poly werden
Oder: Warum es dem Begehren an nichts mangelt

Gesa Mayer

Zusammenfassung

Nichtmonogames, auch polyamores, Begehren wird oftmals als Ursache oder Effekt eines Mangels verstanden. Der Beitrag situiert diese Logik des Mangels innerhalb von Mono-Normativität, der gesellschaftlichen Privilegierung sexuell und affektiv exklusiver Zweierbeziehungen. Anhand narrativer Interviews wird gezeigt, wie sich der Mangel-Diskurs auch in polyamore Beziehungen einschreibt. Anschließend wird die mono-normative Mangel-Ökonomie – basierend auf Interviews sowie den Arbeiten von Gilles Deleuze und Félix Guattari – mit einer Lesart polyamorer (und sonstiger) Beziehungen als agencement, als Gefüge des Begehrens kontrastiert. Aus dieser Perspektive sind (Poly‑)Begehren und Affekte als Prozesse der Produktion des Sozialen interpretierbar, denen es an nichts mangelt. Auch stellen sich die Poly-Beziehungen der Interviewten nicht als statische, identitäre Gebilde dar, sondern als im Werden begriffen. In einem Ausblick werden einige weitergehende Forschungsfragen skizziert, die eine ausführlichere Studie zu Polyamory als agencement aufnehmen könnte.

Schüsselwörter: Affekt, agencement, Begehren, Mangel, Mono-Normativität, Polyamory, Werden

Keywords: affect, agencement, becoming, desire, lack, mono-normativity, polyamory

Summary

Nonmonogamous, including polyamorous, desire is frequently understood as being a cause or effect of lack. The article situates this logic of lack within mono-normativity, the socially privileged status of sexually and affectively exclusive couple relationships. Drawing on narrative interviews, it is shown how the discourse of lack also extends into polyamorous relationships. Subsequently, based on the interview data as well as on the works of Gilles Deleuze and Félix Guattari, the mono-normative economy of lack is contrasted with a reading of polyamorous (and other) relationships as agencement, as assemblages of desire. From this perspective, (poly‑)desire and affects can be interpreted as production processes of the social that do not lack anything. In addition, the interview partners’ poly-relationships do not present themselves as static, identity-defining structures but as becomings. In an outlook, some further research issues are sketched which might be taken up by a more detailed study on polyamory as agencement.

Schüsselwörter: Affekt, agencement, Begehren, Mangel, Mono-Normativität, Polyamory, Werden

Keywords: affect, agencement, becoming, desire, lack, mono-normativity, polyamory

Einleitung

»Dann liebst du ihn wahrscheinlich nich’ wirklich, wenn du noch an einem Zweiten Interesse hast.« Diesen Kommentar bekommt Sina 1 nicht selten zu hören, wenn sie anderen gegenüber erwähnt, dass sie polyamor lebt und nicht nur mit Torsten, sondern zugleich auch mit Felix zusammen ist. Derartige Sprüche speisen sich aus einer »Logik des Mangels« (Mayer 2014), nach der nichtmonogames Begehren Effekt und/oder Ursache eines Defizits sei. Die Mangel-Logik bildet ein Grundelement von »Mono-Normativität« (Pieper/Bauer 2005; vgl. Barker/Langdridge 2010; Mayer 2011), jenes gesellschaftlichen Macht-Wissens-Gefüges, das eine »eindeutig dyadische Gestalt der Liebe« (Tyrell 1987, S. 590) postuliert und gleichzeitig Begehrensformen, die in affektiver und/oder sexueller Hinsicht den Exklusivitätsanspruch der Paarbeziehung infrage stellen, marginalisiert. Wird nichtmonogames Begehren als Effekt eines vorgängigen Mangels verstanden, könnte die obige Äußerung in etwa übersetzt werden als: Weil es in deiner einen Beziehung bereits an Liebe fehlte, hast du ersatzweise Interesse an einem Zweiten entwickelt. Oder: Da du nicht fähig bist, einen Menschen wahrhaftig und vollständig zu lieben, hast du Interesse an einem Zweiten. Oder auch: Dein Freund scheint ja nicht besonders liebenswert zu sein, wenn du noch an einem Zweiten Interesse hast. Wird nichtmonogames Begehren dagegen als Ursache eines Mangels interpretiert, stände das Eingangszitat für Folgerungen wie: Wenn du noch an einem Zweiten Interesse hast, dann führt das dazu, dass es in deiner anderen Beziehung an Liebe fehlt. Oder: Wenn du noch an einem Zweiten Interesse hast, dann entziehst und vorenthältst du einem oder jedem Partner einen Teil deiner Liebe. Für Sina 1 jedenfalls ist es empörend, die mono-normative Mangel-Logik auf sich und ihre Beziehungspraxis projiziert zu sehen: »Was fällt denen eigentlich ein, hier mit ihrer Küchenpsychologie über die Tiefen meiner Gefühle und die Qualitäten meiner Beziehungen zu spekulieren?«

Anhand von Auszügen aus »narrativen Interviews« (Schütze 1987) mit Sina, Felix und Torsten möchte ich in diesem Beitrag zunächst der alltäglichen Wirkmächtigkeit mono-normativer Mangel-Logik nachspüren. Dies kontrastiere ich mit den agencements des Begehrens und der Produktivität der Affekte, wobei ich mich auf Gilles Deleuze und Félix Guattari in Verbindung mit den Erfahrungen meiner Interviewpartner_innen beziehe. Ein agencement (engl. etwas missverständlich übersetzt als assemblage, vgl. Phillips 2006) ist ein dynamisches Gefüge des Begehrens, das »sehr heterogene Elemente zusammenhält, einen Ton, eine Farbe, eine Geste, eine Position usw., Natürliches und Künstliches« (Deleuze 2005, S. 171, Hervorh. i.O.). Als agencement und Affektionsketten verstanden, sind polyamore (und andere) Beziehungen stets im Werden begriffen: sie verwandeln sich und die, die daran teilhaben.

Die insgesamt fünf narrativen Einzelinterviews, die ich hier heranziehe, sind je ein Interview mit Felix und Sina aus 2011 (hier zitiert als Felix 1 bzw. Sina 1), je ein Folgeinterview aus 2013 (hier Felix 2 bzw. Sina 2) sowie ein Interview mit Torsten aus 2012. Sie sind Bestandteile eines Samples von bisher 14 narrativen Interviews, die ich im Rahmen meines soziologischen Dissertationsprojekts mit Menschen geführt habe, die auf verschiedenste Weisen nicht-monogam leben bzw. begehren. Die Auswertung erfolgt auf Basis eines agencement-analytischen Zugangs (Pieper/Haji Mohammadi 2013) mithilfe des Kodierverfahrens nach Grounded Theory (Strauss/Corbin 1996). Alle Namen sind anonymisiert. Ich danke Sina, Felix und Torsten – wie all meinen Interviewpartner_innen – für die Gabe ihrer Geschichten. Dank auch an die beiden mir unbekannten Peer Reviewer_innen sowie an Christian Schütze und Till Telake für gewinnbringende Anmerkungen zur Erstversion dieses Textes. Mirco und Robin danke ich sehr dafür, dass ich schreiben durfte und fluchen, alles hinschmeißen, lachen und wieder schreiben usw. usf.

Selbstverständlich beansprucht mein Interpretationsversuch weder übergreifende Gültigkeit für polyamor Lebende, noch möchte ich eine Erfolgsgeschichte über Menschen erzählen, die 'schlechte' Mono-Normativität zugunsten 'guter' Polyamory hinter sich gelassen hätten. Monogamie, informelle und einvernehmliche Nichtmonogamie weisen oft größere diskursive und alltagspraktische Überschneidungen auf, als ihnen lieb ist, und auch Polyamory kann normative Elemente beinhalten und ist nicht frei von Machtverhältnissen und Hierarchien (vgl. Mayer 2011). Gleichwohl affiziert mich die 'Großherzigkeit' des Polyamory-Konzepts, und meine Sympathie für einvernehmlich nichtmonogame Lebensformen ist zweifellos auch in diesen Text eingeschrieben. Er sollte weniger als Wahrheitsproduktion gelesen werden denn als agencement und Experiment: Was entsteht, wenn ein Laptop, Interviewtranskripte, Frühling, eine Kanne Kaffee, poststrukturalistische Theorie, Strom, eine nahende Abgabedeadline, Musik aus dem Nebenzimmer und Teile von Gesa aneinander andocken? Und was passiert, wenn sich das alles mit den Mannigfaltigkeiten der Lesenden verbindet?

»dann kommt dieser Defizit-Einwand« – Mangel als Ursache nichtmonogamen Begehrens

»In der Dreiecksbeziehung haben alle Beteiligten Angst vor Nähe und echter Bindung. Keiner kommt auf seine Kosten. Alle sind gefangen im Entweder-oder. Und eine Dreiecksbeziehung kann nur dann entstehen, wenn die ursprüngliche Zweierbeziehung innerlich ausgehöhlt ist.« (Zurhorst 2008, o.S.)

So verkündet es »Beziehungsberaterin« Anna Maria Zurhorst unter Punkt 1 der »Zehn Wege durchs Dreiecksdilemma«, die sie online im Focus-Magazin präsentiert. Zurhorsts Aussage steht hier stellvertretend für viele weitere Ratgeber (z.B. Jellouschek 2003 oder »Informationsportale« wie untreue.at)[1], die jedwede Form der Nichtmonogamie – ob einvernehmlich oder nicht – einem vorgängigen Mangel anlasten. Dieser könne entweder in Gestalt von Defiziten der Beteiligten vorliegen, die zu wahrer Intimität, Verlässlichkeit, Hingabe usw. nicht fähig seien. Oder der Beziehung zwischen zwei Menschen fehle es (mittlerweile) an grundlegenden Zutaten wie 'gutem' bzw. 'angemessen häufigem' Sex, gemeinsamen Interessen, Kommunikation, dem Prickeln der ersten Verliebtheit etc. In die Vakanzen der maroden Zweierbeziehung könne sich dann eine dritte (und ggf. vierte, fünfte...) Person einnisten.

Die mono-normative Mangel-Theorie rekurriert auf eine traditionsreiche westliche*[2] Diskursformation, nach der Begehren produziert und getrieben werde durch den Versuch, einen Mangel im Subjekt aufzufüllen. Sie äußert sich u.a. in Platons (2008) Mythos von den zweigeteilten Kugelmenschen und, aktueller, in der psychoanalytischen Theorie Jacques Lacans (z.B. 1996).[3] Stets lautet die Devise: Begehren wird hervorgebracht durch etwas, das fehlt (vgl. Deleuze/Guattari 1977, S. 34ff.; 1992, S. 221ff.; Grosz 1994). Das Motiv des ungestillten Begehrens als Motor aller Handlungen durchzieht auch den Diskurs der romantischen Liebe – doch winkt hier das Happy End einer finalen Ganzwerdung, wenn beispielsweise Friedrich Schlegel (2013, S. 64) in seinem diskursprägenden Roman Lucinde von 1799 erklärt, dass »die Liebe es ist, die uns erst zu wahren vollständigen Menschen macht«. Anthony Giddens (1993, S. 56) stellt daher bezüglich des Liebes- und Subjektentwurfs der Romantik fest: »Der oder die andere füllt allein durch das, was er ist, einen Mangel aus […]. Und dieser Mangel hat direkt mit der Identität zu tun: In einem bestimmten Sinn wird das vorher unvollständige Individuum nun vollständig.« Dabei handelt es sich, anders als noch bei Platon, um eine Erfüllung chronisch heteronormativen Zuschnitts: »Das höchste Erlebnisversprechen der romantischen Liebe verweist – fern von allen Dritten – auf das Einswerden von Zweien, auf das ekstatische Schwinden der Grenzen zwischen Ich und Du, wie es nur möglich ist in der 'Vereinigung von Mann und Frau'.« (Tyrell 1987, S. 589f.) Dass die heterosexuelle Matrix mittlerweile einige Risse bekommt und Menschen jedweder sexueller Präferenzen in ihrem Leben meist mehrere aufeinander folgende Beziehungen eingehen, was auch als »serielle Monogamie« (Schmidt et al. 2006) bezeichnet wird, zwingt die romantische Erzählung zwar zu einigen Modulationen, tut der Mangel-Logik zunächst aber keinen Abbruch – schließlich sucht das 'unbefriedigte' Begehren weiter, bis es die oder den Richtige_n gefunden hat, die oder der keine Wünsche mehr offen lässt.

»Und wenn man das dann sagt, dass es ’n Vorteil is’, dass nich’ mehr alles von einer Person geleistet werden muss, weil man auch glaubt, dass das nich’ geht, dass eine Person nich’ immer alles leisten kann, dann kommt halt dieser Defizit-Einwand.« (Sina 1; Unterstreichungen kennzeichnen hier und im Folgenden besondere Betonungen der Interviewten)

Zum Zeitpunkt unseres zweiten Interviews lebt Sina seit sechs Jahren mit Torsten und seit vier Jahren mit Felix in einer »polyamoren Beziehung« (Felix 1+2), wobei Torsten der Verbindung »kein Label geben« möchte, um nicht unversehens von ihm abgelehnte Beziehungsnormen zu importieren. Torsten und Felix kennen und schätzen einander, es verbindet sie eine lockere, nicht-erotische »Freundschaft« (Felix 2). Beide haben mit Sinas Einverständnis ab und zu freundschaftlich-sexuelle Kontakte zu anderen Personen, von denen bislang keine_r den Status einer festen Beziehung erlangt hat. Dies wäre aber vom Konzept her durchaus möglich, und auch Sina steht es offen, kurz- oder langfristig die Konstellation zu erweitern. Die Drei waren zu den Zeitpunkten der Interviews zwischen Mitte 20 und Anfang 30 Jahre alt, leben und begehren überwiegend heterosexuell, wohnen in deutschen Großstädten nicht in gemeinsamen Haushalten und sind weiße* in Deutschland sozialisierte Akademiker_innen.

Der Sina entgegengebrachte »Defizit- Einwand« besagt, dass es ihren Beziehungen zu Torsten und Felix offenbar jeweils an etwas Gravierendem fehle, wenn sie sich nicht entscheiden und nicht mit einem von beiden begnügen könne. Dass es ihm an etwas Entscheidendem mangeln könnte, befürchtete anfangs auch Felix. Biographisch geprägt von »diesem romantischen Zweierbeziehungsding«, hatte er »irgendwie Minderwertigkeitsgefühle vielleicht, so nach dem Motto, okay, weil ich mir vielleicht vorstelle, er [Torsten], was weiß ich, er kann das und das besser, er is’ besser im Bett, was weiß ich« (Felix 1). Gemessen am damals als »Übergott«, der »mich in’ Schatten stellt« (Felix 2), imaginierten Torsten kam Felix sich mangelhaft vor, und auch aufseiten Sinas lokalisierte Felix Defizite, die für ihre nichtmonogame Praxis verantwortlich sein mochten. So gab es Situationen, »wo ich dann tatsächlich das so interpretiert hab, dass wenn sie jetzt bei Torsten is’, dass […] sie irgendwie herzlos is’ und ich ihr nichts bedeute, und […] sie hat irgendwie total viele Typen und ich häng’ hier alleine rum« (Felix 1). Den Verdacht, ihre polyamore Praxis zeuge von Selbstbezüglichkeit und Gefühlskälte, machte auch Sina sich zu eigen – allerdings nicht in der aktuellen, sondern in einer früheren nichtmonogamen Konstellation, als ihr Freund Piet darunter litt, dass sie auch Körperkontakt zu Torsten hatte:

»Mir ging’s schlecht, weil es ihm [Piet] damit schlecht ging und er so eifersüchtig war, und ich hab mich irgendwie scheiße gefühlt und dachte Sina, nur weil du jetzt so egoistisch bist, und reicht es dir nich’ mit Torsten zu reden, deswegen geht’s deinem Freund Piet jetzt so schlecht. Damit konnt’ ich irgendwie überhaupt nich’ leben, also haben wir die Beziehung wieder geschlossen und es war wieder ’ne monogame Beziehung.« (Sina 1)

Zu dem (Selbst‑)Vorwurf skrupellosen Eigennutzes, zu dessen Entkräftung letztlich eine Re-Monogamisierung vonnöten war, kommt mit dem »reicht es dir nich’« die Mahnung hinzu, sich zu mäßigen und zufriedenzugeben mit dem, was einer zusteht. Auch diese (Selbst‑)Disziplinierung ist eingebettet in einen mono-normativen Deutungsrahmen, von dem auch Felix zunächst nicht frei war:

»Grade so am Anfang der Beziehung mit Sina war das so, dass ich eher ab und an noch zurückgerutscht bin in so’n Interpretationsmuster aus so’ner äh mono-normativen Beziehungsform, dass ich halt dann irgendwie das ungerecht fand, dass Sina noch mit ’nem andern was hatte, oder teilweise so leichte, in so komische Vorstellungen reingerutscht bin, wie dass sie/ dass ihr vielleicht ein Mann nich’ ausreicht und dass sie dann noch mehr braucht und dass wenig Verlass auf sie is’ oder sowas in solchen Dingen.« (Felix 2)

Felix – gesellschaftlich nahegelegte – Lesart lässt einen Diskurs anklingen, der Begehren und Gender wie folgt verknüpft: »Desire, like female sexuality itself, is insatiable, boundless, relentless, a gaping hole that cannot be filled or can only be temporarily filled« (Grosz 1994, S. 71). Dabei irritiert Sina tradierte Beziehungs- und Gender-Normen, indem sie von ihrem Begehren ausgehend Poly-Beziehungen knüpft und mitgestaltet. Wie Elisabeth Grosz (1994) nachgezeichnet hat, ist das Subjekt aktiven Begehrens historisch als männlich konstruiert, während die weibliche Position als jene des Objekts des Begehrens erscheint, gekennzeichnet durch den passiven Wunsch, geliebt und begehrt zu werden. Vielleicht ist Sinas offensichtliche Durchkreuzung dieser 'goldenen Regel' der Grund, weshalb viele Frauen* in Felix 1 Bekanntenkreis Sina interessierte Anerkennung entgegenbringen. Andererseits teilen mehrere meiner Interviewpartner_innen die Erfahrung bzw. Einschätzung, dass nichtmonogam lebenden Frauen* weitaus größere gesellschaftliche Missachtung entgegenschlägt als Männern*. Die diskursive Verknüpfung von aktivem Begehren und Männlichkeit kann allerdings auch gegen poly lebende Männer* verwendet werden, wie Felix 1 deutlich macht: Als Polyamory praktizierender »Typ« hafte einem »manchmal so das Image an, […] dass man ja irgendwie nur bindungsunfähig und beziehungsunfähig is’ und irgendwie Lust hat, mit vielen Frauen zu vögeln«. Entgegen der (Über‑)Betonung des Liebesaspektes, die im Begriff Polyamory angelegt ist, wird die einvernehmlich nichtmonogame Praxis als Alibi für ein (zu) großes Interesse an (Hetero‑)Sex ohne ernste Absichten gedeutet und gescholten. So lassen sich innerhalb der Logik des Mangel-Diskurses letztlich sowohl 'weibliche' als auch 'männliche' Polyamory auf jenes persönliche Defizit herunterbrechen, das Zurhorst als »Angst vor Nähe und echter Bindung« etikettiert. Ein Unvermögen, das – ggf. im Verein mit einer morschen Zweierbeziehung – nichtmonogames Begehren entfache.

»Liebe is ne begrenzte Ressource« – Mangel als Effekt nichtmonogamen Begehrens

Zurhorsts weiter oben zitiertes Beziehungscoaching identifiziert nicht nur Bonding-Defizite und Beziehungs-Ödnis als Entstehungsgründe einer »Dreieckbeziehung«, sondern stellt auch klar: »Keiner kommt auf seine Kosten.« Wer in ein nichtmonogames Abenteuer verwickelt wird, mache definitiv ein Verlustgeschäft. Denn, so die Mangel-Logik, Nichtmonogamie zeichne stets verantwortlich für erbitterte Konkurrenz, Versorgungsengpässe und emotionale Bankrotts. Felix fasst zusammen, wie Sina ihm die mono-normative Ökonomie der Affektknappheit erläuterte:

»[E]s gibt so diese gängigen Vorstellungen, du hast irgendwie so einen Topf mit Zuneigung, oder mit Gefühlen und Liebe und so weiter, und das is’ ’ne begrenzte Ressource quasi, und wenn’s mehrere Leute, mehrere Typen gibt, mehrere Freunde oder sowas, dann kriegt beider/ beide von denen kriegen nur die Hälfte." (Felix 1, Sina zitierend)

Dass »die Hälfte« bzw. ein bestimmter Inhaltsanteil des Emotionsbehälters niemals genug sein können, erschien Felix vormals so evident, dass er eine frühere Beziehung weitgehend unhinterfragt nach diesem Grundsatz ausrichtete. Gemeinsam mit seiner damaligen Freundin vereinbarte er,

»dass wir dem andern da treu sind und da nichts mit andern Leuten, mit andern Frauen und mit andern Typen läuft. Sie hat immer gesagt 'ich teile dich nicht', oder 'ich möchte dich nicht teilen ... mit andern Frauen', und für mich war das damals auch irgendwie völlig selbstverständlich und […] ich hab das auch komplett durchgehalten oder so, ich hab da auch nichts mit andern Frauen gehabt in der Zeit und sie auch nichts mit andern, mit andern Männern.« (Felix 1)

Die Proklamation der Exfreundin richtete sich auf den 'kompletten' Felix: »'ich teile dich nicht'«. Felix durfte, zumindest in sexuell-affektiver Hinsicht, einzig für sie da sein – oder gar nicht. Hartmann Tyrell (1987, S. 586) stellt das Konzept romantischer Liebe betrachtend fest: »Wie keine andere Sozialbeziehung kreist die Liebe um das Erleben der Differenz von Anwesenheit und Abwesenheit (des Geliebten).« Die Dichotomie von begehrter An- und wertloser Abwesenheit ist eine tragende Säule logozentristischen Denkens (vgl. Derrida 2003). Bezüglich der mono-normativen Mangel-Logik kann ergänzt werden, dass es nicht nur um eine physische Präsenz der oder »des Geliebten« geht, sondern auch um die Distribution materieller Güter und – heute zunehmend wichtiger – immaterieller, affektiver Zutaten. Auch letztere gelten als endlich und knapp; werden sie einer Person zuteil, fehlen sie der oder den anderen. So gut auch gehaushaltet wird, für eine_n – oder, wenn es nach Zurhorst geht, für alle Beteiligten – wird stets zu wenig abfallen. Schlimmer noch: niemand kommt »auf seine Kosten«, d.h. bereits getätigte Investitionen rentieren sich nicht, laufende Ausgaben sind nicht gedeckt, der Nichtmonogamie Anheimgefallene lassen sich buchstäblich etwas zu Schulden kommen. Nicht zufällig wird durch Zurhorst (und andere) sprachlich eine Wirtschaftskrise evoziert. Besitzansprüche, Konkurrenzkämpfe, Gewinn- und Verlustrechnungen des Mangel-Begehrens sind auf vielfältige Weise mit den Prinzipien kapitalistischer Ökonomie verknüpft (vgl. Deleuze/Guattari 1977; Illouz 2003).

Die vorherrschende Konzeption von Liebe, Begehren, Intimität etc. als Mangelwaren im Register der An- oder Abwesenheit generiert zwei miteinander verschränkte Erfahrungen: Konkurrenz und Verlust(angst). So erklärt Felix, er habe Torsten anfangs punktuell »als Konkurrenten, als Rivalen irgendwie wahrgenommen« (Felix 2). Und Sina erlebte anlässlich einer Affäre Torstens eine »Situation von Konkurrenz, in die man sich dann eigentlich gar nich’ bringen lassen möchte, ((schmunzelnd)) aber irgendwie wegen der monogamen Sozialisation sich trotzdem gebracht sieht« (Sina 2). Eine Niederlage im Wettkampf wäre – den Spielregeln romantischer Liebe folgend – fatal: »Den ersten Platz verloren zu haben, heißt, alles, die ganze Liebe verloren zu haben. Liebt man selbst noch, liebt aber die Geliebte inzwischen einen anderen, so ist man von diesem auf der ganzen Linie verdrängt und 'beraubt'.« (Tyrell 1987, S. 581) Entsprechend umfassen die »Verlustängste« (Felix 1) neben der Befürchtung, einen geliebten Menschen (als Beziehungspartner_in) entbehren zu müssen, den Verdacht, einer_m selbst könne etwas abgepresst und gestohlen werden. So hatte Felix im Anfangsstadium der Beziehung zu Sina gelegentlich »Zweifel daran, ob ich mich nich’ […] ausnutzen lasse« (Felix 1), und auch in seinem Freundeskreis argwöhnten zunächst einige, Felix lasse sich möglicherweise »ausbeuten von Sina, die irgendwie zwei Freunde hat« (Felix 2). Einem physischen Raubbau gleich erlebte Sinas Exfreund Piet die Zeit, als Sina neben ihm auch mit Torsten zusammen war: »Piet hatte dann mal gesagt, er würde sich zwar langsam dran gewöhnen, aber eher so, wie wenn […] jede Nacht so’n kleiner Zwerg zu ihm ins Zimmer geht und ihm ’n Stück von ihm wegschneidet.« (Sina 1) Hier knüpft sich die mono-normative Mangel-Logik in doppelter Hinsicht an die Norm körperlicher Vollkommenheit und Unversehrtheit: Erstens ist die widerstrebende Zustimmung zu Sinas polyamorer Praxis als schmerzliche Opfergabe eigener Körperteile inszeniert – der Erzählung zufolge schien Piet buchstäblich sukzessive (z)erlegt zu werden. Zweitens wird seine Duldsamkeit übersetzt in die Auslieferung an eine »Terror […] und Schmerz« (Sina 1) verkörpernde Gestalt, die als »Zwerg« nicht den Standards mehrheitsgesellschaftlich als normal und erwünscht konstruierter Körperlichkeit entspricht.

Szenenwechsel: (Poly‑)agencements

Für Deleuze und Guattari, die mit ihrer »Schizoanalyse« (1977; 1992) einen leidenschaftlichen Gegenentwurf zur Psychoanalyse vorlegen, lautet die Frage nicht: Was fehlt dem Begehren? Sondern: Was tut es – wie strömt es durch uns und alles hindurch und was entsteht daraus? Aus dieser Perspektive »beinhaltet Begehren keinen Mangel; es ist auch keine natürliche Gegebenheit; es ist nichts anderes als ein Heterogenen-Gefüge [agencement d’hétérogènes], das funktioniert« (Deleuze 1996, S. 31; Einfügung des frz. Originalbegriffs von G.M.). Die Produktivität des Begehrens liegt darin, fortlaufend »Fluchtlinien« entstehen zu lassen, entlang derer sich das gesellschaftliche Feld und, als Teile dieses Feldes, monogame, offene, polyamore... Beziehungen konstituieren und verändern. Begehren ist/macht agencement, eine Verkettung-Durchschreitung unterschiedlichster diskursiver Praktiken und Materialitäten auf derselben Ebene:

»Was ich als Verkettung [concatenamento, agencement] definiere, ist weder Subjekt noch Objekt, sondern – man braucht einen Begriff für ‘mitten durchgehen’ – eine Maschine in beiden, der semiotischen Ordnung und der Ordnung der Äußerungen, aber auch in der Montageanordnung der materiellen und sozialen Flüsse, der ökonomischen Flüsse usw. In den Verkettungen gibt es Wort, Augen, Mund, Geld, Elektrizität, Körper, Autos und andere Sachen.« (Guattari 1978, S. 61f.; Einfügung der ital. + frz. Originalbegriffe von G.M.)

Vassilis Tsianos und Marianne Pieper (2011, S. 124f.; vgl. Pieper/Haji Mohammadi 2013; Pieper/Wiedemann 2014) skizzieren eine mögliche Operationalisierung des agencement- bzw. Assemblage-Konzepts für sozialwissenschaftliche Forschung. Sie schlagen vor

»mit dieser theoretischen Figur die Verbindungen zwischen Wissensproduktionen und Machttechnologien, juristischen Regelungen, institutionellen Strukturierungen, situativen Gelegenheiten, Affekten und einer Vielheit der menschlichen und nichtmenschlichen Akteur_innen und deren sich wandelnde mikrosoziale Praxen in die Analyse einzubeziehen.«

Um das Potenzial polyamoren Begehrens herauszuarbeiten, die mono-normative Mangellogik zu durchkreuzen und situativ auszuhebeln, konzentriere ich mich im Folgenden auf mikrosoziale Praktiken, produktive Affektionen und Werdens­prozesse meiner Interviewpartner_innen, und streife dabei auch ihre Verbindungen zu »nichtmenschlichen Akteur_innen«. Dabei ist mir bewusst, dass auch polyamore Konnexionen des Begehrens sich nicht jenseits von »Dispositiven der Macht« (Foucault 1978) bewegen, die jedes agencement mitformieren (vgl. Deleuze 1991; 1996; Legg 2011). Wie bereits deutlich wurde, bleiben meine Interviewpartner_innen keineswegs verschont von mono-normativen Wissensproduktionen und Affektmodulationen. Hinzu kommt, dass mono-normative juristische Regelungen beispielsweise darüber bestimmen, welche Lebensformen rechtlich als Familien anerkannt sind: Sollten Sina, Felix und Torsten, wie sie es für die Zukunft in Erwägung ziehen, (mindestens) zu dritt Eltern werden, so sähen sie sich – zumindest derzeit in Deutschland – mit einer zutiefst mono-normativen Gesetzeslage konfrontiert, die eine elterliche Sorge von mehr als zwei Personen nicht kennt und Poly-Familien diskriminiert.[4] Und selbst wenn Mono-Normativität partiell unterlaufen wird, können sich gesellschaftliche Machtverhältnisse – wie etwa ungleiche Geschlechterverhältnisse, rassistische oder altersbezogene Diskriminierungen, sozio-ökonomische Hierarchien, Schönheits- und Körpernormen bzw. Konstruktionen von Krankheit und Behinderung – auch in der Ausgestaltung von dem Anspruch nach einvernehmlichen nichtmonogamen Beziehungen und Kontakten aktualisieren (vgl. Bauer 2014).

»dass Zuneigung irgendwie wächst« – Affektproduktion

Wenn Deleuze und Guattari (1976, S. 78) Begehren »nicht als Mangelgefühl« auffassen, dann schon deshalb, weil sie Begehren als »Affekt, im Gegensatz zu Gefühl« (Deleuze 1996, S. 31) begreifen. Dabei beziehen sie sich auf Spinozas (2011, S. 223) Philosophie der »Affektionen des Körpers, durch welche die Wirkungsmacht des Körpers vermehrt oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird«. Mindestens drei Aspekte am spinozistischen Affektbegriff sind für meine Interviewlektüre von Interesse. Erstens sind dies die Prozesshaftigkeit und die transformative Kraft, die Affekten zugesprochen werden. Spinoza (2011, S. 339) bezeichnet Affekte als »Vorgang […] eines Übergehens« zu veränderten Existenzkräften und Tätigkeitsvermögen, daran anschließend formulieren Deleuze und Guattari (1992, S. 349): »Affekte sind Arten des Werdens.« Zweitens handelt es sich um eine agencement-theoretische, nicht Subjekt zentrierte Theorie von Affekt und Konnektivität: Zwar wird die Passage zu veränderter »Wirkungsmacht des Körpers« gefühlt und wahrgenommen (vgl. Massumi 2010, S. 70). Die Perspektive richtet sich jedoch weniger auf ein präexistentes Subjekt als Sitz eines Gefühls, sondern auf Relationen, auf »Vermischungen, Durchdringungen und Erweiterungen, die alle Körper durch die Beziehung zu anderen Körpern beeinflussen« (Deleuze/Guattari 1992, S. 126). Jeder Körper (im weitesten Sinne des Wortes) vermag zu affizieren und affiziert zu werden. Was gewöhnlich als Subjekt und Objekt des Begehrens geschieden wird, sind hier »zwei Seiten derselben Medaille. Es gibt eine Affektion und diese ereignet sich im Dazwischen.« (Massumi 2010, S. 69) Drittens – und für ein die mono-normative Mangel-Logik infrage stellendes Begehrensverständnis besonders instruktiv – wird das Streben nach Affektion nicht auf einen Mangel zurückgeführt: »Dies ist die große Idee Spinozas: niemals fehlt euch etwas. Eure Macht affiziert zu werden wird auf jegliche Weise ausgefüllt. In keinem Fall drückt sich etwas als Mangel aus oder ist niemals darin begründet, sich als Mangel auszudrücken.« (Deleuze 1981, o.S.; vgl. Spinoza 2011, S. 339)

In den Interviews sehe ich Hinweise auf transformative Affektionen, die nicht – oder zumindest nicht in erster Linie – aus einer Mangelsituation hervorgehen, beispielsweise in Sinas Erfahrung, dass »immer, wenn der jeweils zweite interessante Mann auftauchte, meine Beziehungen irgendwie glücklich waren und florierten, […] ich hab nichts gesucht, sie sind mir halt einfach begegnet und ich dachte, wow, spannend, will ich kennen lernen.« Zwar sei es » immer so, dass es irgend’ne Facette gibt an ’ner Beziehung, die irgendwie noch toller sein könnte«, doch das »heißt nich’, dass da ’n riesen Defizit bestünde oder man ’ne zweite Person braucht, um das auszugleichen« (Sina 1). Von mehr als einer Person affiziert zu werden, kann – ohne auf das Auffüllen vermeintlich bestehender Leerstellen reduzierbar zu sein – eine Erweiterung des eigenen Handlungsspielraums gestatten. Ein dazu von Sina 1 angeführtes Beispiel ist »Pärchenurlaub«: Im Gegensatz zu Sina verreist Torsten nur ungern zu zweit. Daher profitieren Sina und Torsten davon, dass Sina nun mit Felix in den Urlaub fahren kann (und ein andermal zusammen mit Torsten und mehreren anderen Freund_innen inklusive Felix). Im Vordergrund steht hier eher eine Vermehrung der Tätigkeitsoptionen als eine Mangel-Kompensation. Zudem kann sich Affektion ohne Rekurs auf einen vorgängigen Mangel im Zusammentreffen mit situativen Gelegenheiten ereignen. So erzählt Felix 2, wie er auf einer Party, in Sinas Beisein und mit ihrem Einverständnis, einen Freund küsste. Dass »dieser Wunsch auf[kam], Timo zu küssen, und bei Timo halt auch«, war nicht zuletzt »aus der Stimmung des Abends heraus entstanden«. An der Herstellung einer Atmosphäre, die zum Küssen einlädt, ist eine Vielzahl menschlicher und nichtmenschlicher Akteur_innen beteiligt, ohne dass hierfür ein Mangel aufseiten von Sina, Felix oder Timo verantwortlich zu machen wäre.

Auch die zweite Variante der Mangel-Logik, nach der Nichtmonogamie bzw. Polyamory zwangsläufig eine Mangelsituation erzeugen, findet keinen Rückhalt (mehr) in den Erfahrungen meiner Interviewpartner_innen. So setzt Felix dem Container- und Knappheits-Modell des Begehrens seine Erfahrung entgegen, dass sich Affekte proportional vermehren können:

»[D]as war was, woran ich mich erst mal gewöhnen musste, […] dass sowas wie Zuneigung halt einfach keine sozusagen begrenzte Ressource is’, die zur Neige geht je mehr Leute da sind, sondern eher was is’, was irgendwie wächst. Auch je mehr Menschen da sind.« (Felix 1)

Mit der Produktivität der (potenziell unbegrenzten) Affektionen erübrigen sich Verlustangst und Konkurrenz um eine vormals als rar und umkämpft gedachte Gunst: »wir konkurrieren nicht beide um denselben Topf Zuneigung. […] [I]ch freu mich mittlerweile darüber, wenn ich ihn [Torsten] sehe und [...] betrachte ihn jetzt irgendwie nicht mehr als Konkurrenten oder so, als Bedrohung« (Felix 1). Die Aufhebung von Rivalität koppelt sich bei Sina, Torsten und Felix daran, dass es zwischen den beiden Männern* keine Hierarchie gibt, da beide gleichberechtigt und gleichrangig mit Sina zusammen sind. Ich habe jedoch auch Menschen interviewt, die Polyamory mit Primär- und Sekundärbeziehungen leben und ebenfalls weitgehend ohne Mangel-Logik auskommen.

Die Möglichkeit, mehreren zugleich zugeneigt zu sein, untergräbt die mono-normative Dichotomie affektiver An- und Abwesenheit. Felix kann sich jederzeit bei Sina melden – auch wenn sie sich gerade bei Torsten aufhält, denn das bedeutet nicht, »dass irgendwie das Gefühl für dich [Felix] dann auf einmal nich’ mehr relevant is’, oder sowas. Sondern es is’ trotzdem da, du bist trotzdem da« (Felix 1, Sina zitierend). Ein weiteres Beispiel dafür, wie affektive Ko-Präsenz mono-normative Exklusivitäten durchkreuzt, gibt Sina 2, die es schätzt, wenn Felix und Torsten »sich abends ab und an noch mal melden, auch wenn klar is’, die andere Frau is’ jetzt sozusagen grade da, das gibt mir irgendwie das Gefühl, dass ich aus der ganzen Situation nich’ vollkommen ausgeschlossen bin«. Konkret heißt das,

»dass es schön is’, wenn ich zwischendrin ’ne SMS bekomme. Da steht dann nich’ drin 'wir haben grade die und die sexuelle Praktik vollzogen', sondern 'hey, hoffe dir geht’s gut, hab grad an dich gedacht. Bis morgen am Telefon.' Schöner/ netter Smiley oder so. Und das alleine gibt mir schon das Gefühl, dass ich jetzt nich’/ dass sie nich’ [nicht] mehr an mich denken, das is’ zum Beispiel ’ne ganz konkrete Handlung [...], die die Situation irgendwie sofort verbessert.« (Sina 2)

Das Mobiltelefon und der »Smiley« auf dem Display sind in dieser Erzählung nicht einfach Boten, sie haben als nichtmenschliche Akteur_innen aktiv Teil am Poly-agencement, sie gestalten die Situation, Sinas Verfassung und ihr Verhältnis zu den anderen performativ auf positive Weise mit. In nahezu allen Interviews, die ich bisher geführt habe, taucht die beziehungskonstituierende Kraft von Kommunikationstechnologie auf.

»eher noch intensiver und inniger« – poly-affektive Steigerungen

Eine polyamore Alternative zu Konkurrenz und Verlustangst ist Mitgefühl (das besser als Mitaffekt zu bezeichnen wäre). Ein Beispiel für Mitgefühl als Mitfreude und 'Mitfiebern' gibt Torsten. Er erzählt, wie er Sina seinerzeit ermutigte, sich mit Felix zu verabreden, und als dieser zunächst nicht auf ihre E-Mail reagierte, »noch mal nachzuhaken. Genau. Ich hatte mir vorgenommen, ich unterstütz’ sie da von Anfang an, genau, und das hab ich auch gemacht«. Als Sina dann glücklich mit Felix zusammen­gekommen war, war das wiederum Grund zur Freude für Torsten: »Sina hat sich offenbar sehr über Felix gefreut, das hat mich gefreut, […] ich hab auf jeden Fall von Anfang an das Gefühl gehabt, das is’ total super, Felix is’ ’n toller Typ«. Sina ihrerseits fand es bisher oft bereichernd, die Frauen* zu treffen, die Felix und Torsten daten, »festzustellen, dass sie nett sind, [und] sozusagen nachvollziehen zu können, warum meine Freunde Interesse an ihr haben«. Sofern Hinzukommende das polyamore Beziehungskonzept respektieren, sieht Sina ihre Beziehungen nicht bedroht. Im Gegenteil, sie kann es sogar für sich

»nutzen, dass die Aufregung zwischen den beiden oder von seiner Seite aus da is’, kann ich mich ja so’n bisschen mitfreuen und das auch so’n bisschen mit aufregend finden, ((schmunzelnd)) und sozusagen mir so’n bisschen vampirisch was von dieser Aufregungsenergie abholen« (Sina 2).

Während Sina hier von der polyamoren Affektproduktion profitiert, kann die offene Beziehung auch Mit-Leid erzeugen, wie Sina in Bezug auf ihren Exfreund Piet (s.o.), aber auch im Hinblick auf zwei Affären von Felix deutlich macht. Denn »als es sich so abzeichnete, dass das eher wieder auseinander läuft und jetzt keine längere Sache wird zwischen ihm und Marie«, empfand Sina 2 das als »schade für die zwei, und sogar ’n bisschen schade für mich, so wie ich das jetzt auch grade bei Rieke den Eindruck habe« (Sina 2).

Sinas Feststellung, selbst von den Affektionen zwischen Felix oder Torsten + X zu profitieren, geht über ein Mit-Fühlen hinaus: Zusätzlich angesprochen ist die Erfahrung, dass Polyamory in mehrerlei Hinsicht eine Bereicherung sein kann, womit eine Alternative zu mono-normativer Verlustangst und dem damit verbundenen Besitz-Monopol eröffnet wird. Auch Felix 2 fühlt sich Torsten inzwischen so verbunden, dass er von einem Auseinanderbrechen der Konstellation »mitgenommen und getroffen« wäre:

»[M]ittlerweile is’ er einfach so’n selbstverständlicher Teil von Sinas Leben, und halt auch dadurch von meinem Leben irgendwie, […] ich glaube, wenn sich Sina von Torsten irgendwann mal trennen sollte, dass auch ich dann irgendwie traurig sein würde. Also es wär’ nich’ so, dass ich dann erleichtert wäre, dass ich dann quasi Sina für mich selbst hab, sondern es wär’ eher so, dass […] ’n Teil der Beziehung dann irgendwie fehlt.« (Felix 2)

Jenseits solch langjähriger Inklusionsprozesse kann sich auch in einer flüchtigen Begegnung eine erfreuliche Affektion ereignen: Sina 2 erzählt bezüglich eines zufälligen Zusammentreffens mit Marie, mit der Felix eine kürzere Affäre hatte, sie habe es »als total bereichernd und nett erlebt, [Marie] einfach kennen zu lernen, ’n Gespräch mit ihr zu führen, festzustellen, dass sie ’ne total coole und nette Person is’, und/ ach genau, das is’ nämlich bei Bonnie [mit der Torsten eine Affäre hatte, G.M.] auch der Fall gewesen« (Sina 2). Torsten wiederum geht aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen davon aus, dass eine künftige, von Sina ausgehende Erweiterung der Konstellation auch für ihn gewinnbringend wäre:

»[A]ngenommen, Sina findet noch jemanden, den sie so großartig findet, dass sie die Beziehung zu ihm intensivieren möchte, dann is’ das in der Regel auch jemand, der für mich total spannend is’. Also ich hab das bei Felix erlebt, also wir ha’m jetzt nich’ so die riesen thematische Schnittmenge, aber das is’ ’n super Typ, und wenn Sina jemanden großartig findet, dann merk ich sehr schnell, kann ich die Leute auch sehr gut leiden. Insofern is’ das ’ne Bereicherung, wenn Sina noch jemand findet, und kein Das-darf-auch oder Das-is’-zugelassen, sondern das is’ ’ne Bereicherung.« (Torsten)

Die bisher herausgearbeitete Form polyamorer Produktivität bezieht sich darauf, die Anwesenheit von (potenziellen) Co-Partner_innen als zuträglich zu erleben, statt diese gemäß einer Mangel-Logik als Rival_innen zu betrachten. Ein weiterer Vorteil ergibt sich bezüglich der Qualität und Intensität der Verbindungen. Beispielsweise konstatiert Felix 2, »dass Sinas und meine Beziehung durch die Anwesenheit von Torsten nich’ irgendwie schwächer geworden is’ oder weniger intensiv oder irgendwie sowas, sondern eher noch intensiver und inniger und sich noch mehr Vertrauen aufgebaut hat, als ohnehin schon da war«. Auch Sina 2 hat durch eine offene Beziehungspraxis keine Einbußen zu beklagen, im Gegenteil sind ihre »Beziehungen daran einfach gewachsen« und »eher cooler und gefestigter als vorher«. Dies wird auf mindestens drei Ebenen deutlich. Erstens profitieren Sinas Verbindungen von den nichtmonogamen Praxen ihrer Freunde, weil dies Sina

»immer wieder so’ne leichte Außenperspektive auf die beiden gibt. Also ich versetze mich sozusagen in ’ne Frau rein, die sie grade kennen lernt und kann mir vorstellen, was man dann auf den ersten Blick irgendwie toll finden könnte, was mir vielleicht gar nich’ mehr so deutlich is’, weil nach vier beziehungsweise sechs Jahren ich halt einfach viele Dinge nich’ mehr so richtig wahrnehme oder sehe, die eigentlich schätzenswert sind, und dann wieder drauf gestoßen werde und das macht/ das is’ eigentlich toll, dass ich auf die Weise dann wieder dran erinnert werde, und das macht die Beziehung irgendwie auch noch cooler.« (Sina 2)

Dass Torsten und Felix auch andere affizieren, bedeutet statt Verlust und Verfall eine Auffrischung des Begehrens, eine Aktivierung von Sinas Vermögen, von beiden affiziert zu werden. Neben dieser Belebung des Beziehungsalltags schätzt Sina 1 als weiteren Pluspunkt die Kommunikation: »Man kann so viele schöne Gespräche führen und feststellen, was am Partner total großartig is’.« Beispielsweise spricht sie mit Torsten und Felix gelegentlich darüber, später als Poly-Konstellation zusammen ein Kind zu bekommen, wobei beide Männer* äußern, sich eine biologische und/oder soziale Vaterschaft vorstellen zu können. »In ’ner monogamen Beziehung hätten sie nich’ die Chance gehabt, diese großartige Antwort zu geben.« (Sina 1) In Poly-Beziehungen, die sich in vielerlei Hinsicht jenseits gesellschaftlicher Konventionen bewegen – wobei Poly-Mehrelternschaft ganz besonders marginalisiert ist – tauchen Sagbarkeiten und Handlungsoptionen auf, die in monogamen Zweierbeziehungen stillschweigend ausgeschlossen oder unhinterfragt vorausgesetzt würden. Wie Sina beschreibt, gewinnt die Beziehung gerade dadurch, sich oft nicht auf tradierte Selbstverständlichkeiten zurückziehen zu können und stattdessen (manchmal auch unter Anstrengungen) für alle akzeptable Lösungen auszuhandeln. Damit verbunden ist ein weiterer Aspekt, den Sina an der nichtmonogamen Beziehungspraxis begrüßt: Den Anstoß zum Überdenken und Formulieren ihrer eigenen Ansprüche und Wünsche. Sina betont,

»wie sehr so’ne offene Beziehung, und wenn sie [Torsten und Felix] dann tatsächlich auch die nutzen, dazu beitragen kann, die Beziehung irgendwie noch zu stärken und mir selber zu helfen, über die Beziehung nachzudenken und zu reflektieren. Also dadurch, dass ich auf die beiden, wenn sie was mit anderen Frauen haben, unterschiedlich reagiere, kann ich auch merken, was mir irgendwie noch so’n bisschen gefehlt hat, oder wo sie mich vielleicht noch mehr unterstützen können oder was ich vielleicht einfach noch stärker einfordern sollte, weil ich das brauche, damit’s mir gut geht.« (Sina 2)

Wenn Sina hier von der Möglichkeit spricht, mithilfe der Begehrenspraktiken ihrer Freunde jenen Komponenten auf die Spur zu kommen, die ihr in den Beziehungen bisher »bisschen gefehlt« haben, so sehe ich die mono-normative Mangel-Logik darin eher gebrochen als reproduziert. Denn weder betrachtet Sina ein bestehendes Defizit als Auslöser für Nichtmonogamie, noch wird ihr etwas entzogen, weil sie nicht 'die Einzige' ist. Vielmehr schätzt sie die unterschiedlichen Grade und Gestalten des Affiziertwerdens durch das Begehren, das Torsten oder Felix mit anderen verbindet, als Aktivierungen einer »Sorge um sich« (Foucault 2005). Diese Selbstsorge trägt Sina zurück in ihre Beziehungen und leitet so eine Verbesserung ihrer Versorgungslage und Befindlichkeit ein, wobei zugleich die Beziehungen gedeihen – und anders werden.

»offen für was auch immer passiert« – poly werden

Deleuze und Guattari entwerfen Affekte und Begehren als dynamischen, produktiven und transformativen Strom. Den »Prozeß des Begehrens« bezeichnen sie auch als »Werden« (Deleuze/Guattari 1992, S. 371). Die nicht-teleologischen Bewegungen mit den Fluchtlinien des Begehrens erfordern Offenheit für Affektionen, unerwartete Verknüpfungen, Austausche, Transformationen, die unterwegs geschehen. »Die Frage: 'Was wirst du?' ist töricht. Denn in dem Maße, wie einer wird, ändert sich das, was er wird, genauso wie er selbst.« (Deleuze/Parnet 1980, S. 10) Werden äußert sich, kurz gesagt, in der Produktion von Differenzen statt Identitäten (vgl. Revel 2004, S. 261).

Die Bereitschaft und Tendenz zu werden, statt sich in identitären Posen und starren Grenzziehungen einzurichten, spricht auch aus den Interviews. So findet Sina es zwar ermutigend, hier und da auch von anderen Menschen mitzubekommen, dass Polyamory ein praxistaugliches Konzept ist. Suspekt sind ihr allerdings arrangierte Zusammenkünfte (wie z.B. spezielle Freizeitcamps), die diese Lebensform als Grundlage einer gemeinsamen Identität zelebrieren:

»Ich glaube, dass mir das so’n bisschen religiös dann fast vorkommt, also so, wir fühlen uns irgendwie progressiv und moralisch den Monos überlegen […]. Und ich hab auch nich’ den Eindruck, dass die Tatsache, dass wir die gleichen/ ungefähr die gleiche Beziehungsform leben, dazu führt, dass ich mich Leuten irgendwie mehr verbunden fühlen muss als/ also das is’ einfach kein so relevanter Bestandteil meines Lebens, dass ich mich sofort mit Leuten identifizieren muss, die das auch machen.« (Sina 1)

Zum einen käme es ihr »sekten-mäßig« (Sina 1) vor, Differenzen in den Verständnissen und Ausübungen konsensueller Nichtmonogamie auszublenden und Polyamory als per se emanzipatorisch und ein Gemeinsames konstituierend zu huldigen. Zum anderen möchte Sina die Vielfältigkeit dessen, was sie mag, tut, wird, nicht auf ein Poly-Sein reduziert sehen. Während Sina Polyamory als Identitätskategorie ablehnt, verzichtet Torsten soweit als möglich ganz auf identifizierende Benennungen. So bezeichnet er Sina grundsätzlich nicht als seine Freundin, um die Vielheit dessen, was sie ist (oder wird), nicht auf eine Relation zu ihm herunterzubrechen. In ähnlicher Weise problematisiert er die Vereinheitlichungen und Einhegungen, die gängige Beziehungs-Etikettierungen mit sich bringen:

»Man kann sich irgendwie bestimmte Aspekte rausgreifen und versuchen, die irgendwie zu benennen, […] man kann natürlich über Liebe reden, man kann aber viele Menschen lieben, man kann viele Menschen auf verschiedene Weisen lieben, deshalb macht etwa 'Liebesbeziehung' zu nennen das in der Hinsicht problematisch, also wenn man das versucht irgendwie festzutackern, was man damit meint, ja, und bei 'Partnerschaft' is’ es ganz ähnlich, man kann auch ganz viele verschiedene Arten von Partnerschaften haben. Insofern kann Partnerschaft ’ne Rolle spielen, Liebe kann ’ne Rolle spielen, aber ich möchte das eigentlich nich’ alles irgendwie in einen Begriff zusammenpappen und dann den abstecken und sagen hier hört’s auf und da fängt’s an.« (Torsten)

Dass Torsten nicht bereit ist, die Dynamik, Kontextualität und verschiedenste Kombinationen der Affekte in ein vorgefertigtes Begriffskorsett zu schnüren, kann andere, auch Sina, zuweilen verunsichern. So ist es manchmal nötig, unter Verwendung »aller möglichen Alternativformulierungen« »sehr lange darüber zu reden [...] warum es von ihm halt nie ’ne Liebeserklärung geben wird« (Sina 2). Da sich jede Beziehung aus verschiedensten Affektlinien zusammensetzt, wäre es für Torsten allerdings ebenso unsinnig, sie in einem Begriff zu fixieren, wie aufgrund einer Neujustierung oder des Erlöschens einiger Linien gleich alle (im Sinne von Schluss machen) zu kappen: »es gib dann kein Raus, sondern nur ein Die-Beziehung-verändert-sich-irgendwo-hin« (Torsten).

Potenziale des Werdens zeichnen sich auch in den Zukunftsvisionen meiner Interviewpartner_innen ab. Sina wäre glücklich darüber, mit ihren jetzigen Mitbewohner_innen sowie Torsten, Felix und anderen in ein großes Haus zu ziehen. Dort könnten alle gemäß ihrer sich wandelnden Wohn- und Lebensform-Präferenzen leben, »weil in so ’ner Konstellation natürlich unheimlich viel noch mit unterzubringen wäre, also das is’ ja flexibel.« Das gemeinsame Niederlassen in einem Haus würde zugleich Raum für »Deterritorialisierungen« (Deleuze/Guattari 1992) lassen, für mögliche Neukonstellierungen, Erweiterungen, Verschiebungen des Beziehungs-Gefüges. Auch Torsten interessiert für die Zukunft eine »Art von größerer Konstellation. Auch Familie gerne, aber nich’ nur zu zweit. Und dann bin ich da offen für was auch immer passiert.« Etwas anders gelagert schwebt Felix 1 vor, multiplen Affektionen noch größere Offenheit entgegenzubringen. Statt sich und andere – anhand einer Demarkationslinie von als solcher bestimmter Sexualität – zu identifizieren und jeweils »definieren [zu] müssen, was wir hier machen oder wer wir sind zusammen«, wünscht Felix sich ein »Netzwerk von Leuten«, mit denen er »intensive Beziehungen« mit variablen Graden des »Körperkontakt[s]« leben kann. Das heißt, »dass dieser Übergang fließender wird, wann ich wie viel Intimität zulasse, ohne dass es daran gekoppelt is’, dass es ’ne Beziehung sein muss«, und dass die »Grenzen zwischen Freundschaft und Beziehung und zwischen Sex und nicht Sex […] so’n bisschen fließender wäre[n]«. (Felix 1) Sofern vom Einvernehmen der Beteiligten getragen, eröffnen diese Visionen einer Verflüssigung des Paar-Konzepts als Prozess eines poly-agencement werdenden Begehrens vielversprechende Alternativen zu den molaren Logiken des Mangels, der Identität und Zwei-Einigkeit der Mono-Normativität.

Ausblick

Angedeutet wurden, wie ich hoffe, die Potenziale polyamorer Affektionen und Werdensprozesse, Begehren jenseits von Mangel und dessen (Er‑)Füllung oder Vertiefung zu denken. Gleichwohl können die hier angestellten Überlegungen nicht mehr als ein Schlaglicht werfen. Einer umfassenderen agencement-Analyse obliegt es, den vielfältigen Überkreuzungen von Macht und Wissen, Institutionen und Situationen, menschlichen und nichtmenschlichen Akteur_innen nachzuspüren, die polyamore Begehrenspraktiken konstituieren und verändern.

Im Zuge einer weiteren Ausarbeitung hätte sich ein agencement-analytischer Ansatz – zumal wenn der Datenkorpus aus Interviewtranskripten besteht – zunächst mit dem methodischen Problem zu befassen, dass die Materialitäten des agencement und die sozialen Praktiken der verschiedensten Akteur_innen nicht direkt zugänglich sind, sondern aus in Text transformierten Erzählungen herausgelesen werden müssen, während sich insbesondere die körperliche Dimension des Affekts nicht vollständig in der Sprache einfangen lässt. Hier könnte der Einsatz ethnographischer Erhebungsinstrumente wichtige Ergänzungen liefern – wobei teilnehmende Beobachtung bei der Erforschung von Beziehungspraxen nur bedingt geeignet und möglich ist.

Inhaltlich müsste sicherlich noch stärker auf jene auch in Poly-Konstellationen auftretenden, herausfordernden und mitunter schmerzlichen Affekte eingegangen werden, durch die »des Menschen Wirkungsmacht gemindert oder gehemmt wird« (Spinoza 2011, S. 339). Genauere Betrachtung verdiente auch der Umgang mit Ressourcen, die sich trotz eines produktiven Begehrenskonzepts nicht umstandslos vermehren lassen – dies berührt insbesondere Fragen des Zeitmanagements (nicht nur) in Poly-Beziehungen. Ferner würde beispielsweise eine Auseinandersetzung mit dem Polyamory-Kodex, stets »[a]bsolut ehrlich zu sich selbst und zu den beteiligten Personen zu sein« und »offen über alle Gefühle sprechen zu können« (Schroedter/Vetter 2010, S. 43), eine frappierende Nähe zu jener »unaufhörliche[n] Wahrheitsforderung« (Foucault 1983, S. 97), zu jenen pastoralen Techniken der Selbstforschung und des Geständnisses offenbaren, die Subjektivierungen innerhalb des »Sexualitätsdispositivs« (Foucault 1983) anleiten. Aufmerksamkeit wäre einerseits den Einschreibungen von Mono-Normativität, aber andererseits auch sozialen Kontexten und Umfeldern zu widmen, in denen Mehrfachbeziehungen derzeit so im Trend liegen, dass statt Mono- eine »Poly-Normativität« (Felix 2) installiert wird. Auch hätte sich eine eingehendere Studie damit zu befassen, wie polyamore Praxen Heteronormativität und weitere soziale Machtverhältnisse und Differenzachsen durchkreuzen oder teils auch reifizieren. Weiterhin wäre eine solche Untersuchung angehalten zu zeigen, inwiefern Polyamory die postfordistischen Imperative der Flexibilisierung, Netzwerkbildung und Differenzverwertung aufgreift und/oder untergräbt. Nicht zuletzt könnte stärker herausgearbeitet werden, dass ein Verständnis von (Liebes‑)Beziehungen als agencement auch solche einschließt, die sich als monogam verstehen: Auch diese können als Gefüge unterschiedlichster menschlicher und nichtmenschlicher Akteur_innen – von denen jede_r für sich bereits eine Mannigfaltigkeit ist/wird – betrachtet werden, womit eine (Selbst‑)Definition als Zweierbeziehung mit Exklusivitätsanspruch fragwürdig und Mono-Normativität gewissermaßen gegenstandslos wird (vgl. Mayer 2014).

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Endnoten:

[1]

Jellouschek (2003, S. 41) geht grundsätzlich davon aus, dass einer von ihm so genannten »Außenbeziehung eine Mangelsituation in der Zweierbeziehung vorausgeht«, und laut untreue.at, einem Informationsportal zu den Themen Seitensprung, Fremdgehen, Ehebruch und Untreue, »ist klar – ein Seitensprung kann Folge einer partnerschaftlichen Krise sein. Genauso kann aber die Krise auch erst durch die Affäre eingeleitet worden sein. […] Gründe für eine außerpartnerschaftliche sexuelle Beziehung können auch […] in der jeweiligen betroffenen Person verankert sein.«

[2]

Der Stern * markiert hier und im Folgenden den Konstruktionscharakter von Kategorien wie Kultur, Ethnizität und Geschlecht.

[3]

Im Symposion lässt Platon (2008, S. 31f.) den Aristophanes die Bedeutung des Eros erläutern. Demnach wurden die ehemals kreisrunden und als eins von drei möglichen Geschlechtern (Mann, Weib oder Mannweib) lebenden Menschen von Zeus durchtrennt. »Nachdem nun ihre ursprüngliche Form auseinandergeschnitten war, sehnte sich eine jede Hälfte nach der ihr zugehörigen anderen und versuchte, mit ihr zusammenzukommen. […] Seit so langer Zeit also ist das Liebesverlangen zueinander den Menschen eingepflanzt, führt die ursprüngliche Natur zusammen und versucht, eins aus zweien zu machen und die menschliche Natur zu heilen.«

Lacan (1966, S. 623) postuliert: «Le désir est la metonymie du manque à être.« Lacans Fusion von Psychoanalyse und (post‑)strukturalistischer Semiotik kreist um das Konzept eines »Begehren[s] (désir), das einen unaufhebbaren Mangel beständig aufzuheben versucht, den Mangel eines ursprünglichen Objekts eines (frühkindlichen) seit dem Eintritt in die Sprache nie mehr erreichbaren Genießens, einen Mangel, der durch kein reales Objekt mehr befriedigt werden kann.« (Sarasin 2003, S. 52)

[4]

Dabei zeigt sich Polyamory mittlerweile auch auf dem Feld juristischer Regelungen als umkämpftes Terrain: Die mono-normative Rechtslage attackierend, tauchen Vorstöße wie jener der Piratenpartei auf, die laut Grundsatzprogramm von 2010 die Gleichstellung polyamorer Beziehungen anstrebt. Solche Initiativen können als Fluchtlinien aufgefasst werden, die eine mono-normative Gesellschaftsordnung ins Wanken bringen, aber auch als gegenläufige Tendenzen der »Re-Territorialisierung« (Deleuze/Guattari 1992), die sich anschicken, polyamore Lebensformen in geregelte, regierbare Bahnen zu lenken – ähnlich der (Selbst‑)Normalisierung vieler queerer Lebensformen durch die Institution »Eingetragene Lebenspartnerschaft«.

Über die Autorin

Gesa Mayer

Gesa Mayer ist Dipl.-Soziologin. Sie promoviert und arbeitet am Institut für Soziologie der Universität Hamburg. Ihre wissenschaftlichen Schwerpunkte sind Mono-Normativität und nichtmonogame Begehrensformen, Mehrfachdiskriminierung, feministische und poststrukturalistische Theorie sowie Methoden qualitativer Sozialforschung.

E-Mail: gesa.mayer@wiso.uni-hamburg.de