gewertet werden kann, findet bei Elisa ein Selbstausschluss aufgrund der von ihr empfundenen Kriterien der Zugehörigkeit statt; sie fasst ihre Beziehung als zu unverbindlich auf, um sie wirklich als »poly« bezeichnen zu können.

Im Vordergrund der Darstellungen polyamoröser Beziehungspraxis steht bei allen Befragten die Möglichkeit. Es ist die Möglichkeit verbindliche Beziehungen mit mehreren Menschen zu führen und die eigenen Gefühle zu ebendiesen auszuleben. Von Liebe bzw. der Legitimität des Verliebens sprechen hierbei Judith, Katja und Ina und trotzen damit bewusst der hinlänglich bekannten Kritik am romantischen Liebesbegriff innerhalb des Polyamory-Konzeptes:

Ina: »Und ich darf mich verlieben, wenn ich das möchte. Ich bin sicher, ich bin geborgen, ich bin zu Hause, ich weiß zu wem ich gehöre und ich darf rausgehen und mich verlieben, wenn ich das möchte.«

Dagegen bildet für Daniel die Struktur von Mehrfachbeziehungen das Kennzeichen und den Unterschied zu monogamen Beziehungen: die Mehrzahl an Partner_innen, die offene und ehrliche Kommunikation sowie ein eventueller Kontakt untereinander.

Neben den in den Selbstdarstellungen genannten Motiven konnten weitere Gründe und Umstände erhoben werden, die die Befragten dazu bewegen dieses Beziehungskonzept zu favorisieren. Dabei bilden die Werte Sicherheit, Unterstützung und Freiheit die häufigsten Faktoren im Zusammenhang mit der Begründung der Beziehungsform. Die empfundene Gleichzeitigkeit von Freiheit und Sicherheit bzw. Unterstützung wird sowohl als Bereicherung wie auch als markanter Unterschied zu monogamen Beziehungen erlebt:

Thomas: »Ja und das ist so: Netze halten einfach besser als Ketten. Es gibt einfach ein Gefühl der Sicherheit. Obwohl das alles viel weniger dogmatisch ist, man weniger soziale oder traditionelle Absicherung hat und Verhaltensmuster, auf die man sich verlassen kann – so gibt es ein unglaubliches Gefühl von Sicherheit. Und es ist egal, was passiert. Es sind viele Unterstützungen da und das Verlieben bedeutet nicht automatisch ›jetzt gehen zehn Jahre den Bach runter‹.«

Während Freiheit sich auf das legitimierte Ausleben von Gefühlen – im Gegensatz zu einer aufgezwungenen Unterdrückung selbiger – bezieht, bildet die Mehrzahl an Partner_innen ein Auffangnetz und damit ein Gefühl von Geborgenheit, welches wiederum als eine Bedingung für das Erleben dieser Freiheit empfunden werden kann.

Dadurch können nicht nur weitere Begegnungen unverfänglicher und selbstbewusster erfahren werden; insbesondere werden Trennungen in ihrem Einfluss auf das persönliche Leben abgeschwächt und ein Übergang hin zu einer Freundschaft wird eventuell erleichtert.

Des Weiteren wird das in der Polyamory-Literatur m.E. vernachlässigte Thema Kindererziehung (siehe weiter unten) genannt, um Vorzüge dieser Beziehungsform darzustellen.

Ein weiterer wichtiger Punkt, um die Entscheidung für ein polyamoröses Leben zu begründen, ist die Erwartungshaltung bzw. Bedürfniserfüllung des/der Einzelnen. Diese auf Bedürfnisse zentrierte Betrachtungsweise kann sowohl in allen Befragungen als auch in der Literatur zum Thema Polyamory wiedergefunden werden.

Judith: »Das ist schön, es gibt so ein familiäres Gefühl, einen familiären Zusammenhalt. Und ich möchte, dass die Menschen, die ich mag, auch lieben können wen sie mögen und ihren Bedürfnissen nachgehen können. Wenn mein Freund sich in jemand anderen verliebt, dann möchte ich nicht, dass… Ich verstehe nicht warum jemand einen anderen nicht lieben sollte oder mit jemandem nicht zusammen sein sollte, wenn er das doch möchte, weil ich nicht sehe, wie mir das schadet – im Gegenteil! Also es ist total schön: Liebe schön, viele Lieben, viel schön. Ja, es gibt keine vorgefertigten Lösungen für irgendwas und das erzeugt im besten Fall ein sehr bedürfnisorientiertes Miteinander, so dass alle hinterher haben, was sie möchten. Damit geht es mir dann besser.«

Freundschaften bilden für die Befragten oftmals das Gegenbild zum monogamen Beziehungsmodell. Hierbei wird zum einen die Nähe der polyamorösen Beziehungsform zur Freundschaft und damit ihre Alltäglichkeit suggeriert. Zum anderen deutet der Vergleich auf das Problem der als schwierig bis unmöglich betrachteten Bedürfnisbefriedigung in monogamen Partnerschaften hin. Innerhalb dieser wird ein Konzentrieren übermäßiger Erwartungen auf eine einzelne Person unterstellt, welches zwangsläufig zu einer Überforderung ebendieser und wiederum zur eigenen Unzufriedenheit führe. Die Aussagen bewegen sich dabei zwischen Mutmaßungen begründet auf Beobachtungen, beispielsweise der eigenen Eltern, bis hin zu eigenen Erfahrungen in monogamen Partnerschaften und geschiedenen Ehen.

Thomas: »Ja und das ist eben das Komische. Wenn du eine klassische Monobeziehung hast, dann ist auf einmal all das – was du in deinem Freundeskreis nie auf die Idee kämest, alles von allen zu verlangen – in dem Moment, wo Amor zuschlägt, die irrige Annahme, dass jetzt auf einmal ein Mensch das alles in einer Person perfekt kann.«

An dieser Stelle ist anzumerken, dass die Interviewpartner_innen lediglich von monogamen Beziehungen – wohlgemerkt nicht von Ehen – als Gegenmodell zu ihrer Beziehungsform sprechen und sich dabei meist ausdrücklich von einer direkten Abwertung distanzieren. Zudem wollen einige der Befragten Monogamie für sich nicht als gänzlich ausgeschlossen erklären:

Judith: »Ich wüsste auch nicht, was ich täte, wenn ich vor der Wahl stände. Wenn ich zu einem Menschen eine Beziehung hätte und der sagen würde: "Aber nur mono." Ob mir dann das Konzept von meiner Idee von Beziehung wichtiger ist als der Mensch, den ich liebe. Ich hoffe, dass ich nicht in die Situation komme und mich nur noch in Menschen verliebe, die auch irgendwie relativ offen sind oder damit leben können.«

Bemerkenswert ist auch, dass keine grundsätzliche Kritik an der Institution Ehe ausgeübt wird. Überdies besteht die geäußerte Kritik an monogamen Beziehungen vornehmlich nicht in der Beschränkung auf einen/eine Partner_in. Bei der Gegenüberstellung von Mehrfachbeziehungen und monogamen Beziehungsformen zielt die Kritik an letzteren meist auf deren Normativität und das daraus resultierende Fehlen eines Bewusstseins für unerlässliche Kommunikationsprozesse.

Einigkeit besteht innerhalb der gesamten Erhebungsgruppe auch darin, dass polyamoröse Beziehungen nicht pauschal für jede Person geeignet seien, da hierzu viel Zeit, Willen und ausgeprägte Kommunikationsfähigkeiten als notwendig erachtet werden. Die Behauptung, dass diese Voraussetzungen nicht von jedem_r uneingeschränkt erbracht werden könnten, konstatiert eine Differenz zu übrigen Personen; um welche Einschränkungen es sich hierbei genau handelt, wird jedoch nicht deutlich. Soziokulturelle Ursachen für unterschiedliche Voraussetzungen für alternative Lebensweisen werden indes ausschließlich von Ina thematisiert.

Einer Hierarchisierung individueller Lebensentwürfe wird dennoch entgegengehalten, dass es theoretisch jeder Person frei stehe, wie sie leben möchte. Folglich liegt bei den befragten Personen ein Individualismus vor, der Bedürfnisse zum Maßstab der Lebensführung erklärt und sich einer Verurteilung der Bedürfnisse anderer verweigert. Diese Einstellung könnte aus der Beschäftigung mit der Diskriminierung von alternativen Lebensformen sowie aus dem eigenen Wunsch nach gesellschaftlicher Akzeptanz resultieren.

Mehr Beziehungen, mehr persönliche Entwicklung

Eine große Rolle im Erleben von Polyamory spielen des Weiteren persönliche Entwicklungsprozesse. Der Übergang von einer monogamen Beziehungsführung hin zu einer polyamorösen erfordert von den Beteiligten neue Verhaltens- und Verhandlungsweisen, die es zunächst zu erlernen gilt. Hierzu müssen fortwährend für jede Beziehung individuelle Lösungen gefunden werden, ohne dabei in nennenswertem Ausmaß auf allgemein Bekanntes rekurrieren zu können. Trotz der Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen auf diesem Weg, werden diese Lernprozesse von den Befragten als persönliche Weiterentwicklung geschätzt.

Daniel: »Und wenn ich jetzt so zurückschaue, bedauere ich manchmal, dass ich nicht früher angefangen habe bisschen mehr zu experimentieren oder überhaupt über das Leben zu lernen oder über Beziehungen zu lernen.«

Die Lernvorgänge fußen auf zweierlei Schwerpunkten: die Annäherung an andere Menschen und eine damit einhergehende intensive Selbstreflexion.

Die emotionale Annäherung wird vornehmlich von den männlichen Befragten als bereichernd erlebt. Es entstehen neue Situationen des Kennenlernens, die eine Auseinandersetzung mit den Interessen und Erwartungen anderer abverlangen und zu neuen Verhaltensmustern führen können. Zudem müssen von allen Beteiligten Kommunikationsweisen erlernt werden, die sie dazu befähigen, den Bedürfnissen sowie auch den Ängsten und Sorgen mehrerer Personen mit der notwendigen Rücksicht entgegenzutreten. Dies wird von den Interviewten als große Aufgabe erachtet, die es primär durch das Kommunizieren eigener Empfindungen sowie durch die Berücksichtigung jedes/jeder Einzelnen zu bewerkstelligen gilt.

Die Lernprozesse werden zunächst als Herausforderung betrachtet, deren Bewältigung eine Abnahme sozialer Hemmungen sowie eine Steigerung des eigenen Selbstwertgefühls zur Folge haben kann. Letzteres wird durch ein Bewusstsein über eigene Bedürfnisse und Ängste ergänzt, welches die Konsequenz einer gelungenen Selbstreflexion darstellt.

Thomas beschreibt die Auseinandersetzung mit seinen Eigenschaften und Fähigkeiten, die er von entsprechenden Verhaltens- und Empfindungsweisen in bestimmten Situationen ableitet. Dadurch möchte er aufzeigen, welchen für ihn schätzenswerten Einfluss die Beziehungsform auf seine Person hat:

Thomas: »Warum find ich jemanden attraktiv? Ist es Mangel? Kann’s wirklich nicht sein. Mangel an was? Warum find ich jemanden attraktiv? Man lernt durchaus Dinge über sich selber kennen, die nicht nur schön sind.«

Komplikationen und Konflikte innerhalb von Mehrfachbeziehungen

Viele Aspekte von Mehrfachbeziehungen werden von den Befragten als kompliziert bis problematisch empfunden. Die Nachteile einer polyamorösen Lebensweise werden während der Interviews im direkten Vergleich zu den jeweiligen Erfahrungen mit monogamen Beziehungen – oder aber auch nur theoretisch – erörtert.

Am häufigsten werden die Faktoren Zeitmanagement, Kommunikation und Eifersucht als vergleichsweise schwierig erlebt. Die meisten Vereinbarungen werden demnach rund um das Einteilen verfügbarer Zeit sowie der Wohnräume erwähnt.

Daniel: »Also, für sie [Daniels Ehefrau, Anm.d.Verf.] ist es wichtig die Klarheit zu haben, erstmal dass ich nicht im gleichen Haus mit ihr [Daniels Freundin, Anm.d.Verf.] bin und dass sie weiß, wann ich zurück komme und dass wir dann auch Quality Time danach haben, wo wir reden können, wo wir verarbeiten können oder was immer – auch eine schöne Zeit miteinander haben.«

Weitere Abmachungen betreffen den Austausch von Informationen über die Partner_innen, die Kommunikation von Geschehenem oder das Klären von Hierarchien. Andere Regelungen, die für ein harmonisches Miteinander getroffen werden, können sich auch auf die Gesundheit oder juristische Angelegenheiten beziehen:

Judith: »Verhütung ist zum Beispiel so eine Vereinbarung, über die man reden muss. […] Also, wir haben zu dritt quasi einen Test gemacht gleichzeitig und haben so eine äußere Wand um uns. Außerhalb von uns dreien verhüten wir mit Kondomen und Femidom oder Folie oder solche Dinge und benutzen Handschuhe. Das ist eine notwendige Absprache. Dann Dinge, die in Richtung Patientenverfügung gehen. Sollte man auch klären, wenn man mehrere Partner hat. Ja. Ob man sich frühzeitig einig ist, ob man Kinder will oder nicht Kinder will, das ist ganz gut, sonst kriegt man hinterher ganz viel Ärger. Und man muss Termine absprechen.«

Des Weiteren kann die Partnersuche innerhalb polyamoröser Beziehungsführung als kompliziert bis schwierig empfunden werden. Ebenso die Verheimlichung der gelebten Beziehungsform vor dem sozialen Umfeld.

Zusätzlich treten in den Befragungen als problematisch empfundene Punkte auf, die jedoch weniger einer Regelung bedürfen als vielmehr einer Auseinandersetzung mit eigenen negativen Empfindungen. Insbesondere kann der Übergang von einer monogamen hin zu einer polyamorösen Beziehungsform für ein Paar vielschichtige Probleme hervorrufen, deren gemeinsame Bewältigung als aufwendig aufgefasst wird:

Judith: »Ich bin aus einer Monobeziehung gekommen und dann wird plötzlich sehr auffällig, was nicht so gut läuft in der Beziehung. Also, Beziehungsprobleme verschwinden überhaupt nicht – ganz im Gegenteil, die werden viel offensichtlicher. Es gibt Zeiten mit so was wie Heimweh, so Partnerweh. Stefan und ich haben vorher vier Jahre zusammen gelebt und waren ein Monopaar und dann war er plötzlich weg. Manchmal zwei, drei Wochen lang, nachdem wir uns sonst höchstens ein Wochenende mal nicht gesehen haben. Und dann hab ich ihn vermisst und wollte gern, dass er da ist und dann war er nicht da… Weniger Zeit miteinander eventuell. Man muss gucken, wie man es macht. Man muss das sortieren und sich manchmal entscheiden. Jonas hat sich zum Beispiel nicht gut mit Stefan verstanden und das war ein bisschen merkwürdig. Also, die waren schon nett miteinander und konnten miteinander umgehen. Aber irgendwie mit denen gemeinsam einen Abend zu verbringen war sehr, sehr komisch.«

Neben der eigenen Sehnsucht schildert Judith hier eine Notwendigkeit von Entscheidungen für bzw. gegen jeweilige Personen, sofern diese nicht gut miteinander auskommen.

Ungleichheiten innerhalb der Beziehungen können auf verschiedenen Wegen entstehen. Einen davon bildet die Differenz zwischen der theoretischen Bereitschaft und der praktischen Ausführung, wie Daniel im Zuge der Darstellung seiner momentanen Beziehungen erläutert:

Daniel: »Was übrigens auch ein wichtiger Faktor ist, weil der irgendwie ein Ungleichgewicht produziert: Wenn beide in einer offenen Beziehung im Kopf sind, aber einer das auslebt und der andere das nicht auslebt, hat man trotzdem ein sehr leichtes Ungleichgewicht. Mir wäre es manchmal lieber, wenn sie das auch mehr ausleben würde. Aus irgendwas immer für Gründen tut sie es im Moment nicht. Aber ich habe das auch schon in vielen anderen polyamoren Beziehungen gehört, dass die das auch als so ein Ungleichgewicht empfinden.«

Zeit & Raum

Geht es um die praktische Ausübung von Polyamory, spielen die Faktoren Zeit und Raum eine wesentliche Rolle. Zeit wird einhellig als größte Einschränkung der Möglichkeiten erlebt und wirkt sich so auf den Wunsch nach einer kurzen Distanz zu den Partner_innen sowie auf deren Anzahl aus. Allerdings kann eine größere Distanz eventuell dabei dienlich sein, auftretende Konkurrenzsituationen zu mindern, indem direkte persönliche Vergleiche und Verunsicherungen umgangen werden. Jedoch wird gerade von Personen, die schon länger in Mehrfachbeziehungen leben, eine Konstellation bevorzugt, in welcher die Partner_innen in erreichbarer Nähe wohnen. Damit sollen spontane Handlungsweisen ermöglicht werden, wie die gegenseitige Pflege bei Krankheit etc.

Wie genau die Wunschvorstellung des Zusammenlebens aussieht, variiert mit der Menge an verfügbarer Zeit, dem Wunsch nach Nähe zu gleichzeitig mehreren Personen sowie dem Bedürfnis Zeit für sich alleine zu haben. Es ist augenfällig, dass hierbei die Vorstellungen und Wünsche der Partner_innen untereinander weitestgehend ähnlich sein sollten, um möglichst wenige Konflikte zu erzeugen. Dass das Aufeinandertreffen von unterschiedlichen Erwartungen innerhalb eines Beziehungsnetzwerkes nicht gänzlich zu vermeiden ist, scheint ebenfalls auf der Hand zu liegen: während Ina ihre Wohnung als persönlichen Rückzugsort schätzt und Thomas, der mit seiner Ehefrau eine Wohnung teilt, dieselbe Stadt zur Bedingung einer Partnerschaft erklärt, malt sich Katja eine Zukunft aus, in der alle Partner_innen unter demselben Dach wohnen. Bemerkenswert ist, dass Elisa und Judith sich für ihre Zukunft ebenfalls ein Haus wünschen, in dem viele Menschen miteinander leben, auch wenn es sich dabei nicht unbedingt um partnerschaftliche Beziehungen in einem bestimmten Rahmen handeln muss.

Besonders großes Konfliktpotential in Bezug auf die Einteilung von Raum und Zeit, verbirgt sich innerhalb der Wohnräume; so konnten in polyamorösen Beziehungen durchgehend spezifische Auseinandersetzungen mit Räumlichkeiten festgestellt werden. Es ist die gemeinsame Nutzung von Wohnungen durch mehrere Partner_innen, die Ursache von Problemen sein kann und entsprechende Regelungen abverlangt. Diese beziehen sich in erster Linie auf den Aufenthalt in den gemeinsam genutzten Schlafzimmern.

Ob und wie diese von weiteren Personen für einen Aufenthalt bis hin zum Beischlaf genutzt werden können, wird durch Aussprache der Befindlichkeiten und entsprechende Vereinbarungen geklärt. Dagegen sehen sich Personen mit eigenem Haushalt dieser Notwendigkeit nicht ausgesetzt und verfügen insofern über einen autonomen Spielraum, den jeder/jede Partner_in unter denselben Bedingungen in Anspruch nehmen kann.

Eine mögliche Vereinbarung wird von Daniel geschildert: Der Wechsel der Bettwäsche im Schlafzimmer nach dem Geschlechtsverkehr mit weiteren Partner_innen. Diese Regel ging von seiner ehemaligen Partnerin aus, die sich ebenfalls daran hielt, obwohl Daniel dies nicht für nötig erachtete. Das Wechseln der Bettwäsche kann hierbei als eine Art Reinigungsritual des Raumes interpretiert werden, welches sowohl zur Beseitigung tatsächlicher Verunreinigungen dienen soll wie auch zur Reinigung der gemeinsamen Beziehung von dem Geschehenen. Dank der frischen Bettwäsche verschwinden die Spuren und damit zumindest theoretisch auch die Gedanken an andere Partner_innen, die negative Empfindungen auslösen könnten.

Auch mit seiner jetzigen Ehefrau hat Daniel Abmachungen bezüglich des Aufenthaltes mit weiteren Frauen in der gemeinsamen Wohnung getroffen. Sie besteht darauf, dass er bei ihr im Zimmer schläft, auch wenn seine Fernbeziehung im gemeinsamen Haus übernachtet. Andernfalls muss er in ein Hotel ausweichen. Sexualität bildet hierbei das entscheidende Moment, wie die folgende Antwort von Daniel auf die Frage danach, ob bei Abwesenheit seiner Ehefrau seine Freundin ins Schlafzimmer darf, verdeutlicht:

Daniel: »Das ist schon in verschiedenen Formen passiert. Manchmal auch als problematisch empfunden worden. Und im Moment haben wir jetzt die Absprache – wir sind vor relativ kurzer Zeit hierher umgezogen, wo wir das jetzt so einrichten könnten, dass wir beide ein eigenes Zimmer haben, wo auch ein gästebettartiges Teil drin ist, wo man dann sein kann ohne in unserem gemeinsamen zu sein. Aber jetzt im gemeinsamen Schlafzimmer zum Beispiel auf dem Bett zu liegen und Fernsehen zu gucken oder einen Film zu gucken, wie wir das in unseren alten Wohnung hatten, da war ein Beamer und eine Projektionsleinwand praktisch im Schlafzimmer. Das war auch kein Problem. Aber da drinnen zu übernachten und Sex zu haben, das wäre für Susanne dann ein Problem.«

Ebenso hat Thomas mit seiner Ehefrau eine Vereinbarung hinsichtlich des gemeinsamen Schlafzimmers getroffen. Während Ina, die mit beiden eine Beziehung führt, freien Zugang zu diesem hat, darf Katja nur unter der Bedingung der Anwesenheit von Ina mit Thomas das Ehebett nutzen. Diese Vereinbarung wird von allen Seiten akzeptiert ohne daraus Wertungen ableiten zu wollen. Dennoch wurde während der Befragung deutlich, dass das Schlafzimmer kein angenehmes Thema darstellt, zumal es Rückschlüsse auf das Verhältnis von Thomas’ Ehefrau zu Katja nahe legt.

Dem Konfliktpotential gemeinsam geteilter Räume, vor allem wenn in diesen Sexualität ausgelebt wird, wird mit dem Kommunizieren von Ängsten und Sorgen entgegengetreten. Daraus werden Vereinbarungen abgeleitet, die stets neu verhandelt und den aktuellen Befindlichkeiten angepasst werden. Wird diese Auseinandersetzung versäumt, könnten unter Umständen leicht Konfliktherde übersehen werden:

Judith: »Ich glaub Kim [die Freundin von Judiths Freund, Anm.d.Verf.] hat sich nicht so wirklich zu Hause gefühlt und hatte das Gefühl immer fragen zu müssen, wenn sie bei Stefan und mir war und kein Recht zu haben mal eine Tür hinter sich zu zu machen. Wir hatten ein Wohnzimmer und ein Schlafzimmer und nicht jeder einen Raum für sich und erst recht nicht Platz für einen eigenen Raum für Kim. Ja das hing so ein bisschen in der Luft. Kim hat sich, glaub ich, öfter nicht getraut zu sagen: ›Ich brauch jetzt mal, ich möcht jetzt mal nur mit Stefan sein.‹ Und wenn man das aber macht, dann ist das gut, wenn man sich dann traut einmal zu sagen: ›Du, verschwinde du mal bitte, so lieb wie ich dich habe, ich möchte jetzt Zeit nur mit dem anderen Menschen verbringen.‹ Dann klappt das ganz gut.«

Hierarchien – die Frage nach der Priorisierung

Die Frage nach Hierarchien innerhalb der Beziehungen führt zu Eingeständnissen von Ungleichheiten, die in erster Linie auf den Faktoren Zeit und Entfernung gründen. Gleichwohl sind die Befragten stets bemüht klarzustellen, dass diese Umstände nicht die Ursache von unterschiedlichen Wertungen sind.

Es ist auffällig, dass die Auseinandersetzung mit der Frage nach Priorisierungen aus zweierlei Perspektiven stattfindet: Während die männlichen Befragten vornehmlich auf strukturelle Rahmenbedingungen verweisen, die Einfluss auf die Beziehungen und deren Alltag haben, beschreiben die Frauen ihre persönlichen Eindrücke beim Vergleichen der verschiedenen Beziehungen. Bemerkenswert ist ebenfalls, dass die beiden Ehemänner Thomas und Daniel im Laufe ihrer Ausführungen an einen Punkt kommen, an dem sie ihren Ehen Prioritäten einräumen. Dies begründen sie mit der gemeinsamen Vergangenheit, die als »etwas Gewachseneres« (Thomas) betrachtet wird. Vor allem Daniel scheinen seine langjährigen Erfahrungen mit Ehen und Mehrfachbeziehungen zu einer festen Überzeugung von der Unumgänglichkeit gewisser Ungleichheiten innerhalb letzterer gebracht zu haben.

Demgegenüber steht Inas Position, die das faktische Bestehen von Hierarchien bestreitet und die Unterschiede im Verhältnis zu verschiedenen Personen an deren Charakteren festmacht. Sie zieht den Vergleich mit der Rolle als Mutter heran, indem sie aufzeigt, dass sie jedes ihrer Kinder auf eine andere Art, dennoch ohne Unterschiede in der Intensität, liebt. Auch die übrigen Personen aus ihrem Beziehungsnetzwerk pflichten – wiederum mittels eines Vergleiches mit Freundschaften – der Unterscheidung hinsichtlich individueller Eigenschaften bei, ohne damit eine Wertung in Zusammenhang stellen zu wollen. Während Katja ihre Empathie beschreibt und davon ausgeht, dass alle Beteiligten aneinander denken und somit Entscheidungen zwischen dem gesamten Netzwerk gefällt werden, erklärt es Thomas sogar zur Prämisse eines konfliktfreien Miteinanders, dass sich die Beteiligten untereinander kennen. Dadurch trete anstelle verunsichernder Vermutungen ein Einfühlungsvermögen, das sich zwischen Respekt und Sympathie bewegt:

Thomas: »Ja ich mein gut, das ist vielleicht deshalb kein Thema, weil wir natürlich eine Konstellation haben, […] wo sich alle untereinander kennen. Auch nicht nur über einen zentralen Verteilerstern in der Mitte. Und wo alle sich im Minimalfall eine gehörige Vorstellung, Sympathie, Respekt entgegenbringen. Das heißt also dieses "mit einer unbekannten Macht um etwas kämpfen" gibt es in der Situation nicht.«

Auch das Betrachten der übrigen Interviews lässt die Annahme zu, dass Hierarchien, die mit Ängsten und Verunsicherungen einzelner Partner_innen in einem gewissen Zusammenhang zu stehen scheinen, von einem mangelhaften Wissen übereinander getragen werden. Während bei räumlich und zeitlich eher getrennten Beziehungen häufiger verunsichernde Vergleiche angestellt werden, scheint sich bei einem gewissen Kontakt untereinander vermehrt Empathie zu entwickeln, welche den Abbau von Ängsten mit sich bringen kann. Wie bereits vorangehend erwähnt wurde, können Entfernungen jedoch auch als Vermeidung direkter und als schmerzhaft erlebter Vergleiche begrüßt werden.

Im Laufe der meisten Befragungen wird ein gewisser Ausgleich von Hierarchien angesprochen, der dadurch entsteht, dass räumlich nähere Beziehungen andere Vor- und Nachteile mit sich bringen als seltenere Zusammenkünfte mit Fernbeziehungen. So beinhalten erstere eine gewisse Geborgenheit, aber auch alltägliche Probleme und Routinen; dagegen bewahren letztere den Charakter des Besonderen. Diese Unterschiede in der Beziehungsführung können jedoch ebenfalls in beide Richtungen Ursache von negativen Empfindungen wie Neid oder Eifersucht sein.

Das Thema Eifersucht

Die Vorstellung mit mehreren Partner_innen zur gleichen Zeit eine Beziehung zu führen löst bei monogam lebenden Menschen überwiegend große Skepsis bezüglich des Themenkomplexes Eifersucht aus. Da in polyamorösen Beziehungen die Notwendigkeit besteht einen Umgang mit entsprechenden Gefühlen zu finden, bildet diese Herausforderung einen besonderen Aspekt bei der Betrachtung von Polyamory. Hierzu muss auf die Auslöser von Gefühlen wie Eifersucht, Konkurrenz, Neid oder Zurücksetzung eingegangen werden. Des Weiteren gehören die verschiedenen Strategien im Umgang mit diesen Gefühlen zur vollständigen Betrachtung der Eifersucht innerhalb von Mehrfachbeziehungen.

Erwartungsgemäß findet diese Thematik in fast allen Interviews als Antwort auf die Frage nach Problemen und Nachteilen der Beziehungsform Erwähnung.

Jedoch wird dabei keineswegs eine gesteigerte Eifersucht an sich als spezifisches Problem von Polyamory genannt – es ist der Zwang zur Auseinandersetzung mit dieser Emotion, der als schwierig, aber auch als lehr- und aufschlussreich empfunden wird.

Innerhalb der Befragungen gibt es, wie auch in der Literatur, einen Unterschied in der Betrachtungsweise von Eifersucht. Einerseits kann darunter ein Deckmantel für andere Empfindungen, wie Neid, Wut, Verlustangst etc. verstanden werden, andererseits kann Eifersucht als legitimes Gefühl betrachtet werden. Die unterschiedlichen Ansichten führen dennoch nicht zu verschiedenen Umgangsweisen mit diesen Gefühlen. In jedem Fall findet eine Suche nach deren Ursachen und Erklärungen statt. Die negativen Emotionen werden dabei in erster Linie mit dem eigenen Selbstbewusstsein bzw. Selbstwertgefühl und damit mit persönlichen Unsicherheiten in Verbindung gebracht. Demzufolge kann Eifersucht als Ursache für die Beschäftigung mit eigenen Ängsten und Wünschen betrachtet werden. Diese Selbstreflexion kann zu der Einsicht führen, dass scheinbare Wünsche gar nicht aus sich selbst heraus existieren, sondern aus anderen Bedürfnissen und Unsicherheiten resultieren. So kann sich hinter dem Wunsch, dass der/die Partner_in weniger Bindung oder Zeit für andere aufbringt, ein generelles Bedürfnis nach mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung verbergen, das beispielsweise auch unabhängig von diesem/dieser wiederum von anderen Personen erfüllt werden könnte.

Die Verarbeitung solcher Emotionen wird von den Befragten als stärkender Entwicklungsprozess erfahren, wie bereits weiter oben ausgeführt wurde.

Mit Blick auf das Selbstbewusstsein ist das Moment des Vergleichens interessant. Einerseits können Vergleiche das eigene Selbstbewusstsein schmälern, andererseits können sie dazu dienen, es zu stabilisieren:

Thomas: »Und wirklich so dann diese Vergleichsmöglichkeiten zu haben, zu sehen: ›ok da ist es, dass der andere irgendetwas hat‹. Zum Beispiel der eine von den Dreien, die da gerade am Horizont auftauchen, hat etwas, was ich gerne hätte – und es fängt ein Vergleich, ein Wettbewerb an und der löst das aus. Bei den anderen hab ich das nicht und sehe, das Gefühl ist auch gar nicht da. Also so ein großes Soziallabor und Sozialanalysegerät. Und ich hab für mich eine ganze Menge in diesen Jahren gelernt. […] Also da stecken so viele kleine, feine, konkrete Gefühle und Verhaltensweisen drin. Aber klar: Eifersucht gibt es. Was vielleicht den Unterschied macht ist, glaub ich, dass in dem Wissen, dass es das gibt, da einfach viel mehr Kommunikation oder auch schon vorweg Wahrnehmung stattfindet.«

Weitere für die Entstehung von Eifersucht etc. genannte Gründe beziehen sich auf die Kommunikation. Dabei können Inhalte, wie das Ausführen von Details sexueller Begegnungen sowie die Art der Kommunikation mögliche Konfliktherde darstellen.

Das Problem der Kommunikationsweise wird in Zusammenhang mit Missverständnissen erwähnt, die aufgrund unzureichender Aussprache entstehen und zu Eifersucht führen können.

Gelungene Kommunikation dient innerhalb polyamoröser Beziehungen jedoch nicht ausschließlich dazu, Eifersucht gar nicht erst entstehen zu lassen, sondern ebenso der Aufarbeitung bereits aufgetretener negativer Empfindungen. Auffällig ist, dass alle weiblichen Befragten nicht nur die Notwendigkeit des Redens über eigene Unsicherheiten beziehungsweise Verunsicherungen mit dem/der Partner_in bekräftigen; Katja und Ina betonen zudem ihre Dankbarkeit dies tun zu dürfen. Eventuell steht diese Wertschätzung der Aussprache in Zusammenhang damit, dass die beiden Frauen vergleichsweise viel Erfahrung mit verschiedenen Beziehungsformen gesammelt haben, in denen das Aussprechen von negativen Empfindungen möglicherweise auch negative Konsequenzen nach sich zog.

Wohingegen in den untersuchten polyamorösen Beziehungen schon alleine das Artikulieren negativer Empfindungen zu einer Reduktion ebendieser zu führen scheint.

Der Umgang mit Eifersucht innerhalb von Mehrfachbeziehungen kann schließlich zu Empfindungsweisen jenseits des Erlebens, Vermeidens und Verarbeitens dieser negativen Emotion führen. In den Veröffentlichungen zum Thema Polyamory kursieren Begriffe, die das Aufkommen neuer Gefühle artikulierbar machen und diese damit näher bringen bzw. etablieren sollen. Den wohl populärsten Ausdruck bildet »frubbly« (Easton/Hardy 2009). Mit diesem Begriff wird eine der Eifersucht entgegengestellte Mitfreude am Liebesleben des anderen mit weiteren Menschen beschrieben. Judith versichert glaubhaft sowohl »frubbelige« Gefühle erlebt zu haben wie auch generell keine Eifersucht zu empfinden. Ebenso bezeichnet sich Daniel als jemanden, der keine wirkliche Eifersucht, dafür aber Mitfreude kennt. Für die Mehrheit jedoch wird diese Form von Empathie das angestrebte Ende eines Prozesses darstellen, an dessen Anfang die oft schmerzhafte Auseinandersetzung mit negativen Empfindungen steht. Dabei können bei Paaren, die einen Übergang zu einer offenen Beziehung beabsichtigen, augenscheinlich Ungleichheiten auf dem Weg zu einer ausgereiften Empathie auftreten:

Daniel: »Das ist etwas, was für mich ganz wichtig ist. Es fällt aber vielen schwer. Es fällt Susanne [Daniels Ehefrau, Anm.d.Verf.] zum Beispiel ziemlich schwer sich für mich zu freuen, wenn ich ein total tiefes Erlebnis habe in einer Beziehung. Umgekehrt habe ich überhaupt kein Problem damit. Ich freue mich total, wenn Susanne irgendwo ein Erlebnis mit einem Mann hat, wo sie nach Hause kommt und strahlt. Aber du kannst dir vorstellen, bei der Normalbevölkerung kann das ein ziemliches Problem sein, wenn jemand von einem anderen Abenteuer oder Erlebnis oder irgendeiner Begegnung nach Hause kommt und strahlt – aber wegen der anderen Frau oder wegen dem anderen Mann statt wegen einem selber. Das lernen wir auch nicht so sehr in unserer Kindheit, dass man Mitfreude wirklich auch auf so einer Beziehungsebene haben kann. Aber das finde ich eines der allerwichtigsten Themen bei Polyamory, diese Mitfreudefähigkeit. Bei denen, die das [das polyamoröse Lebensmodell, Anm.d.Verf.] hochgradig entwickelt haben oder in ihren Beziehungen wirklich gut umsetzen können, da ist diese Mitfreudefähigkeit hoch entwickelt.

Zukunftsperspektiven

Im Hinblick auf die Zukunft lassen die meisten Befragten die Frage offen, ob Polyamory weiterhin ihr Beziehungsleben bestimmen wird. Zwar wünschen sich beispielsweise Judith und Daniel diese Beziehungsform beizubehalten, wollen dies allerdings nicht mit Sicherheit behaupten. Jürgen, der sich nach seiner geschiedenen Ehe innerhalb der Polyamory-Bewegung aufgehoben fühlt, spricht dagegen sogar von Polyamory als »Selbsterfahrungsphase« und setzt sie als »Zweites Austoben« in Relation zur persönlichen Entwicklung:

Jürgen: »Also Poly hat auch die Dimension: "Ich bin poly bis ich meinen Seelenpartner gefunden habe und dann vielleicht nicht mehr". Also es ist auch eine Entwicklungsfrage, wobei ich denke, wenn ich meinen Seelenpartner gefunden hätte, der würde mir auch die Freiheit lassen. Würde ich doch hoffen.«

Hier scheint Polyamory kein wirklicher Lebensentwurf, sondern aufgrund der Umstände oder vorhergehenden Erfahrungen eine momentane Phase darzustellen. Dahinter könnte der Wunsch nach einer festen und dauerhaften Beziehung stehen. Jürgen scheint es allgemein um eine im sexuellen Sinne offene Beziehung zu gehen, auf die er in Zukunft hofft.

Thomas dagegen ist sich der Zukunftsfähigkeit seiner Beziehungsform sicher und bezieht sich dabei auf die bestehende Konstellation, in welcher er noch viel »Potential« erkennt:

Thomas: »Ja, also, in meiner Wahrnehmung ist es nicht irgendwie ein: "Das ist jetzt so ’ne Phase, die wir jetzt gerade hier ausleben, so Sturm und Drang und dann ist gut auch und dann wird endlich richtig geheiratet und dann kommt das Einfamilienhaus am Stadtrand und..." Und ich denke, es ist eine Konstellation, die einfach auch ein unheimliches Potential hat. [...] Wenn sie schon mal da ist, ich wüsste nicht warum das nicht auch in 30 Jahren noch so sein sollte.«

Kinder in polyamorösen Verhältnissen

Während der Befragung von Thomas, Ina und Katja wird deutlich, dass zwei entgegengesetzte Lebensentwürfe innerhalb eines Beziehungsnetzwerkes zu Komplikationen führen können, zumal sie in ihrem Einfluss auf die Beziehungsstruktur unterschiedlich sind: Während Ina den momentanen Zustand begrüßt, wohnt Katjas Kinderwunsch das Potential inne den Status quo grundlegend zu verändern. Hierbei ist der Unterschied zu einer monogamen Paarbeziehung in erster Linie der, dass es mehr Lebensentwürfe gibt, die sich zuwiderlaufen können. Die Intensität der jeweiligen Beziehungen spielt diesbezüglich vermutlich eine entscheidende Rolle.

Ina ist unter den Befragten die einzige, die von Erfahrungen und Eindrücken bezüglich der Erziehung von Kindern innerhalb polyamoröser Beziehungsstrukturen berichten kann.

Ina: »Kinder halten das für normal, was du für normal hältst, dazu neigen sie. Das erklärt die unterschiedlichen kulturellen Kontexte in dieser Gesellschaft. Meine Tochter – das ist eine lustige Geschichte, die ich gerne erzähle: Ich habe mich von ihrem Vater getrennt, als sie zwei war und wir machten Patchwork. Also machen wir immer noch. Und sie pendelte und irgendwann war sie im Kindergarten und kam nach Hause und sagte: "Mama! Des gibt Kinder, die haben nur ein Kinderzimmer! Die sind die ganze Zeit im gleichen!" – "Ja mein Kind, das gibt es." «

Außerdem beschreibt Ina die konkreten Erfahrungen mit ihrem 22-jährigen Sohn, zu dem sie im Allgemeinen ein enges Verhältnis zu haben scheint. Dieser wurde ihrer Meinung nach durch das Miterleben der Beziehungen seiner Mutter insofern beeinflusst, dass er schon früh ein großes Selbstbewusstsein gegenüber Frauen an den Tag legte und aktuell den Wunsch nach einer offenen Beziehung hegt. Zudem erwähnt Ina es als Vorteil, dass ihr Sohn aufgrund der Mehrzahl an ihren Partner_innen auch mehrere Bezugspersonen hatte, die ihm in verschiedenen Bereichen stets unterstützend zur Seite standen.

Es ist auch das Vorhandensein mehrerer Bezugspersonen, was fast alle übrigen Interviewten als großen Vorteil polyamoröser Beziehungen in Bezug auf Kindererziehung erwägen. Hierdurch finde zudem ein Zeit- und Freiheitsgewinn für die leiblichen Eltern statt; Elisa bezeichnet dies aus einer ökonomischen Perspektive sogar als »klügere, rationalere Organisationsstruktur«.

Judith, die selber keine Kinder haben möchte, sich jedoch darüber freuen würde welche mit aufziehen zu dürfen, erwähnt die gesellschaftlichen Probleme, die auf ein Kind zukommen könnten, dessen Eltern polyamorös leben. Die Abweichung von der heterosexuellen Mononormativität und eine damit möglicherweise einhergehende Diskriminierung ist damit das einzige »Problem«, das im Kontext der Kinderthematik deutlich geäußert wird.

Umgang mit dem Umfeld und vice versa

Im Umgang mit dem sozialen Umfeld scheint sich für polyamorös lebende Menschen ein Zwiespalt aus dem Bekenntnis zu ihrer Beziehungsform und den daraus resultierenden Auseinandersetzungen mit Familie, Freund_innen und Arbeitskolleg_innen zu ergeben. Einerseits gibt es den Wunsch zu der eigenen Lebensform und damit auch zu allen Partner_innen zu stehen; andererseits besteht in den meisten Fällen ein auf vorhergehenden Erfahrungen begründetes Bewusstsein darüber, dass das offene Ausleben von Mehrfachbeziehungen einhergehen kann mit unangenehmen Diskussionen, Rechtfertigungen und zudem – beispielsweise im Hinblick auf berufliche Perspektiven – Nachteile mit sich bringen kann. So ist eine polyamorös lebende Person genötigt, eine Balance zwischen der Anerkennung gesellschaftlicher Umstände und dem eigenen Wohlempfinden zu finden. Obwohl die Befragten die Einstellung vertreten, dass ihr Verhalten rechtens und nicht verwerflich sei, beugen sich die meisten von ihnen – vor allem im beruflichen, aber teilweise auch im familiären Umfeld – den gesellschaftlichen Erwartungshaltungen mittels des Zurückhaltens der vollen Wahrheit über ihren Beziehungsstatus.

Diese Verhaltensweise ist vornehmlich eine Konsequenz aus der Erfahrung, dass das Preisgeben polyamoröser Beziehungsstrukturen von Außenstehenden oftmals mit Vorwürfen und Unterstellungen oder aber auch mit der Rechtfertigung der eigenen Beziehungsführung beantwortet wird. Die negativen Reaktionen anderer werden von den Befragten als Angst, Konkurrenz oder Neid beschrieben und insbesondere auf den Umstand zurückgeführt, dass mit der Darstellung von Mehrfachbeziehungen eine monogame Beziehungsführung vermeintlich in Frage gestellt wird. Dies bedingt schließlich eine pragmatische Zurückhaltung und Distanzierung, da ihnen andernfalls das Gefühl der Aufdringlichkeit vermittelt wird. Dagegen schildern die befragten Personen während der Interviews offen und voller Enthusiasmus ihre positiven wie auch negativen Erfahrungen mit Polyamory, was zu der Annahme führt, dass ein Austausch darüber von ihnen generell willkommen geheißen wird.

Ähnlich wie Thomas, macht auch Katja ihr »Outing« davon abhängig, wie wichtig ihr der/die Gesprächspartner_in ist. Sie hat aus einer andauernden defensiven Position gegenüber ihren Eltern gelernt dem Zweifel anderer mit einer Gegenfrage zu begegnen:

Katja: »Ich stelle dann einfach diese ganz simple Frage: "Also, schau mich an und überlege. Schau mal, ob ich glücklich oder unglücklich bin. Und schau mal, wie es vorher war, in den anderen Beziehungen, wie es mir damals ging. Und du kannst es dir selber ja überlegen, was mir gerade gut tut oder eben halt nicht." «

Damit führt Katja ihr Gegenüber in eine von sittlichen Werten unabhängige Position zur Beurteilung ihres Wohlempfindens, welches sie zum alleingültigen Maßstab des Urteils über ihre Beziehungspraxis erhebt.

Die polyamoröse Beziehungsform kann auch zu ganz einfachen Irritationen im Umfeld führen. Judith berichtet über Schwierigkeiten im Freundeskreis, wenn beispielsweise jemand nicht einschätzen kann, welcher/welche Partner_in zusammen mit ihr eingeladen werden soll. Judith ist es dabei wichtig, dass ihre Beziehungsform dahingehend anerkannt wird, dass ihre Partner_innen auch von anderen als gleichwertig aufgefasst werden.

Was den Umgang Außenstehender mit der Präsenz von Mehrfachbeziehungen in der Öffentlichkeit angeht, war aus dem Interview mit Judith eine Verschiedenheit der Reaktionen abhängig von der Größe der Stadt herauszulesen. Die Akzeptanz wuchs mit der Größe bis hin zur Nicht-Beachtung des Händchen haltenden Trios in Berlin, während die Blicke von Dorfbewohner_innen sie zum Unterlassen brachten.

Die Präsenz von Polyamory in der Gesellschaft als mögliche und legitime Beziehungsform ist den Befragten ein großes Anliegen, das sie womöglich auch wesentlich zur Teilnahme an vorliegender Erhebung bewog.

Judith: »Ich hätte davon gerne schon früher gewusst. Also konzeptionell habe ich dieses Treuekonzept so mit 14 angefangen anzuzweifeln, weil das für mich keinen Sinn ergab. Und ich hätte gerne in der Schule über andere Lebensformen erfahren in dem Moment, wo irgendwie Sexualkunde und ein bisschen auch Homo- und Heterobeziehungen besprochen werden – vielleicht auch später erst in Ethik – und gesehen, dass es noch viel mehr Arten und Weisen gibt zu leben und mit anderen Menschen und mit Kindern und mit älteren Menschen… Und das sagt einem immer keiner und keiner wirft solche Begriffe in die Runde, unter denen man mal im Internet ein bisschen guckt oder ein bisschen lesen oder irgendetwas kann.«

Judith und Daniel äußern deutlich ihren Wunsch nach Akzeptanz am Ende der Interviews als sie um eine Ergänzung gebeten werden:

Daniel: »Ich glaub, was mir wichtig ist, wenn du mich jetzt einfach so fragst – meine erste Reaktion war: Wir haben eigentlich schon über ziemlich vieles geredet und mir fällt gerade nichts ein. Aber das Wichtige ist eigentlich, dass so die Idee, die dahinter steckt, dass die besser in der Gesellschaft kommuniziert werden müsste. Also im Sinne von, dass es bekannter wird, was Polyamory ist. Und zwar nicht so als Bildzeitungseffekt, sondern was es wirklich ist und was es bedeuten kann und was die Realität davon ist. Und, dass die Gesellschaft auch besser lernt damit umzugehen.«

Fazit & Ausblick

Polyamory ist eine Beziehungsform, die aus unterschiedlichen Perspektiven gelebt und erlebt werden kann. Die individuellen Zugänge, Handlungsgründe und Empfindungsweisen verdeutlichen, dass Polyamory durchaus als alternatives Beziehungsmodell praktiziert wird, welches seinen eigenen – von den Akteur_innen selbstständig justierten – Regeln folgt. Diese Regeln gründen übergreifend auf einer offenen, wenn auch aufwendigen Kommunikation, die von den Interviewten als oberste Prämisse betrachtet wird, und zielen letztlich auf ein harmonisches »Miteinander« ab, das die Berücksichtigung der Gefühle und Bedürfnisse aller Beteiligten zur Grundlage und Orientierung hat. Die größte Herausforderung bilden hierbei verschiedene Ansprüche bezüglich gemeinsam verbrachter Zeit, die im Zusammenhang mit dem jeweiligen Stellenwert der Personen stehen können. Auch im Hinblick auf die Zukunft können die Vorstellungen der einzelnen Partner_innen variieren und eventuell zu Konflikten führen. Ebenso wie gemeinschaftliche Räume, die eine Auslotung von Regeln abverlangen, um eine Verarbeitung negativer Gefühle zu ermöglichen. Eine Beschäftigung mit diesen Gefühlen dient den Befragten wiederum zur Einsicht in eigene Bedürfnisse bis hin zu der Auseinandersetzung mit persönlichen Schwächen. Diese Selbstreflexion wird von allen Befragten als persönliche Weiterentwicklung geschätzt.

Das Verhältnis zum Umfeld wird aufgrund der Erfahrung, dass das Darstellen der polyamorösen Beziehungspraxis gegenüber Außenstehenden meist mit Aufwand oder Problemen einhergeht, als distanziert erlebt. Die Erfahrung mit den Reaktionen anderer führt zu einem Zurückhalten der vollen Wahrheit, was als eine Art Kompromiss zwischen der Erwartungshaltung anderer und dem eigenen Mitteilungsbedürfnis aufgefasst wird. Besonders negative Erlebnisse werden derweil im engsten Umfeld und damit oftmals im Zusammenhang mit Verwandtschaft erfahren. Demgegenüber wird die eigene Präsenz in der Öffentlichkeit als genussvoll beschrieben. Der Wunsch besteht darin sowohl in der gesellschaftlichen als auch in der medialen Öffentlichkeit präsent sein zu dürfen, ohne mit Rechtfertigungen oder einem verfälschten Bild konfrontiert zu werden. Zudem ist eine breitere Kenntnisnahme der Beziehungsform den Befragten ein Anliegen, welches vornehmlich dem Umstand geschuldet ist, dass aufgrund ihrer Überzeugung und Zufriedenheit mit dem Konzept ein Bedauern besteht, es nicht früher und unabhängig von subjektiver Erfahrung kennen gelernt zu haben.

Im Vordergrund des Erlebens von Polyamory als Beziehungsform stehen eindeutig Gefühle, die den Befragten Sicherheit und gleichzeitige Freiheit im Sinne einer Handlungs- und Empfindungsautonomie vermitteln. So wird die Erweiterung von Beziehungspartner_innen als Absicherung und Stütze erfahren, wie auch als Ausweitung der eigenen Gefühlswelt. Ebendiese Ausweitung findet bezüglich der Verhältnisse zu mehreren Partner_innen statt, sowie auch hinsichtlich des Zugeständnisses an sich, weitere Beziehungen führen zu können. In diesem Zusammenhang wird von Liebe und dem Verlieben gesprochen. Dies verleitet mich zu der Annahme, dass Liebe im Zusammenhang mit dem Beziehungskonzept Polyamory weniger als eine bestimmte Form von Beziehung erfahren wird, sondern vornehmlich als Legitimation eine erweiterte Gefühlswelt zu entwickeln und zu erfahren, welche nicht nur auf dem Verhältnis zu Einzelnen beruht: Besonders die Beachtung der Gesamtheit involvierter Emotionen scheint neue Empfindungsebenen zu eröffnen. Gleichzeitig bildet die Berücksichtigung dieser Menge an Empfindungsweisen die größte Herausforderung, die die Interviewten trotz steter Verweise auf die Komplikationen mit Überzeugung und merklicher Zufriedenheit in Kauf nehmen.

Besonders interessant ist, dass entgegen einer der Untersuchung vorangegangenen Annahme, Sexualität eine untergeordnete Rolle zu spielen scheint. Demnach wird sie vornehmlich zur Unterscheidung von rein freundschaftlichen Beziehungen herangezogen. Das Erleben von Sexualität bewegt sich somit auf einer Ebene mit dem generellen Ausleben von Interessen, wodurch die mit der Beziehungsform einhergehende Zunahme der Möglichkeiten im Vordergrund des Erlebens steht. Eine gewisse Tendenz ist dahingehend abzulesen, dass mit der Entfernung zwischen den Partner_innen weniger Verbindlichkeit vorhanden ist, während der Stellenwert der Sexualität zuzunehmen scheint.

Sexualität wird als Teil von Handlungsräumen deutlich, in deren Vordergrund jedoch die Erfahrung autonomer Lebensgestaltung und damit einhergehender Empfindungserweiterungen steht.

Es ist jedoch unabdingbar bei der Betrachtung der »Autonomiespielräume« (Vgl. Pieper/Bauer 2005, S. 68) hinzuzufügen, dass diese sich nicht jedem gleichermaßen eröffnen, da sie an strukturelle Bedingungen gebunden sind:

»Handlungsspielräume können je nach Geschlecht, Sexualität, regionale und kulturelle Gegebenheiten [sic!], Alter, Bildung, körperlich-geistige Befähigung sowie biographischer Erfahrungen differieren. Gleichzeitig kann jede Lebensform, die nicht im Zentrum des Möglichkeitsraumes angesiedelt ist, die nicht der gesellschaftlich vorherrschenden und (sub‑)kulturell anerkannten Linie entspricht, von denen, die sie leben, subjektiv jedoch unterschiedlich erlebt werden: selbstbewusst als stärkend und befreiend, aber auch negativ-abweichend als belastend und verunsichernd. Sicherlich kommt der gesellschaftlichen und im sozialen Umfeld erfahrenen Achtung und Wertschätzung der Vielfalt an Lebensform dabei große Bedeutung zu.« (Hartmann 2001, S. 27f)

Im Vordergrund der Wahrnehmung der Befragten scheinen biographische Erfahrungen zu stehen, während andere, strukturelle Bedingungen wenig Beachtung finden. Es sind jedoch vielleicht ebendiese Voraussetzungen, die den Unterschied ausmachen, ob jemand Polyamory als »stärkend« und »befreiend« oder aber als »belastend« und »verunsichernd« erlebt. Eine geringe Beschäftigung mit ebendiesen Faktoren ist in Anbetracht individueller Herausforderungen der Lebensführung sowie deren Einbettung in das unmittelbare soziale Umfeld nachvollziehbar.

Die Funktion einer wissenschaftlichen Erschließung dieser alternativen Beziehungsform kann folglich eine doppelte sein, indem sowohl die gesellschaftliche Aufklärung darüber, was Polyamory bedeutet, vorangetrieben und gleichzeitig auch ein Hauptaugenmerk auf die Überprüfung ihres ethischen Anspruches gelegt wird.

Für weitere Forschungen gilt es demzufolge beispielsweise gezielt Personen mit negativen Erfahrungen aufzusuchen, da diese vermutlich nicht innerhalb der offiziellen Polyamory-Szene zu finden sind.

Obwohl die Ergebnisse nicht als repräsentativ betrachtet werden können und für eine genauere Untersuchung polyamoröser Lebenswelten erweiterte Forschungen vonnöten sind, konnten durchaus erkenntnisreiche Einblicke in individuelle Lebenswirklichkeiten polyamorös lebender Menschen und damit in die mit dieser Beziehungsform einhergehenden Erfahrungs- und Handlungsweisen gewonnen werden, deren weitere Erschließung in Anbetracht des steigenden wissenschaftlichen Interesses an Polyamory mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.

Ich schließe mich der Hoffnung meiner Interviewpartner_innen an, die darin besteht, dass durch die wissenschaftliche Erforschung die Wahrnehmung und Akzeptanz von Polyamory in der Form gefördert wird, in der sie erlebt wird: als eine individuelle, wenn auch komplexe Beziehungsform, in deren Vordergrund die Erweiterung von Gefühls- und Handlungsdimensionen steht.

Literatur

Easton, Dossie; Hardy, Janet W. (2009): The Ethical Slut. A practical guide to polyamory, open relationships, other adventures. New York (Celestial Arts)

Hartmann, Jutta (2001): Vielfältige Lebensweisen. Eine Studie zur Dynamisierung der Triade Geschlecht – Sexualität – Lebensform und zur Entwicklung einer kritisch-dekonstruktiven Perspektive in der Pädagogik. Berlin (unv. Diss. Universität Berlin)

Pieper, Marianne; Bauer, Robin (2005): Polyamory & Mono-Normativität. In: Laura Méritt; Traude Bührmann; Nadja Boris Schefzig (Hg.): Mehr als eine Liebe. Polyamouröse Beziehungen. Berlin (Orlanda), S. 59–70

Über die Autorin

Marta Mazanek

Marta Mazanek, Jahrgang 1986, studierte Empirische Kulturwissenschaft und Philosophie in Tübingen, wo sie derzeit lebt und arbeitet. Zum Thema Polyamory veranstaltet sie Vorträge und Workshops.

E-Mail: mazanek@gmx.de