Bisherige Ansätze nehmen die Pflegeperson selbst als Interaktionspartner des Menschen mit Demenz mit ihren impliziten Einstellungen dem Alter und den Demenzkranken gegenüber noch kaum als Gegenstand der Betrachtung wahr. Diese Lücke füllt vorliegende, in der Schweiz durchgeführte Untersuchung, indem sie einerseits an einer grösseren Stichprobe die Einstellungen von Pflegepersonen Menschen mit Demenz gegenüber mit der deutschsprachigen Fassung der DAS erhebt. Andererseits wird der Zusammenhang zwischen diesen Einstellungen und dem Verhalten der Pflegepersonen den Menschen mit Demenz gegenüber an Hand von Videosequenzen, die mittels Strukturaler Analyse sozialen Verhaltens (SASB) analysiert wurden, überprüft. Die Ergebnisse zeigen, dass die Pflegepersonen mehrheitlich eine positive bis sehr positive Einstellung Menschen mit Demenz gegenüber haben. Weiter konnte ein Zusammenhang zwischen Einstellung und Verhalten in der Richtung festgestellt werden, dass je positiver die Einstellung ist, desto grösser ist die Passung zwischen Pflegeperson und demenzkranker Person in der Interaktion. Ausgehend von den hier präsentierten Ergebnissen entwickeln die Autorinnen aktuell interaktionsorientierte Konzepte, die bisher bestehende konstruktiv ergänzen sollen.
Schüsselwörter: Demenz, Interaktion, Einstellungen, Dementia Attitudes Scale (DAS), Strukturale Analyse sozialen Verhaltens (SASB)
Keywords: dementia, interaction, attitude, Dementia Attitudes Scale (DAS), Structural Analysis of Social Behavior (SASB)
Current approaches hardly take the person behind the nurse, with his/her attitudes towards aging and dementia, into account as a part of the interaction with the demented person. This gap is filled by the present study conducted in Switzerland. On one hand data are collected concerning the nurses’ attitudes towards people with dementia, by using the German version of the Dementia Attitudes Scale (DAS). On the other hand the relationship between the nurses’ attitudes and their behavior towards people with dementia is studied. This is done by analyzing videotaped interaction sequences with the examination instrument ‘Structural Analysis of Social Behavior’ (SASB). Results show that the nurses’ attitudes towards people with dementia are mostly positive. Furthermore, it was noticed that the more positive the nurses’ attitudes towards dementia were, the more positive was their behavior towards people with dementia as well. Based on these findings the authors are currently developing interaction-oriented teaching concepts that aim to complement hitherto existing ones.
Schüsselwörter: Demenz, Interaktion, Einstellungen, Dementia Attitudes Scale (DAS), Strukturale Analyse sozialen Verhaltens (SASB)
Keywords: dementia, interaction, attitude, Dementia Attitudes Scale (DAS), Structural Analysis of Social Behavior (SASB)
Seit Kitwood (2008) hat sich in der Betreuung und Pflege demenzkranker Menschen der Grundsatz der »Personenorientierung« in der Pflegepraxis durchgesetzt. Aspekte der Lebensqualität und der ganzheitlichen Betrachtung des demenzkranken Menschen rückten zunehmend in den Mittelpunkt und haben den »verstehenden Ansatz« auch in der Aus-, Fort- und Weiterbildung Pflegender zu einem zentralen Gegenstand gemacht. Dennoch stellen Verhaltensauffälligkeiten der Betroffenen weiterhin eine grosse Herausforderung in der Pflege und Betreuung dar. Professionell Pflegende ebenso wie pflegende Angehörige können an ihre Grenzen stossen und die jeweils bestmögliche Lebensqualität ist für die Betroffenen nicht selbstverständlich erreicht.
Beruhend auf einem multidimensionalen Konzept der Lebensqualität für Demenzkranke (Lawton/Moos/Kleban/Glicksamn/Rovine 1991) haben sich in Forschung und Praxis Konzepte zur Gestaltung der Umwelt in den letzten Jahren sehr hervorgetan. Der in der Betreuung und Pflege zentrale Part der sozialen Umwelt, nämlich die Pflegeperson selbst, wird als Trägerin von Fachkompetenz und -wissen betrachtet. Dennoch gelingt nicht allen Pflegepersonen, selbst bei gleichem Qualifikationsprofil, die Pflege Demenzkranker in gleicher Weise. Es muss also noch andere Einflussfaktoren einer gelungenen Pflege Demenzkranker geben, die weder auf Seiten der Betroffenen noch auf Seiten der Umweltgestaltung zu finden sind. Bisherige Ansätze nehmen die Pflegeperson selbst als Interaktionspartner des Menschen mit Demenz mit ihren impliziten Annahmen, Einstellungen, Meinungen dem Alter und den Demenzkranken gegenüber noch kaum als Gegenstand der Betrachtung wahr. Dabei erfolgt der Umgang mit demenzkranken Menschen immer in der Begegnung zweier Personen bzw. Individuen und damit im gegenseitigen Bezogensein. Die Personenzentrierung wurde bisher nur auf einer Seite der Interaktionspartner, der des Demenzkranken, angewendet. Aus systemischer, interaktionsbasierter Sicht muss diese aber auch auf die jeweilige Pflegeperson erweitert werden. Denn gerade die subjektiven und oft unreflektierten Einstellungen gegenüber Demenzkranken üben einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Qualität der Pflege aus. Das Krankheitsverständnis gegenüber Menschen mit Demenz ist neben Persönlichkeitseigenschaften wie Selbstreflexion und Einfühlungsvermögen von einer differenzierten subjektiven Krankheitstheorie abhängig (Stechel/Lämmler/Steinhagen-Thiessen/Flick 2007). Eine undifferenzierte subjektive Krankheitstheorie seitens der Angehörigen oder weiterer Pflege- und Betreuungspersonen kann ein destabilisierender Faktor in der Interaktion mit einem demenzkranken Menschen sein. Dabei handelt es sich oft um eine Positionierung und Stigmatisierung, die Betroffenen werden auf ihre Erkrankung und ihre Defizite reduziert oder der Kompetenzverlust wird generalisiert. Psychologische und soziale Faktoren und deren Interaktionen haben demnach, neben den organischen Abbauprozessen, einen grossen Einfluss auf das individuelle Erscheinungsbild einer Demenzerkrankung. Somit sind stabile und auf gegenseitiges Vertrauen gestützte Beziehungen unterstützende Faktoren für eine effektive Demenzbewältigung (Stechel et al. 2007).
Soziale Identitäten (wie auch »Demenzkrank« eine darstellt) entwickeln sich vor allem in Interaktionsprozessen. Ist nun die implizite subjektive Einstellung einer Pflege- und Betreuungsperson der Demenzerkrankung gegenüber negativ, ängstlich und/oder ablehnend, so wird sich dies – selbst wenn sie rein formal über eine hohe Fachkompetenz und ein ausgewiesenes Qualifikationsprofil im Umgang mit Demenzkranken verfügt – auch in der Gestaltung der Interaktion mit den Betroffenen (implizit und/oder explizit) äussern. In solchen Interaktionen wird das Erscheinungsbild der Demenz als soziale Identität »Demenzkrank« über das erwartungsgemässe Verhalten des Betroffenen sichtbar, wenn nicht provoziert. Menschen mit Demenz sind in der Gesellschaft und im Speziellen in der Betreuungs- und Pflegesituation negativen Stereotypen über das Alter und über Demenz ausgesetzt. Eine Untersuchung von Scholl und Sabat (2008) zeigt auf, dass diese Einflüsse erhebliche Auswirkungen auf Menschen mit Demenz haben. Eine Studie von Burgener und Twigg (2002) zeigt, dass die Bedeutung der Beziehung des Menschen mit Demenz zur betreuenden Person evident ist. Betreuer-Faktoren repräsentieren Aspekte der externen Umwelt und unterstützen die Annahme, dass andere Faktoren als die Krankheit selbst Einfluss auf das Befinden der Menschen mit Demenz haben (Burgener/Twigg 2002). Auf der Grundlage einer umfangreichen Literatur, welche die negativen Auswirkungen von Stereotypen auf unterschiedlichen Altersstufen dokumentiert, wird darauf hingewiesen, dass gerade Menschen mit der Diagnose »Demenzerkrankung im Anfangs- oder mittleren Stadium« (mit leichten bis mittelschweren kognitiven Beeinträchtigungen) in der Regel sehr anfällig für die Bedrohung durch Stereotype sind. Dies ist der Fall, weil diese Menschen:
sich im Klaren sind über ihre Verluste,
auf diese Verluste mit entsprechenden Gefühlen reagieren, wie grosse Traurigkeit, Frustration und Wut,
versuchen, bestimmte Situationen zu vermeiden, in denen das Gefühl von Gedemütigtsein in Folge ihrer Verluste auftritt, und
erhöhte Ängstlichkeit aufgrund von Überforderung in bestimmten Situationen empfinden (Scholl/Sabat 2008).
Ziel der hier dargestellten Untersuchung war, die Pflegeperson selbst als Interaktionspartner des Menschen mit Demenz mit ihren impliziten Annahmen, Einstellungen, Meinungen dem Alter und den Demenzkranken gegenüber ins Zentrum zu stellen. Die Entwicklung der Skala »The Dementia Attitudes Scale DAS« (O’Connor/McFadden 2010) und deren deutschsprachige Übersetzung (Peng/Moor/Schelling 2011) ermöglichen eine standardisierte, die Gütekriterien einer psychologischen Testdiagnostik erfüllende Erhebung der Einstellungen von Pflege- und Betreuungspersonen demenzkranken Menschen gegenüber. Diese Einstelllungen sollten dem Verhalten der Pflege- und Betreuungspersonen in ihrer Interaktion mit Menschen mit Demenz gegenübergestellt werden. Damit sollte die bisher eher geringe empirische Evidenz erweitert und gezeigt werden, inwiefern die Einstellungen und das Verhalten von Pflege- und Betreuungspersonen das Verhalten der Demenzkranken vor- und mitbestimmen und damit zu deren sozialen Identität »Demenzkrank« beitragen. Erweitertes Ziel war, die in dieser Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse in einem Nachfolgeprojekt in die Entwicklung eines Schulungskonzepts für Pflege- und Betreuungspersonen von demenzkranken Menschen einfließen zu lassen.
Die Fragestellungen der Untersuchung lauteten:
Welche subjektiven Einstellungen zum Krankheitsbild »Demenz« besitzen Betreuende?
Welchen Einfluss haben diese subjektiven Einstellungen auf die konkrete Interaktion mit demenzkranken Menschen?
In einem ersten Schritt und zur Beantwortung der ersten Fragestellung wurde eine breite Erhebung mit der ins Deutsche übersetzten (Peng et al. 2011) englischen Skala »The Dementia Attitudes Scale DAS« (O’Connor/McFadden 2010) durchgeführt. Die DAS erfasst einerseits emotionale und behaviorale Aspekte (z.B. ob man Angst hat vor Menschen mit Demenz; ob man sich in ihrer Gegenwart wohl fühlt) sowie kognitive Aspekte, d.h. Auffassungen darüber, wie Menschen mit Demenz sind und was sie brauchen (z.B. dass Menschen mit Demenz das Leben genießen können; dass man vieles tun kann, um deren Leben zu verbessern). Die Skala umfasst 20 Items in Form von Aussagen, denen mittels einer 7-stufigen Likert Antwortskala zugestimmt bzw. nicht zugestimmt wird. Mit diesem Instrument kann grundsätzlich die Einstellung sowohl der Allgemeinbevölkerung als auch aller an der Pflege und Betreuung von demenzkranken Menschen beteiligten Akteure wie Angehörige, Beratende, Pflegepersonal oder Ärzteschaft erfasst werden (Peng et al. 2011, S. 5–6).
In einem zweiten Schritt wurden zur Beantwortung der zweiten Fragestellung Pflegende ausgewählt, deren Einstellung gegenüber Menschen mit Demenz gemäss Ergebnis in der DAS überdurchschnittlich positiv oder überdurchschnittlich wenig positiv ist. Die Interaktionen dieser Pflegepersonen mit zwei unterschiedlichen Menschen mit Demenz wurden beobachtet und mittels Videoaufnahmen dokumentiert. Die Beobachtungen fanden während je einer Essenssequenz zu Mittag und am Abend statt. Jede Filmsequenz dauert ungefähr 20 Minuten. Je Abteilung wurde die eine demenzkranke Person jeweils in der Essenssituation zu Mittag, die andere demenzkranke Person jeweils in der Essenssituation am Abend gefilmt. Je Abteilung wurde an zwei unterschiedlichen Tagen gefilmt. Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Beobachtungssequenzen. Dieses Beobachtungsraster gewährte unter den gegebenen zeitlichen und finanziellen Möglichkeiten sowie unter Berücksichtigung der Belastung der demenzkranken Menschen sowie der Pflegepersonen durch die Videoaufnahmen die besten Voraussetzungen, dass die Fragestellung 2 trotz der kleinen Stichprobe möglichst allgemein und nicht bezogen auf eine bestimmte Person mit Demenz oder eine bestimmte Tageszeit beantwortet werden konnte. Konkret wurde jede Pflegeperson in der Interaktion mit zwei unterschiedlichen demenzkranken Menschen beobachtet. Dadurch kann das Verhalten der Pflegeperson insofern objektiviert werden, als dass sie in ihrer Interaktion nicht mit einer einzigen demenzkranken Person beobachtet wurde, mit der sie zufällig eine sehr gute beziehungsweise sehr schwierige Interaktionsgestaltung hat. Dasselbe gilt aus der anderen Perspektive genauso für das Verhalten der demenzkranken Personen. Weiterhin wurden die demenzkranken Personen von beiden Pflegepersonen in derselben Interaktionssituation beobachtet, entweder in der Essenssituation zu Mittag oder am Abend. Auf diese Weise wurden die Bedingungen für die beiden Pflegepersonen in der Interaktion mit einer demenzkranken Person so weit wie möglich gleich gehalten. Ein vollständig gekreuztes Design, bei dem jede Pflegeperson in der Interaktion mit jeder demenzkranken Person sowohl in einer Essenssituation zu Mittag als auch am Abend beobachtet worden wäre, wäre aus forschungsmethodischer Sicht vorzuziehen gewesen, hätte jedoch praktisch die Belastbarkeit der Beteiligten sowie die finanziellen und zeitlichen Ressourcen überschritten. Die Videoaufnahmen wurden mit dem Instrument SASB (Strukturale Analyse sozialen Verhaltens, Tress/Hartkamp 2002) ausgewertet.
Die Daten aus den Fragebögen der Pflegepersonen sowie aus der Interaktionsbeobachtung wurden anonymisiert und mittels SPSS verarbeitet und ausgewertet.
Die Videodokumentationen wurden neben der Verwendung für Forschungszwecke zur institutionsinternen Weiterbildung verwendet. Diese Weiterbildungen wurden den an der Videodokumentation beteiligten Institutionen kostenfrei von der Projektleitung angeboten. Dabei wurden in jeder Institution nur die jeweils dort vor Ort aufgenommenen Videos verwendet ̶ unter der Voraussetzung, dass die gezeigten Pflegepersonen sowie die vertretungsberechtigten Angehörigen der gezeigten demenzkranken Personen damit einverstanden waren.
Insgesamt 170 DAS-Fragebögen (Peng et al. 2011) wurden an sechs Institutionen der Langzeitpflege in der deutschsprachigen Schweiz verschickt. 97 Fragebögen wurden ausgefüllt retourniert. Elf Fragebögen mussten von der Auswertung ausgeschlossen werden, weil sie unvollständig ausgefüllt worden waren. Die in die Auswertung einbezogenen Fragebögen von N=86 entsprechen einem Anteil von 51%. 76 dieser Fragebögen wurden von Frauen ausgefüllt (88%), zehn von Männern (12%). Das Durchschnittsalter dieser Personen beträgt 42 Jahre, sie verfügen durchschnittlich über neun Jahre Berufserfahrung in der Pflege- und Betreuung von Menschen mit Demenz in Institutionen der Langzeitpflege. 65 Personen (76%) sind schweizerischer Nationalität, die restlichen 24% verteilen sich über verschiedene Nationen. 33 der antwortenden Personen (38%) sind ausgebildete Pflegefachpersonen HF oder FH. Die nächst größere Ausbildungsgruppe sind PflegehelferInnen SRK (N=28, 33%). Die verbleibenden 29% verteilen sich zu etwa gleichen Teilen auf Fachangestellte Gesundheit, AssistentIn Gesundheit und Soziales sowie weitere Ausbildungen und Personen in Ausbildung. 34 Personen (30%) arbeiten auf spezialisierten Demenzabteilungen, 52 Personen (70%) auf sog. gemischten Abteilungen, auf denen nicht ausschließlich Menschen mit Demenz wohnen und leben.
Von den sechs Institutionen waren drei bereit, auch am zweiten Teil der Untersuchung, der Videodokumentation von Interaktionen zwischen Pflegenden und Menschen mit Demenz teilzunehmen. Zwei Institutionen, eine mit einer spezialisierten und eine mit einer gemischten Abteilung für Menschen mit Demenz werden vom gleichen Träger geführt, die dritte Institution hat sowohl eine gemischte als auch eine spezialisierte Abteilung im Angebot. Von diesen je zwei gemischten und spezialisierten Abteilungen wurden je zwei Pflegepersonen nach folgenden Kriterien für die Videodokumentation ausgewählt:
DAS wurde vollständig ausgefüllt
Arbeitspensum von mindestens 50%
Bereitschaft zur Teilnahme an der Videodokumentation
die beiden Personen je Abteilung haben maximal entfernte Werte in der DAS-Skala
die beiden Personen je Abteilung gehören der gleichen Alterskategorie an
Von den so ausgewählten Personen sind sieben Frauen (87.5%) und ein Mann (12.5%). Das Durchschnittsalter beträgt 39 Jahre. Sechs Personen sind schweizerischer und zwei Personen sind deutscher Nationalität. Durch je zwei Personen vertreten sind die Ausbildungskategorien Pflegefachperson HF/FH, PflegehelferIn SRK, Fachangestellte Gesundheit in Ausbildung, BetagtenbetreuerIn. Der kleinste Wert dieser ausgewählten Personen auf der DAS ist 93, der grösste 124. Je grösser der DAS-Wert, desto positiver ist die Einstellung der Person gegenüber Menschen mit Demenz.
Von diesen je zwei gemischten und spezialisierten Abteilungen wurden von den Institutionsleitungen je zwei Menschen mit Demenz ausgewählt, für die von den vertretungsberechtigten Angehörigen das Einverständnis zur Beobachtung in der Interaktion mit den Pflegenden und zur Videodokumentation vorlag. Die Angehörigen waren schriftlich und mündlich von den Institutionsleitungen über das Projekt informiert worden. Von den ausgewählten demenzkranken Personen waren fünf Frauen und drei Männer. Die Essenssituation als zu beobachtende Interaktionssituation wurde ausgewählt, um die Intimsphäre der demenzkranken Personen so weit wie möglich zu gewährleisten. Das Essen wird in gemeinschaftlichen Räumen der Institutionen und nicht in den privaten Zimmern der demenzkranken Personen eingenommen. Die Beobachtung einer Essenssituation tangiert die Intimsphäre weit weniger als z.B. die Beobachtung während einer Pflegesituation.
In der DAS kann ein Gesamtwert zwischen 20 und 140 Punkten erreicht werden. Je höher der Punktwert, desto positiver die Einstellung der ausfüllenden Person zu Menschen mit Demenz.
In der hier vorliegenden Stichprobe von N=86 beträgt der Mittelwert des Gesamtwertes in der DAS 117 Punkte (SD=11), der tiefste DAS Gesamtwert beträgt 88, der höchste 134 Punkte. Ein Vergleich zwischen den Altersgruppen zeigt, dass die Altersgruppe der 35-46-jährigen mit durchschnittlich 111 Punkten (SD=10) den signifikant tiefsten DAS Gesamtwert aller Altersgruppen hat (F=3.0, p=.034).
Die Analysen zeigten weiter, dass Personen, die auf einer spezialisierten Abteilung für Menschen mit Demenz arbeiten, mit einem durchschnittlichen Gesamtwert von 121 (SD=8, N=34) eine signifikant positivere Einstellung Menschen mit Demenz gegenüber haben als Personen, die auf einer gemischten Abteilung arbeiten mit einem durchschnittlichen Gesamtwert von 114 (SD=12, N=52). Die Variablen Anzahl Jahre Berufserfahrung in der Arbeit mit demenzkranken Menschen, Art der Ausbildung sowie Geschlecht der Pflege- und Betreuungspersonen haben alle keinen signifikanten Einfluss auf die Einstellung der Pflege- und Betreuungspersonen Menschen mit Demenz gegenüber.
Mit der strukturalen Analyse sozialen Verhaltens (SASB) können Interaktionsprozesse zwischen zwei Menschen, die in der Interaktion beide Sender und Empfänger sein können, qualitativ beurteilt werden. Eine Qualität im SASB ist die Komplementarität. Bei einem als komplementär beurteilten Interaktionsprozess sind die aktive (Sender) und passive (Empfänger) Position im Sinne einer Passung aufeinander ausgerichtet. Die aktive wie die passive Position in einem Interaktionsprozess können diese Komplementarität auf vielfältige Art verletzen. Die gesamte Gruppe der Komplementaritätsverletzungen wird als Mischform bezeichnet. Komplementäre Interaktionen sind gelungene Prozesse, Mischformen sind nicht gelungene Interaktionen, d.h. das Gesendete und das Empfangene passen nicht zueinander.
In der Auswertung der Videosequenzen wurde jeder Interaktionsprozess zwischen einer Pflege- und Betreuungsperson und einem Menschen mit Demenz beurteilt und entweder der Kategorie »Komplementär« oder »Mischform« zugewiesen. Daraus wurde einerseits ein Summenwert über die gesamte Videosequenz für die beiden Kategorien gebildet. Um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass nicht in jeder Videosequenz gleich viele Interaktionsprozesse stattfanden, wurde zusätzlich der relative Anteil der beiden Kategorien in einer Sequenz durch ihren prozentualen Anteil berechnet.
Insgesamt zeigte sich, dass der Anteil an Mischformen (über alle 16 Videosequenzen gezählt) mit 58% den Anteil an komplementären Interaktionen mit 42% deutlich übersteigt.
Korrelationsanalysen zwischen dem DAS-Gesamtwert und den prozentualen Anteilen an den beiden Qualitäten der Interaktion (summiert über die Mittags- und Abendsequenzen) zeigen einen statistisch bedeutsamen (p=.05) positiven Zusammenhang zwischen dem DAS-Gesamtwert und dem prozentualen Anteil an komplementären Interaktionen von r=.63 und einen entsprechend negativen Zusammenhang zwischen dem DAS-Gesamtwert und dem prozentualen Anteil an Mischformen von r=-.63. Dies bedeutet, dass je positiver die Einstellung einer Pflege- und Betreuungsperson einem demenzkranken Menschen gegenüber ist, desto grösser ist der Anteil an komplementären, also gelingenden Interaktionsprozessen. Nach Tageszeiten getrennt betrachtet zeigt sich dieser eben beschriebene Zusammenhang mit einem Korrelationskoeffizienten von r=.61 zu Mittag ungleich deutlicher als am Abend mit einem Korrelationskoeffizienten von r=.26.
Betrachtet man die beiden Gruppen an je N=4 Pflege- und Betreuungspersonen, die entweder auf Grund ihrer sehr positiven Einstellung bzw. vergleichsweise deutlich weniger positiven Einstellung demenzkranken Menschen gegenüber aus der Gesamtstichprobe von N=86 für die Videosequenzen ausgewählt wurden, ergibt sich die in Tabelle 3 ersichtliche Verteilung der Anteile an komplementären Interaktionen und Mischformen, getrennt in Mittags- und Abendsequenzen betrachtet.
Die Daten in Tabelle 3 unterstreichen den Befund der Korrelationsanalysen. Für die Videosequenzen zu Mittag zeigt sich, dass die Pflege- und Betreuungspersonen mit einer positiven Einstellung Menschen mit Demenz gegenüber einen im Vergleich zu Pflege- und Betreuungspersonen mit einer weniger positiven Einstellung grösseren Anteil an komplementären Interaktionen und kleineren Anteil an Interaktionen vom Typ Mischform zeigen. Dies heisst, dass die Pflege- und Betreuungspersonen mit positiver Einstellung die Essenssituation mit den Demenzkranken zu Mittag gelingender gestalten. Genau das umgekehrte Bild zeigt sich für die Interaktionen in der Essenssituation am Abend.
Die Ergebnisse haben gezeigt, dass die in dieser Studie befragten Pflege- und Betreuungspersonen eine mehrheitlich positive bis sehr positive Einstellung gegenüber Menschen mit Demenz haben. Dieser Befund deckt sich mit den Ergebnissen bei O’Connor und McFadden (2010) und bei Peng et al. (2011). Ebenso übereinstimmend mit diesen Studien zeigen unsere Daten, dass Pflege- und Betreuungspersonen auf spezialisierten Abteilungen, die somit einen intensiveren Kontakt mit Menschen mit Demenz haben, durchschnittlich eine positivere Einstellung der Erkrankung und den Erkrankten gegenüber haben. Die Interpretation liegt nahe, dass durch ihren fast täglichen Kontakt mit den Betroffenen ein differenzierteres Bild ihrer Lebenssituation entstehen kann. Es werden nicht nur die krankheitsbedingten Defizite, sondern vermehrt auch Potentiale und verbliebene Kompetenzen der demenzkranken Menschen gesehen. Diese Interpretation deckt sich mit Studien, die zeigen konnten, dass unabhängig vom Stadium der Demenz die Häufigkeit des positiven Affekts nicht abnimmt. Emotional negative Erlebnisse werden mit Fortschreiten der Erkrankung zwar häufiger, insgesamt jedoch bleibt die Affektbilanz positiv (Becker/Kruse/Schröder/Seidl 2005; Becker/Kaspar/Kruse 2010; Becker 2012). Der Befund, dass die Altersgruppe der 35-46-jährigen von allen Altersgruppen die am wenigsten positive Einstellung Menschen mit Demenz gegenüber hat, kann möglicherweise dadurch erklärt werden, dass sie sich in der sog. »rush hour des Lebens« befinden. Sie sind in vielen Fällen sowohl beruflich als auch privat sehr eingespannt bis belastet, so dass es ihnen möglicherweise schwerer fällt, den Umgang mit demenzkranken Menschen und somit demenzkranke Menschen selber als positiv zu erleben.
Unabhängig von den subjektiven Einstellungen Pflegender hat die qualitative Beurteilung der Interaktionsprozesse gezeigt, dass gesamthaft der Anteil an komplementären, d.h. gelingenden Interaktionen zwischen Pflege- und Betreuungspersonen und den von ihnen betreuten Menschen mit Demenz, geringer ist als der Anteil an nicht gelingenden. Gleichzeitig ist jedoch die Interaktion umso gelingender, je positiver die Einstellung der Pflege- und Betreuungspersonen den Menschen mit Demenz gegenüber ist. Dieser signifikante Zusammenhang zwischen den subjektiven Einstellungen der Pflegenden und gelingender Interaktion bestätigt bisherige Studien.
Dieses Ergebnis hat sich in Bezug auf die Analyse der Anteile an komplementären Interaktionen und Mischformen für die gebildeten Extremgruppen mit sehr positiver bzw. sehr wenig positiver Einstellung Menschen mit Demenz gegenüber nur bedingt, d.h. nur für die analysierten Sequenzen beim Mittag-, nicht aber beim Abendessen bestätigt. In Anbetracht des durch den großen methodischen Aufwand bedingten geringen Umfangs der Untersuchung kann dies dennoch als bedeutsamer Befund für die Bestätigung der bisher eher geringen empirischen Evidenz, dass negative Einstellungen Pflegender zu ungünstigem Beziehungsverhalten und in der Folge zu »schwierigem« Verhalten der demenzkranken Menschen führen, gewertet werden. Umfangreichere Studien, die diese Zusammenhänge ebenfalls bestätigen, wären zukünftig wünschenswert und ein zentraler Beitrag zur Förderung der Lebensqualität von Menschen mit Demenz.
Die vorliegenden Ergebnisse weisen einen deutlichen Handlungsbedarf auf, der nicht alleine durch Aus- und Weiterbildung der Pflegenden, welche vor allem stark auf die Vermittlung von Fachwissen über die Erkrankung fokussiert, gedeckt werden kann. Fachwissen (auch im Sinne von Grades) allein scheint für eine gelungene Interaktionsgestaltung in der Pflegepraxis nicht ausreichend zu sein und stellt im Alltag keine Garantie für gelingende Interaktionen und eine daraus resultierende Lebensqualität für die Betroffenen dar. Vielmehr muss ein personenzentrierter Ansatz im Umgang mit Menschen mit Demenz nicht nur die Betroffenen selbst, sondern zukünftig vermehrt auch die Person der/des Betreuenden bzw. Pflegenden in den Blick nehmen. Zukünftig gilt es Konzepte zu entwickeln, mit deren Hilfe es möglich ist, auch (Persönlichkeits‑)Aspekte auf Seiten der Pflege- und Betreuungspersonen nachhaltig positiv zu entwickeln. Wie vorliegende Ergebnisse ebenfalls zeigen konnten, scheint die Möglichkeit, Menschen mit Demenz auch in positiven Alltagssituationen erleben zu können, Ängste abzubauen und den Blick zu öffnen für deren verbliebene Kompetenzen. Diese zu erkennen kann eine Einstellungsänderung auf Seiten der Pflegenden bewirken. So kann die Fähigkeit, subjektive Einstellungen und negative Stereotype und deren Einfluss auf die Interaktion mit Menschen mit Demenz bewusst zu erkennen und gezielt zu hinterfragen eine neue Kompetenz in der Pflege von Menschen mit Demenz darstellen, die nicht allein durch die Vermittlung von Fachwissen gelehrt werden kann. Die Entwicklung geeigneter Lehr- und Lernkonzepte zur Persönlichkeitsentwicklung für Pflegende (z.B. die Förderung der Selbstreflexion und Introspektionsfähigkeit bzgl. subjektiver Einstellungen) könnte so einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Lebenssituation der Menschen mit Demenz, aber auch der Arbeitszufriedenheit der Pflegenden selbst leisten. Solche interaktionsorientierte Konzepte (die beide an der Interaktion beteiligte Seiten berücksichtigen), die bisher bestehende konstruktiv ergänzen können, werden aktuell vom Autorinnenteam entwickelt.
Becker, Stefanie (2012): Das Herz wird nicht dement: Lebensqualität und Glücksgefühle für Menschen mit Demenz. CURAVIVA, 6, 26–29.
Becker, Stefanie; Kaspar, Roman & Kruse, Andreas (2010): Heidelberger Instrument zur Erfassung von Lebensqualität bei demenzkranken Menschen. Bern (Huber).
Becker, Stefanie; Kruse, Andreas; Schröder, Johannes & Seidl, Ulrich (2005): Heidelberger Instrument zur Erfassung von Lebensqualität bei demenzkranken Menschen. Zeitschrift für Gerontologie & Geriatrie, 38, 108–121.
Burgener, Sandy & Twigg, Prudence (2002): Relationships Among Caregiver Factors and Quality of Life in Care Recipients with Irreversible Dementia. Alzheimer Disease and Associated Disorders an International Journal, 16(2), 88–102.
Kitwood, Tom (2008): Der personenzentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen. 5. Auflage. Bern (Huber).
Lawton, Mortimer; Moos, Miriam; Kleban, Morton; Glicksamn, Allen & Rovine, Michael (1991): A Two-factor Model of Caregiving Appraisal and Psychological Well-Being. The Journal of Gerontology, 46(6), 181–189.
O’Connor, Melissa & McFadden, Susan (2010): Development and Psychometric Validation of the Dementia Attitudes Scale. International Journal of Alzheimer’s Disease, 2010, 10 pages.
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Stechel, Elisabeth; Lämmler, Gernot; Steinhagen-Thiessen, Elisabeth & Flick, Uwe (2007): Subjektive Wahrnehmung und Bewältigung der Demenz im Frühstadium. Eine qualitative Interviewstudie mit Betroffenen und Angehörigen. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 40, 71–80.
Tress, Wolfgang & Hartkamp, Norbert (2002): Die Strukturale Analyse Sozialen Verhaltens Ein Arbeitsbuch für Forschung, Praxis und Weiterbildung in der Psychotherapie. München (CIP-Medien).
Regula Blaser, Prof. Dr. phil., Psychologin, Dozentin Institut Alter Berner Fachhochschule, Arbeitsschwerpunkte: Demenz, Lebensqualität im Alter, Wohnen im Alter, Ältere Arbeitnehmende