Buchbesprechung

Andrea Birbaumer

Gisela Steins (Hrsg.) (2010): Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Ein 430 Seiten starkes Handbuch, das sich ausschließlich der Geschlechterforschung in der Psychologie widmet, lässt das Herz höher schlagen. Die Erwartungen sind hoch – und werden beim ersten Blick auf das Inhaltsverzeichnis gleich gedämpft. Dieses liest sich vorwiegend wie das eines x-beliebigen psychologischen Lehrbuchs, da hat jede Teildisziplin ihren Platz bekommen und darf ihre Erkenntnisse ausbreiten. Im Einführungsbeitrag der Herausgeberin kann man dann lesen, dass die Geschlechterforschung in psychologischen Lehrwerken keine Rolle spiele und auch nicht institutionalisiert sei (S. 11). Möglicherweise war der so herkömmlich 'mainstreamige' Aufbau des Buches genau dieser Realitätseinschätzung geschuldet? Sollte hier eben dieses umfassende fehlende Lehrwerk geschaffen werden? In der Folge wird die Verfasstheit der Wissenschaft Psychologie als durch Disziplinen strukturiert referiert. Nicht spezifischen Forschungsgegenständen, sondern genau dieser Disziplinenstrukturierung, die ja problematisiert wird, folgt dann auch das Buch. Im einführenden ersten Kapitel steckt die Herausgeberin Rahmen und Ziel ab. Es wird die Geschlechterforschung in der Psychologie als von den historischen Anfängen in der feministischen Frauenforschung einerseits und der sozialkonstruktivistischen Sichtweise andererseits dominiert beschrieben. Ziel des Buches sei es, unterschiedliche Ansätze darzustellen und bekannt zu machen – auch einem breiteren Publikum. Das theoretische Spannungsfeld wird mit biologischen, sozialen und kulturellen sowie interaktionistischen Paradigmen kurz umrissen. Eine nicht besonders aussagekräftige Tabelle zur Charakterisierung der einbezogenen psychologischen Disziplinen soll einen Überblick über die Beiträge geben. Auffallend dabei ist allerdings, dass bspw. die Klinische Psychologie als ein wesentliches Teilgebiet der Psychologie fehlt, dafür aber ein Beitrag der Sportsoziologie gewidmet ist. Bei genauerer Betrachtung der einzelnen Beiträge drängt sich ein gewisser Beliebigkeitscharakter der Inhalte auf. Man gewinnt zuweilen den Eindruck, dass der Versuch, die psychologischen Teildisziplinen abzudecken im Vordergrund stand und die fachliche Relevanz hintangestellt wurde. Die Beiträge stellen entweder große Überblicke dar oder beschäftigen sich – im Gegensatz dazu – mit Detailfragen, deren Auswahl sich dem Leser/der Leserin nicht immer erschließt. Die von der Herausgeberin erwähnte angestrebte Gleichverteilung von Autoren und Autorinnen ist nicht gegeben. Fast alle AutorInnen des Buches sind Frauen, in Einzelfällen scheinen Männer als Co-Autoren auf, ein einziger Beitrag wurde von zwei Männern verfasst. Diese Verteilung ist wohl als realitätsangemessen zu betrachten, sie spiegelt m.E. die Beschäftigung mit dem Thema Geschlecht wieder – diese ist auch wissenschaftlich in erster Linie Frauensache oder wie es Petia Genkova in ihrem Beitrag zu 'Politischer Psychologie' ausdrückt. »Genderforscher oder insbesondere Genderforscherin zu sein, wird als keine ernsthafte Leistung angesehen und deswegen von vielen gemieden« (S. 289).

Die Problematik der Gliederung nach Disziplinen offenbart sich zunächst im ersten Teil des Buches, der mit 'Grundlagen' übertitelt ist und Beiträge aus der Sozial-, Emotions-, Motivations- Neuro- und Allgemeinen Psychologie enthält. Alle diese Beiträge liefern sich zum Teil nur geringfügig voneinander unterscheidende Überblicke, in denen eine Sammlung an mehr oder weniger klassischen empirischen Studien dargeboten wird, die aus der jeweiligen Fachsicht Unterschiede zwischen Männern und Frauen darlegen und damit enden, dass vor allem mit einer psychosozialen Herangehensweise weiter geforscht werden sollte. Wenn man wiederholt lesen muss, dass es die Frage von 'Anlage und Umwelt' gibt, dass sich die Ergebnisse von Studien zum Thema 'mathematische Fähigkeiten und Raumvorstellung' geschlechtsspezifisch unterscheiden und ähnliches mehr, steigt die Frustration. Gerade in der Geschlechterforschung gilt es über den teildisziplinären Tellerrand hinauszublicken und Querverbindungen herzustellen. Das würde dieses Handbuch von anderen psychologischen Handbüchern unterscheiden. Die Auseinandersetzung mit Konsequenzen aus den bekannten empirischen Erkenntnissen, mit Folgerungen für eine politische und soziale Praxis, für bildungspolitische Maßnahmen, psychosoziale Versorgung etc. wäre auch einer immer wieder erwähnten 'noch jungen Wissenschaft' mittlerweile durchaus zuzumuten.

Gerade im Grundlagen-Teil des Buches findet gegen Ende einiger Beiträge der biopsychosoziale Ansatz Erwähnung ebenso wie die Problematik der Übertragbarkeit psychometrischer Verfahren auf den 'Alltag'. Über das Anführen der mittlerweile hinlänglich bekannten problematischen Schlussfolgerungen, die aus eben diesen Verfahren gezogen werden, wie bspw. 'Frauen eignen sich nicht für…' sollte die Psychologie in einem aktuellen Handbuch schon hinausgehen. Unsere aktuelle Herausforderung wäre doch, darüber nachzudenken und zu forschen, wie sich die Interaktion von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren gestaltet. Unsere 'fachliche Auseinandersetzung' erschöpft sich scheinbar immer noch darin, diese Interaktion zu postulieren und fehlende Studien einzumahnen. In den wenigen Fällen, in denen integrative Ansätze angewandt und unterschiedliche Ergebnisse festgestellt werden, ist das Ergebnis die Feststellung von Komplexität und weiterem Forschungsbedarf.

Den Abschluss des Grundlagenteils bildet ein Beitrag zur 'Allgemeinen Psychologie', der schon im Titel die Frage aufwirft, ob denn geschlechtsspezifische Unterschiede in der Allgemeinen Psychologie überhaupt berücksichtigt werden sollten. Haider und Malberg, die Autorinnen dieses Beitrags, kommen zu folgendem Schluss: »Aufgrund der unklaren Befundlage zum Ausmaß der geschlechtsspezifischen Unterschiede sollte man Geschlecht in den allgemeinpsychologischen Experimenten als potentielle Störvariable berücksichtigen und durch Konstanthaltung der Geschlechtsverteilung in den Experimentalbedingungen kontrollieren« (S. 125). Welche grundlegenden Aussagen über welche Allgemeinheit mit einer solchen wissenschaftlichen Herangehensweise überhaupt getroffen werden können, sei dahin gestellt.

Teil II des Handbuchs beschäftigt sich mit Entwicklungsverläufen und enthält nur zwei Beiträge, einen über Körperentwicklung und Körperbild bei Jugendlichen und einen zweiten, der entwicklungspsychologische, kulturwissenschaftliche und biopsychologische Grundlagen einbezieht. Letzteres allein ist bei der oben erwähnten teildisziplinär engen Ausrichtung der meisten Beiträge schon wohltuend. Die Autorin Bischof-Köhler bezieht hier eindeutig Stellung – u.a. zum bisher eher oberflächlich abgehandelten 'Anlage-Umwelt-Problem': «…dass Geschlechtsstereotype nicht willkürlich konstruiert sind, sondern eine anlagebedingte Grundlage haben; man kann sie wohl nicht einfach per Dekret aus der Welt schaffen. Es wäre eine Menge zu sagen, wie man sich das Zusammenspiel von anlagebedingten Neigungen und soziokulturellen Einflüssen im Einzelnen vorzustellen hat« (S. 168). Dieser Beitrag hebt sich auch insofern von den bisher erwähnten ab, als die Autorin 'wagt', über Konsequenzen ihrer Befunde nachzudenken. Ihr Fazit ist demnach auch auf eine gesellschaftliche Ebene bezogen, wenn sie sagt: »Anstatt eine Angleichung anzustreben, könnte das Ideal doch wohl auch darin bestehen, gesellschaftliche Bedingungen zu realisieren, unter denen jede und jeder die Variante der Geschlechtsrolle realisieren kann, die ihrer oder seiner Neigung am nächsten kommt« (S. 169).

'Ein Blick in verschiedene Lebenswelten?' ist die Frage, die den dritten Teil des Buches charakterisieren soll. Wenn man dem ersten Teil 'Anlage-Umwelt' als Etikett zuschreiben möchte, so ist es bei Teil III 'Sex und Gender'. Die 'Lebenswelten', die in diesem Abschnitt vorgestellt werden, sind eine Sammlung von unterschiedlichen Anwendungsbereichen psychologischer Praxis, von der Pädagogik über die Gesundheit, Medien, Forensik bis zu Sport und Verkehr. Wie die politische Psychologie in diese Sammlung hineingeraten ist, erschließt sich mir nicht unbedingt. Die Qualität und Relevanz der hier versammelten Beiträge ist unterschiedlich. So erscheinen die Beiträge zur Verkehrspsychologie und Sportsoziologie wenig relevant im Sinne psychologischer Geschlechterforschung. Wesentlich interessanter ist der Beitrag zum Thema 'Gesundheitspsychologie' von Monika Sieverding, der einige vielversprechende Ansätze für geschlechtersensible Prävention und Gesundheitsförderung darstellt. Leider widmen sich andere Beiträge dieses Kapitels nur sehr eng umgrenzten Teilbereichen der jeweiligen Praxisfelder und wirken wie ein recht beliebiges Sammelsurium. Erfrischend die deutliche Kritik an 'Gender Mainstreaming' im Beitrag zu 'Politischer Psychologie', eine, im Handbuch nicht allzu verbreitete, alltags- und realitätsrelevante Auseinandersetzung von Petia Genkova.

Das letzte Kapitel (Teil IV) charakterisiert die Herausgeberin als «…Metaebene des Themas Psychologie und Geschlechterforschung« (S. 22). Es widmet sich in sechs Beiträgen unter anderem aus historischer, kritisch-psychologischer und friedenspsychologischer Sicht kritisch dem Verhältnis von Psychologie und Geschlechterforschung. Hier sind einige vielversprechende Ansätze, wie beispielsweise ein subjektwissenschaftlicher, für eine zukünftige Geschlechterforschung in der Psychologie zu finden. Dieser letzte Teil des Buches mit durchwegs lesenswerten und interessanten Beiträgen entschädigt ein wenig für die vorangegangenen. Hier werden herkömmliche Herangehensweisen in Frage gestellt und neuere Theorien mit einbezogen. Die hier vertretenen Ansätze sind jene, die eine Weiterentwicklung der Geschlechterforschung in der Psychologie m.E. erst möglich machen.

Die Klassifizierung dieser Beiträge als 'zusätzliche Metaebene' ist charakteristisch für die Verfasstheit des Faches Psychologie und leider auch für dieses 'Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung'. Statt unterschiedliche theoretische Herangehensweisen einander gegenüber zu stellen, werden die (nicht einmal vollständigen) Teildisziplinen auf herkömmliche Art und Weise abgehandelt. Alles, was in die Mainstream-Betrachtungsweise nicht hineinpasst, kann hier nur mehr als angehängte »zusätzliche« Reflexion verstanden werden.

So liefert dieses Handbuch Grundlagen wie alle anderen Handbücher auch, immerhin wurde versucht, der Geschlechterforschung im Fach Psychologie nachzuspüren, wenn auch die Struktur des Buches und die ausgewählten Beiträge nicht immer glücklich sind. Einzelne Beiträge sind hochwertig und anregend, entweder für die Forschung oder für Anwendung und Umsetzung psychologischer Erkenntnisse. Das Buch liefert Überblicke, manchmal auch Einblicke, marginal kritische Auseinandersetzung, noch weniger Querverbindungen zwischen einzelnen Teildisziplinen. Interdisziplinarität wird zwar als Notwendigkeit in der Geschlechterforschung postuliert, das Buch selbst fördert aber wohl eher die Sicht aus einer 'Schrebergartenperspektive'.

Zusammenfassend würde ich dieses Handbuch als ersten Schritt in Richtung Psychologie und Geschlechterforschung bezeichnen, ein nächstes Buch müsste Stellung beziehen, ein selbstbewusstes Herangehen aus einer Genderperspektive ermöglichen sowie die gesellschaftliche und politische Ebene psychologischen Forschens und Handelns in den Mittelpunkt stellen.

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Andrea Birbaumer

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