Polyamory – ein Weg aus den Zwängen der Monogamie und destruktiver Eifersucht?

Herbert Csef

Zusammenfassung

Polyamory ist ein nicht-monogames Beziehungsmodell, das dadurch charakterisiert ist, dass die beteiligten Personen gleichzeitig Liebesbeziehungen mit mehreren Menschen leben und dass dies bei vollem Wissen und Einverständnis aller beteiligten Partner geschieht. Freiheitsliebe, Toleranz, Flexibilität und Verantwortung ermöglichen das Gelingen von Polyamory. Die beteiligten Beziehungspersonen benötigen hierfür einen hohen Reifegrad, große Kommunikationsfähigkeit und emotionale Stärke. Gegenspieler der Polyamory sind die Eifersucht und der meist mit einem monogamen Liebesideal verbundene Treue-, Besitz- und Ausschließlichkeitsanspruch. Neuere Trends (Neosexualitäten, Metrosexualität, spätmoderne Beziehungswelten) dürften dazu beitragen, dass Polyamory eines der möglichen Beziehungsmodelle der Zukunft werden kann.

Schüsselwörter: Polyamory, Monogamie, Eifersucht, Treue

Keywords: Polyamory, monogamy, jealousy, fidelity

Summary

Polyamory is a non-monogamous model for relationships that is characterised by the involved persons’ living in love relationships with more than one person at a time with full knowledge and approval of all partners.

Love of freedom, tolerance, flexibility, and responsibility are important prerequisites. The persons involved need a high level of maturity, good communication skills, and emotional strength. The archenemies of polyamory are jealousy and the tenures and claims for faithfulness and exclusivity often related to a monogamous ideal of love.

Polyamory-promoting trends like neosexualities, metrosexuality, and postmodern relationships might contribute to polyamory as a possible future relationship model leading to a liberation from the constraints of monogamy.

Schüsselwörter: Polyamory, Monogamie, Eifersucht, Treue

Keywords: Polyamory, monogamy, jealousy, fidelity

Polyamory - ein neues Beziehungskonzept für die Zukunft?

Polyamory ist ein »Versprechen, viele zu lieben« (Klesse 2007). Nicht zufällig ist »Love without limits« der Titel des ersten berühmt gewordenen Werkes der Polyamory-Bewegung. Es wurde 1992 von der Klinischen Psychologin Deborah Anapol publiziert. Polyamore Paare zeigen das Hauptcharakteristikum, dass sie gleichzeitig Liebesbeziehungen mit mehreren Menschen leben und dies bei vollem Wissen und Einverständnis aller beteiligten Partner. Die Polyamory enthält ein Beziehungskonzept, das die Einschränkungen der monogamen Zweierbeziehung auflockern oder aufheben will. Dazu braucht es Freiheitsliebe, Toleranz, Flexibilität und Verantwortung (Lendt/Fischbach 2011). Die Polyamory verfolgt also ein tolerantes und freiheitsliebendes Beziehungsmodell. Es wird überwiegend in den intellektuellen und urbanen Lebensräumen der westlichen Welt angestrebt. Protagonisten waren die Liebespaare wie Rainer Maria Rilke und Lou Andreas-Salomé, Jean Paul Sartre und Simone de Beauvoir, Bertold Brecht und Helene Weigel, Virginia Woolf und Bertrand Russell. Die große Chance der Polyamory liegt darin, die Spielräume des Begehrens zu erweitern und freiere Formen der Liebe in Beziehungen zu ermöglichen: Freiheit und weniger Zwang – weniger Machtausübung, weniger Abhängigkeit und weniger Angst (Meritt et al 2005; Ravenscroft 2004).

Werte und Ideale der Polyamory

Polyamory ist ein sehr anspruchsvolles Beziehungsmodell, das von den beteiligten Beziehungspersonen einen hohen Reifegrad, große Kommunikationsfähigkeit, emotionale Stärke, viel Toleranz und große Flexibilität erfordert. Dieses Beziehungsmodell unterscheidet sich wesentlich von unverbindlichen sexuellen Interaktionsformen, die oft mit der Polyamory verwechselt werden, wie z.B. Promiskuität, One-Night-Stands, sexuelle Kommunikation in Swingerclubs oder heimliche Affären und Seitensprünge (McCullough/Hall 2003).

Treue, Vertrauen und Verantwortung sind im Beziehungsmodell der Polyamory hochgeschätzte Werte. Bezüglich Verantwortung wird im Polyamory-Konzept eine »responsible non monogamy« vertreten. Der wichtige Wert der Treue ist auf die partnerschaftliche Kommunikation bezogen und nicht auf das Beziehungsideal der Monogamie mit entsprechendem Besitzanspruch und Ausschließlichkeitsideal. Im polyamoren Beziehungsmodell bedeutet Treue in erster Linie Ehrlichkeit, Verbindlichkeit, Loyalität, Respekt, gleichberechtigte Kommunikation, Hingabe und Verhandlungsmoral im Sinne von Beziehungskonsens (Anapol 2012; Lano/Perry 1995).

Das Beziehungsmodell der Polyamory hat zwei mächtige Kontrahenten: das Ideal der Monogamie und die Eifersucht. Monogamie wird durch Wertvorstellungen, Normen und Handlungsanweisungen vermittelt. Eifersucht hingegen imponiert als stark emotional-affektives Phänomen, das sehr oft eine große Destruktivität entfaltet. Nach Helen Fisher (2005) wird jedes dritte weibliche Mordopfer in den USA vom Partner oder Expartner umgebracht. Enttäuschte Liebe, sexuelle Untreue, Eifersucht und Verlassen-Werden sind die Hauptmotive hierfür. Im Review von Aldridge und Browne (2003) über 22 empirische Studien zum » Spousal Homicide« ergab sich, dass in Großbritannien 37 % aller weiblichen Mordopfer vom gegenwärtigen oder früheren Intimpartner umgebracht wurden. Gerade wegen der großen emotionalen und affektiven Potenz des Phänomens Eifersucht dürfte die zukünftige Entwicklung der Polyamory stark davon abhängen, ob Eifersucht und die ihr zugrunde liegenden Faktoren bewältigt werden können. Insofern könnte die Eifersucht der Prüfstein oder der Lackmustest für die Belastungsfähigkeit polyamorer Beziehungen sein.

Eifersucht – ein Gegenspieler der Polyamory

Jede Form von Eifersucht stellt eine emotionale und affektiv gefärbte Lebensäußerung dar, die sinnvoll, begründet und wohl auch verstehbar sein kann (Baumgart 1985; Bornemann 1986). Von der Sinnhaftigkeit dieser Empfindung zeugen der langlebige Mythos von der »Eifersucht als Liebesbeweis« und die weit verbreitete Meinung, dass in einer Partnerbeziehung »etwas nicht stimmen kann«, wenn diese Leidenschaft nicht entflammt. Der forensisch fachkundige Mediziner von Schumann (1975) apostrophiert diese Ansichten wie folgt: »Die Eifersucht ist jedem psychisch als normal zu bezeichnenden Menschen eigen. Jedoch ist die Grenze zwischen 'noch normal' und 'schon krankhaft' fließend und hängt zuweilen von subjektiven Beurteilungen ab. Das völlige Fehlen eifersüchtiger Empfindungen muss als krankhaft gewertet werden« (S. 287). In seinem Buch »Die menschlichen Leidenschaften« setzt sich auch der Psychoanalytiker Kutter (1978) für die Bejahung von Leidenschaften »mit Zorn und Eifer« ein. Dort ist zu lesen: »Unterdrückte Leidenschaften machen krank, bejahte und vom Ich gesteuerte Leidenschaften durchbluten das Leben« (S. 121).

Partnerbeziehungen sind in ihrem zeitlichen Verlauf mehr oder weniger häufig Partnerkrisen ausgesetzt, die mit Eifersucht verbunden sein können (Schnarch 2008). Die für Eifersucht relevanten Konfliktthemen der Partnerbeziehungen sind Untreue, Seitensprung oder außereheliche Beziehungen, Bindung und Abhängigkeit sowie die Ambivalenz von Trennungswunsch und Trennungsangst (Kutter 1994; Pflüger 1982). Nach Bornemann (1987) haben etwa 72 % aller Heterosexuellen, die verheiratet sind oder in einer langfristigen Beziehung leben, während dieser Beziehung sexuelle Kontakte zu einer dritten Person. In der Literaturübersicht von Clement (2012) sind es etwa 50 % der verheirateten Männer und 25 % der verheirateten Frauen. Bei unverheirateten Paaren ist die Häufigkeit der sexuellen Untreue in allen Untersuchungen höher. »Ehebruch« oder »Seitensprung« sind Bedingungen, die das Auftreten von Eifersucht fördern. Sie können zu schweren Partnerkrisen oder zur Trennung führen. Trennungserlebnisse wiederum lösen nicht selten psychische Störungen oder psychosomatische Erkrankungen aus. Ob ein »Seitensprung« als »Ausrutscher« schnell verziehen und vergessen wird oder zu einer nicht zu bewältigenden Krise führt, liegt in der Qualität der jeweiligen Partnerbeziehung begründet (Csef 1984). Das Bindungsverlangen, der Ausschließlichkeitsanspruch, das Selbstwerterleben der Partner, wechselseitige Toleranz und das Ausmaß an Aggressivität haben Einfluss darauf, wie dieses Erlebnis verarbeitet wird (Grammer 1994; Csef 1990).

Folgende vier Erscheinungsformen der Eifersucht können differenziert werden:

Der von ihm als »berechtigte oder begründete Eifersucht« bezeichnete Subtyp wurde von Buddeberg (1986) sehr treffend »kreative Eifersucht« genannt. Sie dürfte die häufigste Form darstellen. Sie ist nachfühlbar und von den Beziehungskonstellationen her vermutlich berechtigt. Ihr ist eine positive Kraft nach Wandel und Beziehungsform und Neuorientierung immanent. Eine durch kreative Eifersucht ausgelöste Partnerkrise kann die Chance für einen Neubeginn oder eine positive Veränderung der Partnerbeziehung bedeuten. Die Dynamik der in einer Dreiecksbeziehung (Csef 1985) verstrickten Beziehungspartner ermöglicht uns eine weitere Orientierung hinsichtlich der einzelnen Eifersuchtsformen.

Dabei sind folgende Fragen aufschlussreich: Existiert der Dritte in der Phantasie des Eifersüchtigen oder als realer Beziehungspartner? Welcher Art ist die Beziehung des Eifersüchtigen zum Rivalen? Wie ist die Beziehung des Partners zum Rivalen und inwieweit ist das Begehren zwischen beiden wechselseitig? Sind sich die drei Personen des Beziehungsdreiecks lebendig begegnet, und welche Bedeutung hatte die erotisch-sexuelle Kommunikation in diesen Begegnungen?

Die einzelnen Eifersuchtsformen stellen sich hinsichtlich dieser Fragen – trotz fließender Übergänge – wie folgt dar:

Bei der »berechtigten« oder »begründeten« Eifersucht besteht eine wechselseitige reale Beziehung zwischen dem Partner des Eifersüchtigen und dem Nebenbuhler oder Rivalen. Die Verlustängste und die Kränkung des Eifersüchtigen sind einfühlbar und begründet. Er/sie lebt ja in der Gefahr, eine ihm/ihr sehr bedeutsame und wertvolle Beziehung zu verlieren, betrogen oder hintergangen zu werden. Dabei gibt es jedoch erhebliche Variationen, je nachdem wie beeinträchtigt das Selbstwerterleben des/der Eifersüchtigen ist, das heißt, wie stark kränkbar, empfindlich und verletzlich er/sie ist, wie groß sein/ihr Besitzanspruch ist, wie abhängig er/sie sich fühlt. Von Bedeutung ist auch, ob der/die Eifersüchtige den »Dritten« kennt oder ihm/ihr schon begegnet ist.

Psychodynamik der Eifersucht hinsichtlich Sexualität und Paarbeziehung

Wie bereits ausgeführt, spielen Verlustängste und beeinträchtigtes Selbstwerterleben bei der Eifersucht eine zentrale Rolle (Csef 1997a). Wird z.B. ein Patient nach einer Operation oder im Rahmen der Grunderkrankung in seiner Sexualfunktion beeinträchtigt oder betrachtet er sich als weniger liebenswert und attraktiv, so hängt es entscheidend vom Partner ab, ob der Kranke diese Verunsicherung bewältigen und überwinden kann. Werden die Verlustängste durch den Partner jedoch noch geschürt, dann kann das Auftreten von Eifersucht provoziert werden.

Vertreter der Psychoanalyse, wie Freud (1919, 1922), Kutter (1978), Fenichel (1935) oder Lutz (1982) sehen die Wurzeln der Eifersucht in unbewältigten Dreiecksbeziehungen während der Kindheit und in den ihnen entspringenden Konflikten, Gefühlen und Affekten. Die konfliktreiche Konstellation zwischen Vater, Mutter und Kind – die berühmte ödipale Situation – führt oft zu Eifersucht oder Rivalität. Fast alle Menschen durchleben diese Dreiersituation und werden entscheidend dadurch geprägt, da Dreiecksbeziehungen immer Quelle für Konflikte, Enttäuschungen und Kränkungen sind. Der »ausgeschlossene Dritte« zu sein, bleibt fast niemandem erspart. Die schmerzliche Erfahrung, dass eigene Wünsche versagt werden, und sich die Mutter stattdessen dem Vater oder einem der Geschwister zuwendet, hinterlässt Spuren im Seelenleben fast eines jeden Kindes. Das Gefühl, nicht geliebt zu sein, benachteiligt zu werden, zu kurz zu kommen, abgewiesen oder abgelehnt zu werden, kennen wir fast alle aus unserer eigenen Kindheit. Kutter (1978) spricht von der »Ur-Kränkung des Kindes« und dem »frühen Leid«. Sie hinterlassen in jedem Kind eine Wunde, die nie ganz heilt und umso tiefer ist, je schmerzlicher und demütigender diese Kränkungen waren. Dieses »frühe Leid« erweckt dieselben Gefühle, die auch jeden Eifersüchtigen quälen: Schmerz, Kränkung, Demütigung, Einsamkeit, Verlassenheit, Nicht-geliebt-Werden. Die Folge davon sind Wut, Hass und aggressiv-destruktives Verhalten aus einem oft blindwütigen Rachegefühl heraus. Dass wir Menschen besonders dem Leiden aus Liebesbeziehungen ausgeliefert sind und die Wunden durch Liebesverlust und Verlassen-Werden sehr tief sein können, hat bereits Freud immer wieder betont. In »Das Unbehagen in der Kultur« (1930) schreibt er: »Niemals sind wir ungeschützter gegen das Leiden, als wenn wir lieben, niemals hilfloser unglücklich, als wenn wir das geliebte Objekt verloren haben« (S. 214). Das Erleben des Eifersüchtigen ist wesentlich durch geringes Selbstwertgefühl, leichte Kränkbarkeit («narzisstische Wunde«), Verlust- und Trennungsangst sowie einen hohen Besitzanspruch an den Partner gekennzeichnet. Er ist deshalb doppelt in der Klemme: Die Wunden oder Narben aus seiner Vergangenheit sind bei ihm groß; die schmerzlichen Erlebnisse von Verlassen- oder Alleingelassenwerden, von Zurückweisung, Ablehnung, Kränkung und Demütigung waren bei ihm in der Kindheit besonders gravierend; er ist in dieser Hinsicht leicht kränkbar – »narzisstisch kränkbar«; gleichzeitig hat er eine ausgeprägte Verlustangst, fühlt sich bedroht und ist misstrauisch. Der Eifersüchtige lebt in einer extremen Spannung zwischen dem unbewältigten Leid der Vergangenheit und dem vermeintlich drohenden Verlust in der Zukunft. Sein Verhalten wird dabei oft so affektiv, irrational und destruktiv, dass er gerade das herbeiführt, was er fürchtet. Hierin liegt die Tragik des Eifersüchtigen: Verlustangst und Kränkung treiben ihn in Hass, Rachsucht, Kontrollieren des Partners und destruktives Verhalten, was gerade die Trennung provoziert, die er so stark fürchtet.

Dies ist besonders bei stark dysfunktionalen Paarkonstellationen der Fall. Nicht selten ist auch körperliche Gewalt im Spiel und tiefe Kränkungen und Demütigungen erschweren die Wiederannäherung des Paares. Die Affekte wirken dabei als »Regulatoren« der Liebesbeziehung (Csef 2003). Sexuelle Zurückweisungen, Störungen der Sexualfunktion oder jahrelange »sexuelle Funkstille« verstärken dann oft zusätzlich die Eifersuchtsanfälle. Die sexuelle Unzufriedenheit eines sehr dysfunktionalen Paares wird durch frustrane und wiederholt scheiternde Sexualität zusätzlich belastet, so dass sich schließlich der Circulus vitiosus der Eifersucht zunehmend verstärkt und zu Eskalationen führen kann (Csef 2005).

Eifersucht und Polyamory

In der klassischen Literatur über Polyamory nimmt das Thema der Eifersucht eine zentrale Rolle ein. Bereits im Standardwerk »Polyamory –The New Love Without Limits« von Deborah Anapol (1997) wird der Eifersucht eine Schlüsselfunktion zugewiesen, sie wird als »gatekeeper« der Beziehung bezeichnet. Im Polyamory-Modell gibt man sich nicht der Illusion hin, dass es eifersuchtslose oder eifersuchtsfreie Liebesbeziehungen gibt. Es geht also nicht um die Abwesenheit von Eifersucht, sondern um einen konstruktiven Umgang mit Eifersucht mit dem Ziel, dem der Eifersucht zugrundeliegenden Besitz- und Ausschließlichkeitsanspruch entgegenzuwirken (Kipnis 2004; Veenemans 2011). Dabei wird prinzipiell anerkannt, dass das Gefühlsgemisch der Eifersucht wichtige Bedürfnisse und kommunikative Funktionen vermittelt. Die Auseinandersetzung mit der Eifersucht und der kommunikative Umgang mit ihr sollen basale Gefühle und Bedürfnisse der Liebesbeziehung freilegen. In der Polyamory-Literatur wird die Eifersucht bildlich wie eine Zwiebel beschrieben, die Schicht für Schicht aufmerksam untersucht und wahrgenommen werden soll. In jeder neuen Schicht offenbaren sich Gefühle, Ängste oder Bedürfnisse der Liebesbeziehung. Das Buch von Deborah Anapol mit dem Titel »Compersion: Meditations on Using Jealousy as a Path to Unconditional Love« interpretiert die Bewältigung der Eifersucht als einen Weg zur »bedingungslosen Liebe«.

Polyamory-fördernde Trends und Entwicklungen: »Neosexualitäten« und »spätmoderne Beziehungswelten«

Der moderne Wandel der Beziehungsformen und des Sexuallebens brachte Entwicklungstendenzen mit sich (Csef 1997 b; Matthiesen 1997), die insbesondere bei der städtischen Bevölkerung die Tendenz zu polyamorösen Beziehungen fördern. Die deutlichsten Befunde hierzu ergaben sich aus der Hamburg-Leipziger Drei-Generationen-Studie (Schmidt et al 2006). In dieser aufwendigen Studie wurden beziehungssoziologische und sexualwissenschaftliche Ansätze verbunden, um traditionelle wie auch nicht-konventionelle Partnerschaftsformen zu untersuchen. Es wurden dabei 776 Männer und Frauen dreier Generationen aus Hamburg und Leipzig interviewt. Sie waren zum Zeitpunkt der Befragung 30, 45 oder 66 Jahre alt. Es wurde versucht, den Wandel der Beziehungsbiografien und Beziehungsformen nachzuvollziehen, um das sexuelle Verhalten sowie den Stellenwert der Sexualität zu analysieren. Der Titel der zugehörigen Buchpublikation »Spätmoderne Beziehungswelten« (Schmidt et al 2006) deutet einen grundlegenden Beziehungswandel an: alle nicht-eheliche Formen des Zusammenlebens, sowohl heterosexueller, bisexueller, wie auch homosexueller Art nehmen in der städtischen Bevölkerung deutlich zu. Falls überhaupt Ehen geschlossen werden, werden sie später eingegangen und werden häufiger vorzeitig geschieden. Das vorherrschende Beziehungsmodell ist das der »seriellen Monogamie«. Die meisten Menschen suchen weiterhin feste Partnerbeziehungen – ob mit oder ohne Trauschein. Diese dauern meist nicht lebenslang, sondern eine gewisse Beziehungsdauer, so dass im Durchschnitt die untersuchten Personen sieben bis acht andauernde Partnerbeziehungen hatten. Die lebenslange Monogamie unter dem Motto »Bis dass der Tod euch scheidet« wird also immer seltener (Mitchell 2004). Der Anteil von nicht-ehelichen Beziehungsformen ist deutlich angestiegen. Affären und Seitensprünge nehmen offensichtlich zu (Schmidt et al 2006).

Die Ergebnisse der Hamburg-Leipziger Studie werden ergänzt durch die aktuellen Daten des statistischen Bundesamtes. Danach lebt weniger als die Hälfte der deutschen Bürger in traditionellen Familien. Nur etwa 42 % der Kinder und Jugendlichen verbringen ihre gesamte Kindheit und Jugendzeit bei den leiblichen Eltern (Zahlen nach www.destatis.de). Dies ist begründet durch den hohen Anteil von Singles, Alleinerziehenden, Scheidungskindern und Patchwork-Familien.

Der deutsche Sexualforscher Volkmar Sigusch umschreibt mit »Neosexualitäten« oder »neosexuelle Revolution« eine Entwicklungstendenz der Sexual-, Intim- und Geschlechtsformen, die neue Frei- und Spielräume, aber auch neue Zwänge mit sich bringt. Insgesamt existiert eine größere Vielzahl von sexuellen Variationen als bisher. Polyamory ist eine dieser zahlreichen Variationen. Kürzlich wurde Sigusch in einem Interview zur Zukunft der Sexualität befragt. Er antwortete:

»Neben der klassischen Ehe wird es andere Formen geben, eine lugt ja schon hervor, die Polyamory, die Vielliebe. Also, Sie sind mit einer Frau zusammen, und Ihre Frau hat nichts dagegen, dass noch eine andere Frau dazu kommt. Sie holt noch ihren Freund dazu. Auf einmal stellen Sie fest – mein Gott, man kann ja nicht nur einen Menschen lieben, man kann ja auch mehrere gleichzeitig lieben.« Und: »Bei einem intelligenten Paar sollte es möglich sein, dass der Mann oder die Frau ihre Befriedigungen auch außerhalb der Partnerschaft suchen. Immer mit Rücksicht auf den Partner, also in Offenheit, aber trotzdem diskret. Man hat geheiratet mit 25, ist jetzt 45 und findet vielleicht so eine Regelung.« (Sigusch 2011).

Sigusch offenbart sich hier als Befürworter der Polyamory und sieht diese in der modernen urbanen Lebenswelt westlicher Länder bereits zunehmend verwirklicht. Die klassische Form der heterosexuellen Paarbeziehung als Ehe wird also durch zahlreiche Liebes- und Sexualvariationen erweitert:

»Die trianguläre Triade Vater-Mutter-Kind, noch vor zwei Generationen der Inbegriff der Familie, ist in einem ungeahnten Ausmaß kulturell verblasst. Ehe und Familie sind faktisch voneinander getrennt. Es gibt jetzt Singles und Alleinerziehende, Dauerbeziehungen mit Liebe, aber ohne sexuellen Verkehr, äußerst komplizierte Intimbeziehungen mit drei und mehr Akteuren, Abstinenz und Partnertausch, One-Night-Stands, Let’s party, Call-in, Vakuumpumpen und Love Parades sowie eine Unzahl (›pseudoperverser Inszenierungen‹, von denen der unvergessene Eberhard Schorsch gesprochen hat. Alle alten Perversionen sind inzwischen elektronisch zerstreut und partiell entdämonisiert worden – mit Ausnahme der nach wie vor tabuisierten Pädosexualität (Sigusch 2005 b, S. 16).

Konträre Entwicklungstendenz: Der neue Trend zur monogamen Treue bei Jugendlichen

Es gibt interessanterweise eine gegenläufige Entwicklungstendenz in der jüngeren Generation, die einer stärkeren Verbreitung der Polyamory entgegenstehen dürfte. Seit 1970 zeigt sich in wiederholten Umfragen bei Jugendlichen, dass sie verstärkt eine Tendenz zu monogamer Treue haben und sich dem Ideal der romantischen Liebe verbunden fühlen. Bereits in den Untersuchungen von Schmidt (1993) zur Jugendsexualität zeigte sich, dass die Verpflichtung zur Treue bei Jungen von 56 % im Jahre 1970 auf 89 % im Jahre 1990 gestiegen ist. Bei den Mädchen lag die Bindung ans Treue-Ideal 1990 sogar bei 95 %. Diese anhaltende Befürwortung von sexueller Treue zeigt sich bei der jungen Generation auch in den neuen Studien zur Jugendsexualität. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung unterstützt seit Jahren das Projekt »Sexuelle und soziale Beziehungen von 17- und 18-jährigen Frauen und Männern« (Matthiesen 2011), in dem sich diese Treue-Tendenz weiterhin deutlich abbildet. Eine gegenläufige Entwicklung zeigt sich in Studien zu erwachsenen Männern und Frauen in der Lebensmitte, in denen das Treue-Ideal weit geringer vertreten wird. Hier zeigt sich das in der Sexualforschung wiederholt beschriebene Treue-Untreue-Paradox: die gelebte sexuelle Wirklichkeit bleibt deutlich hinter dem hochgehaltenen Treue-Ideal zurück. Eines Besseren belehrt durch die gelebte Erfahrung, wird in höherem Lebensalter dieses Ideal von vielen Menschen aufgegeben. Dies wird durch die zitierten Studien zur sexuellen Treue bzw. Untreue unterstrichen, nach denen 50 - 70 % (je nach Erhebungsquote und Studie) der Erwachsenen zur Lebensmitte bereits selbst sexuell untreu gewesen sind (Clement 2012). Diese Realität des Sexualverhaltens bestätigt die oben beschriebene Tendenz zur »seriellen Monogamie«.

Wer ist polyamoriefähig?

Liest man die Arbeiten der oben zitierten Sexualforscher Volkmar Sigusch und Gunter Schmidt, sowie die Daten des statistischen Bundesamtes, so geht offensichtlich der Trend in die Richtung, dass polyamores Sexualverhalten häufiger wird. Dies geschieht jedoch in einem gesellschaftlich-soziologischen und individualpsychologischen Kontext. Es ist sehr deutlich, dass polyamores Sexualverhalten in urbanen Lebensräumen und in bestimmten Berufsgruppen häufiger vorkommt (vgl. Literatur zur Metrosexualität). Zu diesen soziologischen und gesellschaftspolitischen Faktoren kommen jedoch auch individualpsychologische Faktoren hinzu. Eine hohe Tendenz zu Eifersucht, ein striktes monogames Treue-Ideal, ein hoher Besitz- und Ausschließlichkeitsanspruch sind individualpsychologische Prädiktoren, die der Polyamory tendenziell entgegenstehen. Soziologisch ist angesichts des hohen monogamen Treue-Ideals aktuell bei der Generation der Jugendlichen zu hinterfragen, ob hier nicht das Pendel zurückschlägt, in dem Sinne, dass nach der sexuellen Revolution in den Post-68er-Jahren die damals propagierte sexuelle Freizügigkeit jetzt bei der Nachfolge-Generation in einer Gegenbewegung partiell revidiert wird.

Ausblick

Die Polyamory ist ein bedeutsames aktuelles Beziehungsmodell, das in der Vielfalt der Variationen des Liebes- und Sexuallebens Bedeutung hat. Vermutlich wird es gegenläufige Entwicklungstendenzen geben, die generationsspezifisch sein dürften. Hinsichtlich Polyamory zeigen die heutigen Jugendlichen andere Werte und Einstellungen als ihre eigenen Eltern. Vermutlich dürften Sigusch die Prognosen von in seinem Konzept der Neosexualitäten (Sigusch 2005 a) darin bestätigt werden, dass es in Zukunft eine größere Vielfalt, mehr Variationen und ein Nebeneinander oder Gegeneinander verschiedener Formen der Liebe und Sexualität geben wird. Zutreffend spricht ja Sigusch von der »Dissoziation des Sexuellen«.

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Über den Autor

Herbert Csef

Herbert Csef, Universitätsprofessor für Psychosomatik, Psychoanalytiker, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Leiter der Schwerpunktes Psychosomatik in der Medizinischen Klinik und Poliklinik II, Zentrum für Innere Medizin  (Oberdürrbacher Straße 6)   und Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik (Josef-Schneider-Straße 2),  beides im Universitätsklinikum Würzburg  (97080 Würzburg).