Editorial

Hans-Jürgen Seel & Ralph Sichler

Vor allem in den modernen Industrienationen wird etwa ab der Mitte des vergangenen Jahrhunderts ein deutlich anschwellender Bedarf an Beratung in den unterschiedlichsten Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens verzeichnet. Im Jargon der Soziologie ist zur Bezeichnung dieses Phänomens der Terminus »Beratungsgesellschaft« (oder »beratene Gesellschaft«, vgl. Schützeichel/Brüsemeister 2004) kreiert worden. Der Begriff weist auf den Umstand hin, dass in einer aufgrund von Arbeitsteilung immer stärker ausdifferenzierten Gesellschaft vermehrt und verstärkt Fragen, Aufgaben und Probleme in Erscheinung treten, die das Individuum, die Familie sowie Gruppen und Organisationen in den verschiedenen Bereichen des sozialen Lebens nicht mehr alleine bearbeiten und bewältigen können. Die im Alltag und in allgemein zugänglichen Bildungsinstitutionen wie etwa der Schule erworbene Kompetenz zur Bewältigung unterschiedlichster Problemstellungen reicht in vielen Situationen nicht mehr aus, es bedarf zusätzlich der Expertise durch Beraterinnen und Berater.

Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Entwicklung hat sich in den letzten Jahren die Sensibilität gegenüber der Profession Beratung erhöht. Es gibt mittlerweile eine Vielzahl an Ausbildungen, auch Studiengängen und Verbänden sowie vielfältige wissenschaftliche Bemühungen, die an einer weiteren Professionalisierung der Beratung in ihren verschiedenen Feldern arbeiten. Ob und inwieweit dies gelingt, ist eine Frage, die nicht leicht zu beantworten ist. Vieles wird sich erst in der Zukunft zeigen. Gleichwohl macht es Sinn, diese Entwicklung thematisch und kritisch zu begleiten. Diese Intention verfolgen wir mit der Themenstellung dieses Heftes. Sie geht auf neuere Entwicklungen der Deutschen Gesellschaft für Beratung (DGfB), des Dachverbands der mit Beratung befassten ca. 30 Einzelverbände (www.dachverband-beratung.de), zurück. Auf dem Hintergrund eines Workshops zu den Aufgabenstellungen des Dachverbands wurde eine Weiterentwicklung des gemeinsamen Beratungsbegriffs angestoßen.

Im Kontext einer breiten Bestimmung, wonach sich Beratung mit der theoriegeleiteten, kooperativen Bearbeitung von Entwicklungsaufgaben und multifaktoriell bestimmten Problemstellungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten befasst, wird in der Gesellschaft für Beratung und in den angeschlossenen Verbänden der Fokus auf eine Professionalisierung reflexiver Beratung in einer reflexiven Gesellschaft gelegt. Ohne der Diskussion in unserem Heft allzu sehr vorzugreifen bedeutet reflexive Beratung, dass im Zuge von Beratungen immer auch die Beratungsklient_innen selbst in besonderer Weise zum Gegenstand oder Thema gemacht werden. Dies betrifft sie als Subjekt von Handlungen und in ihren Beziehungen zu Anderen, ihrer Selbstdefinition in privaten oder professionellen Kontexten, ihren Einstellungen und Überzeugungen, ihrer Stellung in der Gesellschaft etc. Dabei können die Beratungsklient_innen grundsätzlich sowohl einzelne Individuen als auch Aggregate von Individuen sein wie Familien, korporierte Subjekte wie Arbeitsorganisationen und andere juristische Personen, aber auch solche Gruppierungen wie Netzwerke, Initiativen u. ä.

Reflexivität von Beratung soll jedoch nicht nur auf die Subjekte beschränkt bleiben, sondern auch die gesellschaftlichen Zusammenhänge thematisieren. Die Workshopteilnehmer_innen erwarteten vom Dachverband, dass er aufgrund der gemeinsamen Beratungserfahrungen zu gesellschaftlichen Entwicklungen und Problematiken letztlich im Interesse der Klient_innen und der Qualität von Beratung Stellung bezieht und entsprechende Diskurse initiiert und pflegt.

Die mit unserem Call for papers verbundene Zielsetzung lässt sich als ein Versuchsballon beschreiben, der in die psychologische scientific community aufsteigt und Reaktionen des Diskursumfelds abfragt. Damit verbunden war die Hoffnung auf einen Einstieg in einen differenzierten Fachdiskurs. Explizit wurde darauf hingewiesen, dass nicht nur hochspezialisierte Fachwissenschaftler_innen zu Wort kommen sollten, sondern auch Praktiker_innen mit einem Interesse an theoretischen oder Beratungspraxis reflektierenden Überlegungen. Erwartet wurden Beiträge etwa in der Tradition der »Psychologie des reflexiven Subjekts« (Groeben/Scheele 1977) und/oder der »reflexiven Sozialpsychologie« (Keupp 1993) und/oder einer Einordnung in die Diskussion um die »reflexive Modernisierung« (Beck/Giddens/Lash 1996). Wir rechneten mit einer großen Bandbreite an Themenstellungen, nicht zuletzt auch deshalb, weil sich Beratung selbst nicht gerade als ein überschaubares, homogenes Themenfeld darstellt. Ganz im Gegenteil findet sich dort eine geradezu ausufernde Zahl von Beiträgen ganz verschiedener Art: von Praxisberichten über verfahrensspezifische Problemstellungen, Beiträgen aus verschiedensten Fachrichtungen bis hin zu Fragen der Beratungsprofession und entsprechender Aus- und Weiterbildungen. Das dreibändige Handbuch der Beratung (Nestmann/Engel/Sickendiek 2004a, 2004b, 2013) fächert diese Vielfalt beeindruckend auf.

Betrachtet man die in diesem Heft versammelten Beiträge näher, so erkennt man, dass der Umgang mit dem Thema Reflexivität sehr unterschiedlich ausfällt. Dies verstärkt den Eindruck, dass es noch keine etablierten Diskursstandards zum Thema speziell in der Psychologie zu geben scheint. Das sollte sich im Interesse der Professionalisierung reflexiver Beratung ändern und wird durch eine aktuelle Publikation (Seel 2014) hoffentlich angeregt. Betrachtet man die von den Autor_innen genutzten Möglichkeiten der Annäherung an das Thema, dann fällt auf, dass Reflexivität meistens als eine Frage der persönlichen Kompetenz von Berater_innen und deren methodischen Ressourcen zur Bewältigung ihrer Arbeitsaufgaben und/oder der Ressourcen von Klient_innen zur Bewältigung ihrer Lebenssituation diskutiert wird. Es dominiert der Blick auf die konkrete Interaktionssituation von Berater_in und Klient_in mit dem Ziel, diese Interaktion zu verbessern. Diese Sichtweise ist naheliegend, denn Beratung ist primär als eine bestimmte Form der Kommunikation zwischen Subjekten zu verstehen. Diese Fokussierung auf die Interaktion im Beratungssetting ergibt sich jedoch nicht zwangsläufig, denn es könnte etwa auch die Profession Beratung als gesellschaftliche Institution, ihre Rolle in einer Gesellschaft der reflexiven Modernisierung diskutiert werden, indem z.B. Beratung als Agentur von Individualisierungsprozessen thematisiert wird. Des Weiteren könnte die unüberschaubare Vielfalt von Beratungsangeboten, -konzepten, -verfahren und -rahmenvorgaben reflektiert werden wie auch die Frage, ob nicht in Beratungen wertvolles Wissen geschaffen wird, und ob nicht die in Beratungen generierten Wissensbestände auch noch auf andere Weise reflexiv genutzt werden sollten. Entsprechendes Wissen wäre z.B. für reflexive gesellschaftliche Diskurse äußerst wertvoll, um unter anderem auf die Bedingungen einzuwirken, die dafür verantwortlich sind, dass immer wieder und immer mehr Beratungen zur Lebensbewältigung notwendig werden, weil die beratenen Subjekte selbst damit allein nicht klarkommen.

Auffällig ist ferner, dass sich drei Beiträge auf den Bereich der Bildungs- bzw. Berufsberatung konzentrieren (Pachner, Sowa, Weißbach/Weißbach). In diesem Sektor wird seit einiger Zeit die Qualität der Beratung von der EU politisch eingefordert, was dann auch verstärkte einschlägige wissenschaftliche Anstrengungen nach sich zieht.

Im Einzelnen interpretieren die Autor_innen Reflexivität im Zusammenhang von Beratung nach unserem Verständnis wie folgt:

Anita Pachner orientiert sich zunächst am Begriff der »reflexiven Modernisierung« (Beck/Giddens/Lash 1996). Sie verknüpft ihre Überlegungen mit Erkenntnissen aus der reflexiven Sozialpsychologie (insbesondere Keupp 1994, 2004) und erarbeitet sich einen systemtheoretischen Begriff von Reflexion als Operation, mit der ein System sich im Unterschied von seiner Umwelt beobachtet. Im empirischen Teil analysiert sie Abschlussarbeiten der Weiterbildungsakademie Österreich (wba), Wien. Dabei fokussiert und diskutiert sie die Auseinandersetzung der Absolvent_innen mit den Anforderungen an ihre Klient_innen und an die Beratung sowie die Konsequenzen, die sie für ihre persönliche Reflexion als Beratende ziehen.

Heinz Jürgen Kaiser bezieht seine Ausführungen auf die Reflexion von Beratungen etwa in Supervisionen und schlägt dafür ein von ihm mitentwickeltes handlungstheoretisches Konzept zur sozialwissenschaftlichen Grundlegung von Beratung vor. In diesem Rahmen fächert er einerseits Reflexivität weiter auf und bezieht den Begriff auf sieben unterschiedliche Aspekte im Beratungsprozess. Andererseits dient ihm das handlungstheoretische Konzept auch als Hintergrundfolie zur Analyse und Reflexion von Beratungsprozessen.

Aus der Praxis und deshalb interessiert an konkreten praktischen und praktizierbaren Konzepten gehen die Beiträge von Kai Lenßen sowie von Barbara Weißbach und Hans Jürgen Weißbach hervor. Sie sind Beispiele für eine mittlerweile beträchtliche Anzahl an praxisorientierten Beiträgen in der Beratungsliteratur, die häufig auch von praktisch tätigen Berater_innen geschrieben werden. Sie stellen Konzepte, Verfahren, Verfahrenselemente und Methoden bereit, die sich vor allem in ihrer Praxis bewährt haben. Bezüge zu wissenschaftlich-theoretischen Ansätzen werden dabei in unterschiedlicher Weise hergestellt. Weißbach und Weißbach entwickeln einen Vorschlag zur Kompetenzbilanzierung als Methode reflexiver Selbstexploration. Lenßen stellt ein multifunktionales Interventions-Instrument für Praktiker_innen vor, das er »Verhaltens-Variogramm (VVG)« nennt und das der Modellierung sowie Reflexion eines problemlösungsorientierten Berater_innenhandelns dient.

Eines speziellen Bereichs praktischer Beratung nimmt sich Frank Sowa an, der Berufsberatung in der Arbeitsverwaltung. Er thematisiert damit Beratung in einem administrativen Bereich. Dort wurde sie sehr lange als bloßer Verwaltungsakt gehandhabt, dem wesentlich eine Kontrollfunktion mitgegeben wurde. Er wendet sich den damit verbundenen Problemen zu und diskutiert die Möglichkeit einer reflexiven Beratung im Spannungsfeld von Kontrolle und Autonomie.

Die Verknüpfung von Beratung mit Kontrollaufgaben ist auch in der Sozialen Arbeit eine Problematik, die eine reflexive Arbeit behindern kann. In diesem Bereich ist der Beitrag von Barbara Bräutigam und Matthias Müller angesiedelt. Sie fokussieren allerdings mehr die Anforderungen an die reflexiven Kompetenzen von Berater_innen und Klient_innen bei niedrigschwelligen Beratungsangeboten, welche insbesondere für Menschen, die häufig über weniger symbolisches Kapital nach Bourdieu verfügen, von herausragender Bedeutung sind. Sie stellen damit auf ein großes praktisches Problem der Sozialen Arbeit ab.

Franz-Christian Schubert thematisiert die Gefahr, dass sich reflexive Beratung zu einer Individualisierungsagentur gesellschaftlicher Problematiken instrumentalisieren lässt. Dies kann leicht geschehen als Folge einer Fixierung des Blicks auf das von gesellschaftlichen Zusammenhängen isolierte dyadische oder triadische Beratungssetting. So können sämtliche Schwierigkeiten in Beratungen auf die reflexiven Kompetenzen von Berater_innen und Klient_innen und auf Defizite der Verfahrensweisen geschoben werden. Er versucht, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und die Kompetenzen der an Beratung Beteiligten mit dem Ressourcenbegriff zu verbinden, indem er auf ein »ökologisch-systemisches Wissenschafts- und Handlungsverständnis« zurückgreift.

Betrachtet man diese Ausgabe des Journals im Zusammenhang, ergibt sich ein Bild aus ganz verschiedenen Kontexten und Interessen, denen die thematische Gemeinsamkeit außer durch die Verwendung der Begriffe »Reflexivität« und »Beratung« nur schwer anzusehen ist. Beratungsformen, die mit korporierten Subjekten interagieren (z. B. Organisationsberatung, Politikberatung etc.), wurden in diesem Heft nicht oder nur am Rande berücksichtigt. All dies deutet auf noch beträchtliche Konzept- und Forschungsdesiderata hin, welche durch weitere Arbeiten in der Zukunft verkleinert werden sollten. Wenn wir mit diesem Heft einen Anstoß dazu gegeben haben, wäre schon viel erreicht.

In eigener Sache

Mit dem Ende des Jahres verlässt Hans-Jürgen Seel den Kreis der Herausgebenden des Journals für Psychologie. Jürgen Seel möchte sich in den kommenden Jahren vor allem seiner Arbeit in der Deutschen Gesellschaft für Beratung widmen. Auch wenn dieser Schritt nachvollziehbar ist, bedauern die Kolleginnen und Kollegen das Ausscheiden sehr. Jürgen Seel hat vor mehr als zwanzig Jahren das Journal für Psychologie mit begründet und sich von Anbeginn vor allem auch dafür eingesetzt, dass theoretische Diskurse immer auf psychologische Praxis bezogen werden. Zusätzlich wirkte er im Kreis der Herausgebenden immer als wertvolle Integrationsfigur. Die Herausgebenden danken für sein Engagement und die gemeinsam erlebten Stunden. Wir wünsche alles Gute für die nächsten Vorhaben und Jahre.

Literatur

Beck, Ulrich; Giddens, Anthony & Lash, Scott (1996): Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Frankfurt/Main (Suhrkamp).

Groeben, Norbert & Scheele, Brigitte (1977): Argumente für eine Psychologie des reflexiven Subjekts. Paradigmawechsel vom behavioralen zum epistemologischen Menschenbild. Darmstadt (Steinkopff).

Keupp, Heiner (1994): Grundzüge einer reflexiven Sozialpsychologie. Postmoderne Perspektiven. In: Keupp, Heiner (Hg.): Zugänge zum Subjekt. Perspektiven einer reflexiven Sozialpsychologie. Frankfurt/Main (Suhrkamp), S. 226–274.

Keupp, Heiner (2004): Beratung als Förderung von Identitätsarbeit in der Spätmoderne. In: Nestmann, Frank; Engel, Frank & Sickendiek, Ursel (Hg): Das Handbuch der Beratung. Band 1. Disziplinen und Zugänge. Tübingen (DGVT-Verlag), S. 469–484.

Nestmann, Frank; Engel, Frank & Sickendiek, Ursel (Hg.) (2004a): Das Handbuch der Beratung. Band 1. Disziplinen und Zugänge. Tübingen (DGVT-Verlag).

Nestmann, Frank; Engel, Frank & Sickendiek, Ursel (Hg.) (2004b): Das Handbuch der Beratung. Band 2. Ansätze, Methoden und Felder. Tübingen (DGVT-Verlag).

Nestmann, Frank; Engel, Frank & Sickendiek, Ursel (Hg.) (2013): Das Handbuch der Beratung. Band 3. Neue Beratungswelten: Fortschritte und Kontroversen. Tübingen (DGVT-Verlag).

Schützeichel, Rainer & Brüsemeister, Thomas (Hg.) (2004): Die beratene Gesellschaft. Zur gesellschaftlichen Bedeutung von Beratung. Wiesbaden (Verlag für Sozialwissenschaften).

Seel, Hans-Jürgen (2014): Beratung: Reflexivität als Profession. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).

Über die Autoren

Hans-Jürgen Seel

Dr. phil., Diplom-Psychologe, emeritierter Professor an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Technischen Hochschule Nürnberg Georg-Simon-Ohm. Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Beratung (DGfB).

Arbeitsschwerpunkt: Beratung.

E-Mail: Hans-Juergen.Seel@th-nuernberg.de

Ralph Sichler

Dr. phil., Diplom-Psychologe, Leiter des Fachbereichs Management-, Organisations- und Personalberatung an der Fachhochschule Wiener Neustadt sowie Professor für Angewandte Psychologie an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien.

Arbeitsschwerpunkte: Arbeit und Autonomie, Soziale Anerkennung in Arbeit und Organisation, Personalmanagement, Führung, Kulturpsychologie, Grundlagen interpretativer Sozialforschung.

Univ. Doz. Dr. Ralph Sichler Fachhochschule Wiener Neustadt Fachbereich Management-, Organisations- und Personalberatung Johannes Gutenberg-Straße 3 A-2700 Wiener Neustadt

E-Mail: ralph.sichler@fhwn.ac.at