Reflexivität der Beratung und Reflexivität der Ratsuchenden
Zur Bedeutung einer Handlungspsychologie für die Praxis von Sozialpädagogik und Sozialarbeit

Heinz Jürgen Kaiser

Zusammenfassung

Die Beratung von Menschen in unserer Gesellschaft ist seit einigen Jahren Gegenstand einer Reflexion der auf den Sozialwissenschaften aufruhenden beruflichen Praxis von Sozialwissenschaftlern. Dabei geht es nicht nur um das Verhältnis zwischen Theoriebildung einerseits und der damit begründeten Praxis andererseits, sondern auch um die gesellschaftliche Relevanz dieser (Beratungs‑)Praxis in einer Gesellschaft, die als postmodern charakterisiert wird. Um diese Thematik geht es in einer intensiven fachlichen Diskussion vor allem in jenen Teilen der Sozialwissenschaften, die die Grundlage bilden für praktische Beratung im Rahmen von Sozialpädagogik und Sozialarbeit und die sich dort um die Probleme kümmern, welche sich den Menschen im Hinblick auf ihr alltägliches Tun und Entscheiden in einer Gesellschaft der »reflexiven Modernisierung« stellen. Es wird aufgezeigt, dass eine differenzierte Theorie menschlichen Handelns – seit langem bereits Teil einer umfangreichen Theorieentwicklung in der Psychologie – geeignet ist, auch für die Theoriebildung im Bereich der Sozialarbeit Anregungen liefern könnte. Dieses Potenzial hat sie möglicherweise sowohl im Hinblick auf die Anleitung praktischer Beratungstätigkeit als auch auf den Versuch, praktische Beratungserfahrungen und wissenschaftliche Grundlegung der Beratung miteinander systematisch zu verbinden.

Schüsselwörter: Theorie der Beratung, Handlungstheorie, Reflexivität der Beratung, Reflektiertheit des Handelns, reflexive Modernisierung

Keywords: Theory of counselling, action theory, reflexivity of counselling, reflexive modernisation, reflected actions

Summary

Social counselling of individuals in our society is a matter of reflexion of the professional practice on the basis of social sciences. The subject of the discussion is not only the relation between theory construction on the one hand and the theoretical based practice on the other hand, but also the relevance of the practice of counselling in a society which is characterized as postmodern. This issue is the topic of an intensive scientific discussion in the practice oriented social sciences, giving – for example – the background of social pedagogy and social work. Here the counsellors have to attend to the problems of individuals in the context of their every day actions and decisions in a society of «reflexive modernisation”. The text will show that a sophisticated psychological theory of human action is suitable for the guidance of the practical counselling of these individuals in the field of social work as well as the attempt of a systematic reflexion of practice on the one hand and scientific theory construction on the other.

Schüsselwörter: Theorie der Beratung, Handlungstheorie, Reflexivität der Beratung, Reflektiertheit des Handelns, reflexive Modernisierung

Keywords: Theory of counselling, action theory, reflexivity of counselling, reflexive modernisation, reflected actions

1. Einleitung

Eine Gesellschaft der »Reflexiven Modernisierung« ist eine Gesellschaft, in der viel Gewohntes infrage gestellt wird und die den Zwang mit sich bringt, dass die in ihr lebenden Menschen »sich immer neu orientieren oder gar definieren .. müssen.« Und. ... »nicht nur die Wissensbestände verändern sich rapide, sondern genau so schnell verändern sich die konkret-praktischen Handlungsregeln in sämtlichen Lebensbereichen« (Seel 2009). Es geht damit in den Worten der derzeit geführten wissenschaftlichen Diskussion um Beratung als einer zentralen Institution der »Reflexiven Modernisierung«.

Hinter dem Begriff der reflexiven Modernisierung verbirgt sich zum einen eine Diskussion über den Weg, auf dem sich moderne Industriegesellschaften befinden oder auf den sie gebracht werden sollen. Es geht um die Möglichkeiten und Fähigkeiten der Bürger dieser Gesellschaften, ihr Leben unter den mittlerweile gegebenen sozialen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und technischen Bedingungen bewusst zu gestalten, Subjekte statt Objekte der Verhältnisse zu sein oder zu werden. Diese »Reflexivität« zu leben, ist eine schwierige Aufgabe, die nicht jeder bewältigen kann. Um aus diesem Defizit resultierende Probleme hat sich eine professionelle Beratung u.a. zu kümmern.

Zum anderen geht es auch um diese professionelle Beratung selbst und der ihr eigenen Reflexivität, d.h. um die Qualität ihres wissenschaftlichen Fundaments, um den Austausch und Abgleich zwischen den Erkenntnissen, die in der Beratung gewonnen werden und der Wissenschaft, auf der die Beratung aufruht.

Zugleich geht es auch um die Interaktion der Beratung mit ihrer Klientel zum Wohle des Beratungserfolges. Das wiederum heißt, »dass im Zuge von Beratungen immer auch die BeratungsklientInnen in besonderer Weise zum Gegenstand oder Thema gemacht werden. Dies betrifft sie als Subjekt von Handlungen und ihren Beziehungen zu Anderen, ihrer Selbstdefinition, ihren Einstellungen und Überzeugungen, ihrer Stellung in der Gesellschaft etc.« (s. cfp vom 25.07.2013, Journal f. Psychologie).

Mit dieser Programmatik ist der Gegenstand der Bemühungen um Reflexivität festgelegt: Es geht jedenfalls um den Menschen als ein handelndes Individuum, um sein Subjekt-Sein. Genau das ist Sichtweise und Gegenstand handlungspsychologischer Ansätze in der Psychologie.

Die folgende, diesem Menschenbild entsprechende Darstellung spezifischer (vor allem terminologischer) Elemente der Handlungspsychologie wendet sich vor allem an jene Fachleute des Arbeitsfeldes Sozialarbeit, die mit dessen Theoriebildung beschäftigt sind oder die mit einem Erfahrungs- und Gedankenaustausch zwischen den »Praktikern« und den »Theoretikern« im Sinne von SupervisorInnen betraut sind. Sie werden bemerken, dass ein differenzierter handlungspsychologischer Ansatz insbesondere für jene Felder sozialer Praxis von Interesse und angemessen ist, in denen Beratung stattfindet, in denen deshalb auch Gespräche und Methoden der Konsensbildung zum Einsatz kommen. Das dürfte in der Sozialpädagogik und Sozialarbeit sicherlich relativ häufig der Fall sein.

Die Bezugnahme auf Handlungstheorie(n) und Handlungspsychologie bei der Professionalisierung der Beratung soll außerdem der Gefahr begegnen, »dass Beratung instrumentell verkürzt wird und nur noch methodische Verfahrensprinzipien verhandelt werden« (Keupp 2006, S. 865; s. auch Rechtien 2009, S. 3).

Einen Überblick über Bereiche der Praxis von Sozialwissenschaften (nicht nur der Beratung) mit handlungspsychologischer Fundierung bieten im übrigen Kaiser & Werbik (2012).

2. Der Begriff des Handelns – Blick auf ein brauchbares psychologisches Konzept

Der Begriff des Handelns steht seit etlichen Jahrzehnten im Mittelpunkt der Entwicklung spezifischer psychologischer Theorien mit je besonderen Geltens- und Anwendungsbereichen. Herausgebildet haben sich etwa motivationspsychologische Ansätze (z.B. Atkinson 1970), systemtheoretische Ansätze (Carver/Scheier 1981), strukturalistische Ansätze (Schank/Abelson 1977; Aebli 1980) oder tätigkeitsorientierte Ansätze (Luria 1979; Hacker 1978) (s. die Übersicht bei Brandtstädter 2001). Eine differenzierte theoretische Ausarbeitung des Konstrukts »Handlung« als Interpretationskonstrukt findet sich im deutschen Sprachraum etwa bei Werbik (1978) oder Lenk (1978).

Der Begriff des Handelns geht im Allgemeinen davon aus, dass menschliches Verhalten in vielen Fällen der Lebenswirklichkeit nicht ein bloßer Reflex auf irgendwelche Reizgegebenheiten ist, seien es äußere (also Umweltreize) oder »innere«, vom Organismus selbst erzeugte. Das fragliche Verhalten, das Handeln genannt wird, ist vielmehr als das Ergebnis einer mehr oder weniger bewussten Entscheidung von Menschen zu interpretieren, und zwar einer Entscheidung, die im Kontext der Wahl zwischen verschiedenen Verhaltensalternativen gefallen ist, wobei sie in dieser Wahl- und Entscheidungssituation ganz bestimmte Prinzipien beachten, die von Weber (1921/1980) als »subjektiver Sinn« bezeichnet wurde. Eine Psychologie, die zu ihrem Gegenstand maßgeblich jenen subjektiven Sinn ernannt hat, den Menschen ihrem Tun zugrunde legen, erfüllt die Forderung von Holzkamp (1983), die Psychologie von einer »Objektwissenschaft« zu einer »Subjektwissenschaft« zu wandeln. Damit wollte er sicherstellen, dass in der Theoriebildung und in der Forschung die subjektiven Sichtweisen und Auffassungen der Menschen in differenzierter Weise zur Geltung gebracht werden (vgl. auch Kaiser/Werbik 2012, S. 195).

Bei der Verwendung des Begriffes »Handeln« unterstellen wir im Rahmen dieser Programmatik den Personen Verschiedenes an subjektiven Sichtweisen und Auffassungen gleichzeitig:

Wir gehen zunächst einmal, wie gesagt, davon aus, dass die handelnde Person ihrem Tun einen Sinn geben kann, Handeln also als ein sinngehaltsgemäßes Tun betrachtet werden kann. Ein Sinn kann selbstverständlich auch hinter einem Nichtstun stecken, dann nennen wir dies »unterlassen«, und auch Unterlassungen sind Handlungen.

Ferner gilt die Annahme, dass Handlungen aus Wahl- und Entscheidungssituationen hervorgehen. Wahlsituationen sind Situationen, in denen Verhaltensalternativen zur Verfügung stehen, von denen die handelnde Person dann eine ergreift (vielleicht, wie gesagt, auch jene, nichts zu tun). Für diese Entscheidung lassen sich dann in der Regel Argumente finden, von der Person selbst oder von einem Beobachter, der zumindest Hypothesen darüber bilden kann. Die einer Handlung zuzuordnenden Argumente können auch als ihre »Gründe« bezeichnet werden. Mit ihrer Hilfe lassen sich Handlungen also begründen. Solcherart handlungsbegründende Sinngehalte lassen sich weiter differenzieren:

Liegen für eine Handlung rationale Gründe vor, könnte man sie als »Vernunftgründe« bezeichnen. Vernunftgründe, also jene auf der Basis von Nachdenken und Urteilen statt von bloßen Impulsen oder Emotionen zustande gekommenen, können allerdings unterschiedlicher Art sein:

Vielleicht lassen sich ganz bestimmte Intentionen (Absichten), gerichtet auf bestimmte Ziele, einer Handlung zuordnen und ihr auf diese Weise einen (subjektiven) Sinn geben. Oder es sind Regeln, die beachtet werden, oder auch Traditionen einer Gemeinschaft, denen eine Person folgt, usw.

Wenn wir dagegen die Gefühle, die Emotionen, identifizieren, die das Tun der Beteiligten angestachelt haben, finden wir nicht selten nachvollziehbare emotionale Gründe, nachvollziehbar in Relation zu bestimmten (sozialen) Situationen. Es sind Situationen denkbar, die bei Menschen üblicherweise zum Beispiel Wut oder Erschrecken hervorrufen. Dann ist ihr Tun nicht unbedingt irrational oder unvernünftig. Wir könnten deswegen hier auch von Handlungen reden, von emotionalen Handlungen eben.

Man sieht also, dass man unterschiedliche Arten oder »Typen« von Handlungen identifizieren kann, je nachdem, welche Begründungen für das beobachtete Handeln gefunden werden können, oder, anders ausgedrückt: welche »Sinngehalte« zu unterstellen sind.

Die möglichen Sinngehalte, die zu den Gründen des Handelns führen, könnte man insgesamt und allgemein als »Handlungsorientierungen« bezeichnen, denn es sind ja gewissermaßen Orientierungsleitlinien, die Menschen in ihrem Tun in unterschiedlicher Weise und relativ zu unterschiedlichen Situationszusammenhängen beachten.

Im Rahmen einer Psychologie des Handelns, die sich von hier aus entwickeln lässt, bedeutet der Aufweis bestimmter Handlungsorientierungen, die von Menschen beachtet werden, eine Erklärung für das jeweils beobachtete Handeln. Beschreibung und Erklärung menschlichen Verhaltens, ob Handlung oder nicht, sind das fundamentale Erkenntnisinteresse jeder Theorie in der Psychologie und der Ausgangspunkt für die praktische Arbeit mit Menschen.

Für die Praxis des professionellen und reflexiven Umganges mit Menschen ist die folgende Besonderheit das zentrale Argument für die Brauchbarkeit einer Psychologie des Handelns im Beratungskontext: Sprechen wir von Handlungen, glauben wir nicht, dass es eine Unabänderlichkeit für ihr Entstehen gegeben hat. Es entspricht unbedingt unserer lebenspraktischen Vorstellung vom Menschen, so etwas wie »Wahlfreiheit«, zu unterstellen. Es gibt eine Menge an wissenschaftlicher Literatur, die diese Annahme gut begründet erscheinen lässt, und die entsprechend sagt: Wenn wir von Verhaltensweisen als von Handlungen sprechen, gehen wir davon aus, dass der Handelnde die Wahl hatte, dieses Verhalten auszuführen, es zu unterlassen oder sich auch für eine ganz andere Verhaltensweise zu entscheiden (vgl. z.B. Wachter 2009). Das ist jedenfalls im Prinzip zu unterstellen und gilt auch dann, wenn die KlientInnen dies im Rahmen seines problematischen alltäglichen Handelns selbst so nicht gesehen und erlebt haben.

Mit diesen Gedanken im Hinterkopf können wir im Dialog mit unseren Klienten so etwas wie »Handlungsdetektiv« spielen:

Wenn wir diesen Fragen nachgehen, erforschen wir gewissermaßen das Zustandeko m men des Handelns, denn wir versuchen jene Sinngehalte zu ermitteln, welche die von uns beobachtete handelnde Person bei der Wahl der Verhaltensalternative angeleitet haben mag und die dem Verhalten als Handlung seine spezifische Form und Ausrichtung gegeben haben. Diese Frage bezieht sich zunächst auf die Rekonstruktion einer individuellen Handlungsrationalität, also die Prinzipien des Handelns einer individuellen Person. Doch ihre Handlungsprinzipien sind im sozialen und gesellschaftlichen Kontext herangebildete Leitlinien und tragen deshalb auch allgemeine / verallgemeinerbare Züge (so etwa auch: Seel 2009).

Das Konzept der Handlungspsychologie ist nicht nur im Hinblick auf ihr Gegenstandsverständnis (Handeln statt Verhalten; Mensch als Subjekt denn als reaktiver Organismus etc.) für die Beratung von Bedeutung, sondern auch aus Gründen der von ihr ausgearbeiteten methodischen Prinzipien. Zu ihnen gehört etwa die Entscheidung, einen »konsenstheoretischen« Wahrheitsbegriff zu vertreten. Er legt fest, unter welchen Bedingungen wir eine Aussage über die Handlungsrationalität einer Person gelten lassen wollen.

Im alltäglichen Leben sind wir geneigt, als »wahr« das zu bezeichnen, was uns selbst offensichtlich, plausibel oder einsichtig ist, wenn ein Satz über die Wirklichkeit mit unserer Wahrnehmung dieser Wirklichkeit korrespondiert (»korrespondenztheoretischer Wahrheitsbegriff« im Sinne von Thomas von Aquin, vgl. Kaiser/Werbik 2012, S.53 f.). Genau dieser Umgang mit der Wahrheit ist aber die Quelle diverser Probleme im Alltagsleben, insbesondere ein Erschwernis im Umgang mit anderen Menschen. Angewandte Sozialwissenschaften, die gerade alltägliche soziale Probleme überwinden helfen sollen, haben sich deshalb der Frage der Wahrheit handlungsinterpretierender Aussagen zu stellen. Allgemein ausgedrückt: Wann ist eine Aussage über einen jeweils untersuchten Wirklichkeitsausschnitt als »wahr« zu bezeichnen?

Die Verwendung von »wahr« und »Wahrheit« ist seit den Tagen der klassischen griechischen Philosophie sozusagen ein heißes Eisen, bis heute (vgl. bereits Künne 1994). Heute entscheiden sich wahrscheinlich die meisten empirischen Wissenschaftler für einen konsenstheoret i schen Wahrheitsbegriff. Danach gilt eine Aussage über die Wirklichkeit / über einen empirischen Sachverhalt dann als wahr, wenn sie mit den Aussagen anderer Personen zum selben Sachverhalt übereinstimmt (s. Kamlah/Lorenzen 1967). Anders und genauer formuliert: Wahrheit meint, dass eine wahre Aussage dadurch gekennzeichnet ist, dass ihr die (im Übrigen nicht abgeschlossene) Gesamtheit der sachkundigen und gutwilligen Personen zustimmen (können) (vgl. Werbik 1987). Im Beratungskontext wären das beispielsweise alle anderen akademisch ausgebildeten BeraterInnen. Diese vielleicht etwas komplizierte Lösung des Problems ist nötig, weil eine Aussage über die Wirklichkeit nicht mit dieser selbst, sondern nur mit einer anderen Aussage über die Wirklichkeit verglichen werden kann. Ein solcher Wahrheitsbegriff zwingt, wenn es um Forschung geht, zum Diskurs unter Fachleuten, was wiederum die Notwendigkeit einer gemeinsamen terminologischen Basis des Redens miteinander unterstreicht. Wenn der Gegenstand der Aussagen allerdings Handlungen von Personen sind, etwa von KlientInnen in einer Beratung, sind auch die KlientInnen in die Ermittlung dessen einzubeziehen, was als Wahrheit akzeptiert werden soll. Der Dialog zwischen BeraterIn und KlientInnen hat aus handlungspsychologischer Sicht dann jedenfalls das Ziel, per Konsens festzulegen, was als »wahre«, auf jeden Fall aber angemessene, akzeptable etc. Aussagen über die Sinngehalte gelten soll, anhand derer die Handlungsweisen der KlientInnen eine beratungsrelevante Interpretation erfahren.

Beratungen mit dem Interesse an der Lösung interpersonaler Konflikte beispielsweise sehen deshalb einen Dialog zwischen den Konfliktpartnern vor, der von eine(r)m BeraterIn als Vermittler beobachtet und ggf. angeleitet wird. Als »wahr« gelten dann Aussagen, die von den Konfliktpartnern und von den BeraterInnen gemeinsam akzeptiert werden. So gesehen schreitet der Prozess einer Beratung fort auf Basis eines konsensstiftenden Dialoges, der als Element einer »Beratungstriade« als Methode der Konsensbildung eingeführt wurde (vgl. Werbik 1976; Korthals-Beyerlein/Seel 1981). Auch hier ist freilich vorauszusetzen, dass die/der BeraterIn als sachverständige(r) VertreterIn der (wie gesagt nicht abgeschlossenen) Gesamtheit von BeraterInnen gelten kann. In dieser Rolle kann sie/er gemeinsam mit den KlientInnen sowohl über die Ziele der Beratung, als auch über das weitere Vorgehen in begründeter Weise entscheiden. Allerdings muss auch bedacht werden, dass ggf. der Kreis der »Sachverständigen« zu erweitern ist um den Kreis der »Erfahrenen«, d.h. der mit dem Leben Erfahrenen. Die sind sicher auch unter den KlientInnen zu finden (vgl. Werbik/Kaiser 1987). Das heißt, die Perspektiven aller beteiligten Personen werden in die Ermittlung »wahrer« Aussagen einbezogen. Das ist der Sinn der Beratungstriade, der allerdings nur erfüllt werden kann, wenn wir in der Beratung davon ausgehen können, dass alle Beteiligten wahrhaftig reden, also das äußern, was sie wirklich denken. Mithin ist im Rahmen einer Beratung auch die Aufgabe zu erfüllen, eine Situation zu schaffen, die es den Teilnehmern nahelegt und ermöglicht, wahrhaftig zu reden.

Nicht nur die Beratung selbst, sondern auch die Fortentwicklung (»Professionalisierung«) jener Theorien, die Beratungsprozesse anleiten, könnte nach diesen Verfahrungsprinzipien realisiert werden, d.h. dass Elemente der Theorien unter Einschluss der Erfahrungen und Aussagen von KlientInnen formuliert werden. Das ist die Konsequenz einer handlungstheoretischen Konzeption von Sozialwissenschaft: Sozialwissenschaft als Dialog (Kaiser/Seel 1981 b). Dieses grundlegende Konzept einer handlungspsychologischen Beratungsforschung wurde übrigens später für den Bereich der Unternehmensberatung aufgegriffen (s. Wolf 2000).

Gehen wir nun von diesem Hinweis auf die methodischen Prinzipien der Handlungstheorie und ihre Bedeutung für die soziale Arbeit und die Theorieentwicklung hin zu den inhaltl i chen Aspekten einer handlungstheoretisch fundierten Beratung, nämlich zu der bereits angekündigten Möglichkeit, Typen menschlichen Handelns voneinander zu unterscheiden.

3. Typen des Handelns

Eine Typologie des Handelns informiert über das, was als »spezifische Formen« von Handlungen rekonstruierbar ist. Eine Kenntnis der dort aufgeführten Typen erleichtert den PraktikerInnen den Zugang zur subjektiven Welt ihrer KlientInnen. Das gilt vor allem dann, wenn den BeraterInnen verschiedene Varianten von Handlungstypologien zur Verfügung stehen, die jeweils unterschiedliche Aspekte der Betrachtung des Handelns der KlientInnen herausarbeiten.

Die Fachliteratur zusammenfassend könnte man vor allem die folgende Typen des Handelns benennen und damit eine Grundlage schaffen, sowohl den BeraterInnen als auch ihrer Klientel selbst Einblick in eine differenzierte Rationalität der ratsuchenden Menschen in ihrem Tun zu geben (s. entsprechend Kaiser /Werbik 2012):

Zweckrationales Handeln

Der in der Forschung und wohl auch schon in der Alltagspsychologie geläufigste Typ von Handlung wird durch jenes Tun repräsentiert, das auf die Erreichung von Zielen gerichtet ist. Die Angabe von Zielen dürfte damit auch die populärste Art der Erklärung von Handlungen darstellen. Man spricht von zielgerichtetem oder »zweckrationalem« Handeln. Gegenstand der Forschung zu zweckrationalem Handeln kann sich auf die Art der verfolgten Ziele beziehen oder auch auf das Verhältnis zwischen Zielen und die zu ihrer Erreichung eingesetzten Mittel oder Zwecke. Das Verhältnis zwischen Mittel und Ziel, das ein Mensch seinem Tun zugrunde legt, kann sinnvoll und nachvollziehbar, Erfolg versprechend oder verfehlt etc. sein. Damit wäre u.a. ein Ansatzpunkt zur Erklärung von Erfolg oder Misserfolg im Handeln gegeben.

Handeln um seiner selbst willen

Gegen ein zweckrationales Verständnis von »Handlung« hat sich u.a. Mario v. Cranach (1994) gewandt, zumindest dann, wenn Zweckrationalität als die Handlungsrationalität überhaupt konzipiert wird. Ganz zu Recht weist er zum Beispiel darauf hin, dass manches Handeln um seiner selbst Willen und nicht wegen der Erreichung bestimmter Ziele ausgeführt wird. Handlungen, die um ihrer selbst willen durchgeführt werden, sind zwar beobachtbare Sachverhalte, aber diese können nicht als Ziele bezeichnet werden, weil die sich daraus ergebende Erklärung auf einen Zirkelschluss hinauslaufen würde: Die Handlung A wird ausgeführt, weil die Handlung A ausgeführt werden soll. Es ist wohl eine bestimmte subjektive Situation, die mit der Ausführung der Handlung verbunden und die noch zu eruieren ist.

Aufgabenorientiertes Handeln

Unser alltägliches Handeln ist zuweilen dadurch gekennzeichnet, dass Mittel zu angestrebten Zielen / Zwecken noch nicht bekannt sind, oder aber, dass ein konkretes Tun geplant ist, die sich daraus als Ziele ergebenden Zustände aber noch nicht klar zu fassen sind. In solchen Situationen könnte man (mit Kempf 1982) von »aufgabenorientiertem Handeln« reden.

Regelrationales Handeln

Auch Handlungen, deren Sinn letztlich in der Befolgung einer sozialen Regel besteht, entsprechen nicht dem Typus des zweckrationalen Handelns. In der Literatur wird in diesem Zusammenhang häufiger auf den sozialen Akt des Grüßens als Beispiel hingewiesen. Man könnte solche Handlungen als »regelrational« bezeichnen, und die Handelnden würden im Falle der Frage nach den Gründen ihres Handelns die Existenz der jeweilig befolgten sozialen Regel nennen, von der sie sich haben leiten lassen.

Traditionales Handeln

Ähnlich verhält es sich mit jenen Gründen für Verhaltensweisen als Handlungen, in denen die handelnden Personen einfach einer (sozialen, gesellschaftlichen) Tradition und damit gewissermaßen einer Gewohnheit folgen, die sich in ihrem sozialen Umfeld, in ihrer Gesellschaft ausgebildet hat. »Traditionales Handeln« wäre hier der passende Begriff.

Schemarationales Handeln

Zu solchen Traditionen können u.U. ganz bestimmte Schemata gehören, die bei der Ausführung von Handlungen handlungsleitend wirksam werden. Das erfährt jedes Kind beispielsweise beim Schreibenlernen: Für die Schrift insgesamt, für bestimmte Buchstaben, sind ganz bestimmte schematische Ausführungen vorgesehen, damit eine Verständigung mit Hilfe der Schrift möglich wird. Das hier wirksame Rationalitätsprinzip ist also als »Schemarationalität« zu benennen.

Emotionales Handeln

Darüber hinaus erbringt die Rekonstruktion von Handlungsorientierungen aber immer wieder auch das Ergebnis, dass keines dieser Prinzipien beachtet wurde, sondern dass am Anfang der Begründungskette für das fragliche Verhalten als Handlung ein schwer in Worte zu fassender Impuls, ein »Gefühl« dasjenige Begründungselement ist, welches das Verhalten am ehesten verständlich macht und in diesem Sinne »erklärt«. Wir könnten von »emotionalem Handeln« reden (zumindest in den Fällen, in denen die Person auch anders hätte handeln können, das Handeln also aufgrund einer Entscheidung verwirklicht wurde). Sicherlich könnte man hier den von Wundt bereit gestellten Begriff der »Triebhandlung« heranziehen, denn immerhin ist ja der Handelnde zur Unterlassung des mit einer Emotion begründeten Tuns in der Lage.

Interessegeleitetes Handeln

Weniger bekannt als die angeführten Handlungstypen ist jener Typ, der von Kempf (1982) als »interessegeleitetes Handeln« eingeführt worden ist. Damit sind jene Handlungen gemeint, die ganz bestimmten Werturteilen folgen und daher mit Hilfe von Beurteilungsprädikatoren darzustellen sind. Ein solcher Beurteilungsprädikator wäre beispielsweise »Wahrheit«. In der Tat sind leicht soziale Situationen denkbar (man denke nur an eine Gerichtsverhandlung), in denen vor allem Redehandlungen Prinzipien folgen sollen, durch die letztlich die Vergabe des Prädikators Wahrheit in Bezug auf die Redehandlungen gerechtfertigt ist.

Handlungen als Lebensorientierungen

Verfolgt man die Entwicklung des Menschen im Rahmen der Entwicklungspsychologie, ist zu erkennen, dass es handlungspsychologisch darstellbare interindividuelle Unterschiede gibt, dass sich also Menschen voneinander in Bezug auf die von ihnen realisierten Handlungsorientierungen unterscheiden. Festzustellen ist darüber hinaus, dass individuelle Muster von Handlungsorientierungen über den Lebenslauf hinweg erhalten bleiben können. In diesem Fall könnte man sogar von Handlungsorientierungen als »Lebensorientierungen« sprechen.

Aschenbach (1984) hat ebenfalls zweckrationales Handeln von regelrationalem und schemarationalem unterschieden, nennt aber auch das »sinnrationale« Handeln als eines, welches sich als ein stimmiges Element von Orientierungsstrukturen und Identitätsentwürfen darstellt, und daneben ein »imitationsmustergebundenes« Handeln, welches als Nachahmung eines bekannten, imaginierten Vorbildes oder Musters ausgeführt wird. Außerdem hat er sich mit einer Art des Tuns beschäftigt, die er ebenfalls als »emotionales Handeln« bezeichnet hat (Aschenbach 1984). Im alltäglichen Miteinander mag ein solches Handeln als nicht rational, mit Ve r nunftgründen nicht vereinbar beurteilt werden. Mit Blick auf die Vielfalt der Beratungsanlässe und -themen führt auch die Beschäftigung mit emotionalem Handeln zu Ideen der Beratungsgestaltung.

4. Handeln und der Begriff der Vernunft

Das inhaltliche Spektrum der Probleme, die im Rahmen der professionalisierten Beratung zur Sprache kommen, ist ungeheuer breit. So nennt Seel (2009) unter anderem Familien-, Partnerschafts- und Eheberatung, Erziehungsberatung, aber auch Vermögensberatung, Anlageberatung, Verbraucherberatung, Rechtsberatung, Unternehmensberatung, Managementberatung usw.

Immer aber dürfte es um Entscheidungen gehen, die Ratsuchende treffen wollen oder sollen oder um die, die sie bereits getroffen haben. Menschen im Zeitalter der »reflexiven Moderne« werden dabei häufig genötigt, in ihren Entscheidungen die Rationalität der Gesellschaft und der Institutionen in ihr zu übernehmen, diese gewissermaßen zur eigenen Rationalität zu machen. Diese sieht dann in vielen Fällen ein Handeln nach dem Prinzip der Zweckrationalität vor. Bereits Habermas hat in diesem Zusammenhang von der »Kolonialisierung der Lebenswelten durch Systeme zweckrationalen Handelns« gesprochen (zit. n. Seel 2009). Tun die Betroffenen das nicht, erreichen sie also mit ihrem Handeln nicht jene Ziele, die sie sich hatten zu eigen machen sollen, wird ihr Handeln gern als »irrational«, als unvernünftig beurteilt. Die Beratung hat solchen Tatbeständen natürlich nachzugehen; einer reflexiven Beratung kann man aber auch die Aufgabe zuweisen, die geforderte Zweckrationalität selbst kritisch zu untersuchen.

Legt man den Fokus der Betrachtung auf den handelnden Menschen selbst, genauer: auf den handelnden Umgang mit sich selbst, fällt sicherlich gelegentlich so etwas wie »Unvernunft« im Tun tatsächlich auf. Dann wird dies zum eigentlichen Beratungsgegenstand. Nebenbei bemerkt: Es gibt Fachautoren, die der Meinung sind, dass Menschen generell Orientierungen verfolgen, die dazu führen, dass immer wieder unvernünftige Entscheidungen getroffen werden, etwa Ariely (2008). Ariely betont allerdings nicht nur die in den Entscheidungen häufiger innewohnende »Unvernunft« oder »Irrationalität«, als vielmehr das kreative Potenzial, das in ihnen stecke. Das ist sicher nicht zu leugnen, aber in Beratungsprozessen kommt es überwiegend zur Analyse von Verhaltensweisen, die sich in Konfrontation mit alltäglichen Lebensaufgaben als dysfunktional, schädlich, konflikterzeugend oder sonst wie ungünstig für die betroffenen Personen und / oder ihre Umwelt erwiesen haben, selbst dann, wenn sie eine gewisse »Kreativität« offenbaren. In solchen Fällen lässt sich meist ein Mangel an Reflexivität im Umgang mit dem Lebensalltag demonstrieren, den es zu beheben gilt, etwa eine fehlende Berücksichtigung der möglichen Handlungsfolgen. In unserer gesellschaftlichen Realität sollen dann durch sozialpädagogische Intervention und durch Sozialarbeit Wege positiver Entwicklung der Klienten und Klientinnen aufgezeigt und gangbar gemacht werden, durch Analyse ihrer Handlungsplanung und -durchführung.

Man kann eine solche Analyse auch als Reflexion über die problematischen Handlungen bezeichnen und die Ermöglichung und Realisierung der Reflexion als »Reflexivität«. Reflexivität stellt gewissermaßen die Spiegelung der Hintergründe eigenen Tuns in das Bewusstsein des Menschen dar.

Menschen, die in diesem Sinne reflexiv, zur Reflexion ihres Tuns fähig sind (also – so gesehen – wissen, was sie tun, um mit einem alten Filmtitel zu sprechen), könnte man die Fähigkeit zur Vernunft zuschreiben. Es ist sicher nicht verkehrt, prinzipiell allen Menschen die Fähigkeit zu unterstellen, mit Hilfe der Vernunft ihr Tun zu überdenken, zu beurteilen und zu entsprechend vernünftigen oder »rationalen« Entscheidungen und damit zu entsprechenden Handlungen zu kommen. Dennoch ist der (soziale) Alltag der Menschen dadurch gekennzeichnet, dass immer wieder Verhaltensweisen verwirklicht werden, die diesen Weg sicherlich nicht hinter sich gebracht haben, die darum berechtigterweise auch als unvernünftig bezeichnet werden können. Möglicherweise hat Ariely Recht damit, dass ihr Anteil an allen Verhaltensweisen größer ist, als man üblicherweise denkt.

Wir können ihm auch insofern folgen, als es für das soziale Leben nicht immer erforderlich ist, dass Menschen »vernünftig« im Sinne der reflektierten, überlegten, besonnenen Art tätig werden. In mancher »Unvernunft« mag durchaus eine akzeptable individuelle Logik der Lebensführung liegen, die niemandem schadet und niemanden beeinträchtigt – und damit üblicherweise auch nicht beratungsbedürftig ist.

Verhalten, das statt von Nachdenken eher von aufwallenden Gefühlen geleitet wird, gilt als »emotionales Verhalten«. Um die aus emotionalem Verhalten aufgerichteten Barrieren gegen die Überwindung von Alltagsproblemen beiseite zu räumen, ist von der »leidenschaftlichen oder problematischen ‚Naivität der ersten handlungsleitenden Einfälle‘« (Aschenbach 1984, S. 186), nämlich den Emotionen, wegzukommen und die Ebene des Arguments als Anleitung für das eigene Tun zu erreichen. Dann haben die Betroffenen die Aufgabe, über die eigene Person nachzudenken und sich eigene Wünsche, Ängste, Bedürfnisse und Hemmungen reflektierend zu erschließen. Vernünftiges Handeln im genannten Sinne verlangt so etwas wie die »Emanzipation von den eigenen Gefühlen«, d.h. die Kraft, gegen eigene Gefühle anzugehen oder sich »gegen seine eigenen Begehrungen durchzusetzen« (um an Hartmann, s.o., zu erinnern). Seel (2009) ist der Überzeugung, dass sogar »besonderes Augenmerk auf die emotionale Seite der thematisierten praktischen Probleme gelegt werden muss.«

Im Übrigen bilden diese Gedanken auch eine Brücke zu jenen Prinzipien der Gestaltung von Beratung, die aus dem Bereich der Psychotherapie (einschließlich der Psychoanalyse) stammen.

5. Auf dem Weg zur Problemlösung durch handlungspsychologisch orientierte Beratung: Facetten der Reflexivität der KlientInnen

Wie man sieht, ist der Begriff der Handlung mittlerweile recht differenziert entfaltet worden und damit zu einem eigenen und vor allem auch praktisch brauchbaren theoretischen Ansatz geworden. Zumindest in der Psychologie ist dies so (s. Kaiser/Werbik 2012).

Systematisierungen der vorgestellten Art sind aber sicherlich auch in der Lage, in der Praxis der Sozialarbeit und dort im Dialog mit den KlientInnen zu verstehen, in welchem Kontext sich jene Handlungsweisen herausgebildet haben, die ggf. mit zur Charakteristik des zu behandelnden Problems gehören. Werturteilsbezogene Handlungsentscheidungen (»interessegeleitetes Handeln«) oder solche, die in vielen Jahrzehnten entwickelten Orientierungen folgen, sind anders zu behandeln als solche, die einfach nur einstudierten Regeln entsprechen oder die Ziele vorgeben, die zur Disposition gestellt werden können bzw. durch eine günstigere Mittel-Ziel-Relation leichter zu erreichen sind. Das heißt also, dass die terminologischen Differenzierungen der psychologischen Handlungstheorie Hinweise liefern kann auf Inhalte und Vorgehensweisen im Beratungskontext: Welchen Fragen muss die/der BeraterIn nachgehen?

Anders ausgedrückt: Systematisierungen der vorgestellten Art sind in der Lage, im Prozess einer individuellen Beratung und im Dialog mit den KlientInnen zu verstehen, in welchem Kontext sich jene Handlungsweisen herausgebildet haben, die zur Charakteristik des zu behandelnden Problems gehören.

Zu einer besonderen Klasse von Problemen, nämlich interpersonalen Konflikten, wurde entsprechend auch als ein erster praxisrelevanter Beitrag im Rahmen der Entwicklung der »Erlanger Handlungspsychologie« ein handlungspsychologisch fundiertes Konzept der Konfliktberatung entwickelt und praktisch erprobt (Kaiser 1979). Das Konzept enthält ein idealtypisches Verlaufsmodell einer Konfliktberatung, welches sich an spezifischen Ideen und Termini der Handlungspsychologie orientiert. Das Verlaufsmodell sieht deshalb bestimmte »Stationen« der Beratung vor, die von der Theorie sozialen Handelns nahegelegt werden, etwa die Analyse der von den Konfliktparteien wechselseitig explizit oder implizit ergangenen Handlungsaufforderungen (»Aufforderungsanalyse«), die Ermittlung der von den Konfliktparteien vertretenen Ziele und Zielsysteme, ihrer gegenseitigen (konfliktrelevanten) Handlungsdeutungen und deren Adäquatheit, ihrer Erwartungen an das eigene und das »gegnerische« Handeln usw. Die Ergebnisse dieser analytischen Schritte werden dann zum Gegenstand der gemeinsamen Beratung gemacht, die mit verbindlichen Absichtserklärungen und deren Kontrolle in der Lebenspraxis abschließen soll.

Kaiser und Werbik (2012) haben zudem an einem Fallbeispiel aus dem Bereich der verkehrspsychologischen Begutachtung demonstriert, dass auch für diese spezifische psychologische Praxis der Beurteilung der Fahreignung eines Probanden der handlungspsychologische Ansatz sinnvoll genutzt werden kann. Unabhängig von einer solch spezifischen Aufgabe dürfte das Fallbeispiel aber auch geeignet sein, SozialarbeiterInnen eine Reihe von Hinweisen zu geben, welche Fragen sie unter Umständen im Dialog mit ihren KlientInnen auch zu lösen haben, wenn ihre Intervention erfolgreich sein soll.

Im hier zugrunde liegenden Fall der Fahreignungsbegutachtung mussten folgenden Fragestellungen mit handlungspsychologischem Hintergrund nachgegangen werden:

  1. Zur Bewusstheit des Fehlverhaltens: Ist das problematische Verhalten als bewusstes Handeln zu interpretieren?

  2. Reflektiertheit des Verhaltens / Reflexionsfähigkeit der Probanden und Probandinnen: Ist eine selbstkritische Beschäftigung mit dem eigenen Handeln festzustellen oder nicht?

  3. Einsicht in die eigene Handlungskompetenz: Wurden die Hintergründe des Handelns erkannt und dem Bereich der eigenen Einflussnahme zugeordnet?

  4. Sprachniveau: Über welche sprachlichen Ausdruckmöglichkeiten verfügen die KlientInnen und ermöglichen sie ihnen einen Zugang zu den eigenen Handlungsmotiven?

  5. Fähigkeit zur Selbstanalyse: Die bisherigen Antworten überdenkend ist zu fragen, ob von einer ausreichenden Fähigkeit zur Selbstanalyse auszugehen ist.

  6. Dialogfähigkeit / Wahrhaftigkeit: Sind die Beiträge der KlientInnen als offen und freimütig einzuschätzen?

  7. Hypothesenbildung über Handlungs- und Lebensorientierungen und ihre Entstehungszusammenhänge: Welche Hypothesen über zentrale Handlungs- und Lebensorientierungen des Probanden bzw. der Probandin und ihre Entstehungszusammenhänge können nun aufgestellt werden?

  8. Ansatzpunkte zur Änderung von Handlungsorientierungen: Wenn das beratungsrelevante Handeln zu Recht als änderungsbedürftig einzuschätzen ist, welche Hinweise ergeben die bisher erarbeiteten Informationen über die Orientierungen, die das bisherige Handeln aufrechterhalten haben und die es zu ändern gilt?

Die sich aus der Handlungspsychologie ergebenden Beratungsgesichtspunkte zielen unter anderem auf die Einschätzung der KlientInnen in Bezug auf die Reflektiertheit ihres Handelns und (auch für die Sozialarbeit relevant) auf die Wahrnehmung ihres eigenen Handelns allgemein und auf die Fähigkeit zur Reflexion des eigenen Tuns. Dies führt zu einer weiteren, die Beratung anleitenden terminologischen Differenzierungen, nämlich auf das Konzept der »Reflektiertheit«. Es ist als ein Konstrukt gedacht, das unterschiedliche Facetten aufweist. Das heißt, dass sich das Reflektieren der KlientInnen über sich selbst und ihre Handlungen auf verschiedene Aspekte beziehen kann. Daraus folgt, dass ein "kluges" und "selbstkritisches" Umgehen mit der eigenen Person möglicherweise nur partiell erfolgt, bestimmte Aspekte berücksichtigend, andere übergehend. Reflexivität in diesem Sinne kann mehr oder weniger umfassend und damit auch mehr oder weniger problemlösend sein.

Kaiser (1992) und vor allem Martens (1997) haben solche Aspekte oder Facetten des klugen und selbstkritischen Handelns herausgearbeitet. Für kluges und selbstkritisches Handeln, das mit Hilfe dieser Aspekte oder Facetten expliziert werden kann, wurde der Begriff der »Reflektiertheit« gewählt. Mit »Reflektiertheit« ist die Haltung einer handelnden Person zu sich selbst bezeichnet, unter »Reflexivität« könnte man dagegen eher die Qualität einer Handlung oder eines Handlungsprozesses verstehen, auch die eines theoretisch angeleiteten Handlungsablaufes etwa im Rahmen einer Beratung.

Martens hat aus der Erfahrung von 303 Fällen aus dem Bereich der Lebens- und Eheberatung ein differenziertes Modell entwickelt, bei dem die unterschiedlichen Aspekte reflektierten Handelns in ein hierarchisch geordnetes System überführt worden sind. Damit ist es ihr gelungen, die Voraussetzungen für einen Beratungserfolg, der in einer Einstellungs- und Verhaltensänderung der Ratsuchenden besteht, angemessen zu erfassen.

In diesem Konzept der Reflektiertheit wurden sieben Aspekte voneinander unterschieden. Mit ihrer Hilfe lässt sich erkennen, dass die Aufgabe, zu einem selbstkritisch-reflektierten Menschen zu werden, an sehr unterschiedlichen Sachverhalten ansetzen muss, die nicht selbstverständlich sind, und auf die man im alltäglichen Leben auch nicht so ohne weiteres kommt. Die Aspekte sind folgendermaßen beschrieben worden:

Diese Aufzählung der Aspekte reflektierten Handelns ist ohne weiteres sicherlich nicht gut verständlich. Man kann sie sich aber verständlich machen und durch häufig erlebte Beispiele aus dem Bereich der psychologischen Beratung und Diagnostik illustrieren, wobei wieder an die Erfahrungen im Umgang mit verkehrsauffälligen Probanden (z.B alkoholauffälligen oder älteren Kraftfahrern im Rahmen einer Eignungsbegutachtung) angeknüpft werden soll. Schließlich ist der Straßenverkehr einer der Lebensbereiche moderner Gesellschaften, in dem häufig Fehlhandlungen, unbedachtes oder antisoziales Handeln vorkommen, zum Teil mit dramatischen Folgen für die Beteiligten. Die Beratung verkehrsauffälliger Probanden und Probandinnen ist deshalb verständlicherweise ein mittlerweile weit entfaltetes Gebiet der psychosozialen Beratungsarbeit.

Beispiele aus diesem Bereich lassen erkennen, dass eine mangelnde Reflexivität des Handelns im (Verkehrs‑)Alltag sich auf unterschiedliche Defizite im Umgang mit der eigenen handelnden Person beziehen, relativ zur oben dargestellten Systematik der Reflektiertheit:

Aspekt A: Wahrnehmung eigenen Verhaltens als Handlung

Menschen stellen Handlungsereignisse nicht selten so dar, als hätten sie selbst daran nicht mitgewirkt. Sie tun so, als seien sie nicht handelnde Personen gewesen, sondern lediglich Objekt schicksalhafter Begebenheiten oder des Handelns anderer Menschen. Wir finden dies häufiger bei alkoholauffälligen Kraftfahrern, die - aus Gründen der Selbstentlastung - eine gesellige Situation, das Verhalten einer Gruppe Gleichalteriger oder ein aufwühlendes Ereignis als Entstehungszusammenhang ihrer Trunkenheitsfahrt angeben, nicht aber Bedürfnisse oder andere Orientierungen ihre eigenen Person.

Ältere KraftfahrerInnen neigen zu ähnlichen Konstruktionen, wenn sie beispielsweise durch einen Unfall "verkehrsauffällig" geworden sind.

Aspekt B: Erkennen eigener Handlungsmöglichkeiten

Wer sich selbst als Spielball "höherer Mächte" sieht oder aus anderen Gründen nicht erkennt, dass eigenes Tun auf eigenen Entscheidungen beruht, der hat auch Schwierigkeiten zu erkennen, dass er sich auch anders hätte entscheiden können. Ihm stehen Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung, Alternativen des Tuns und Lassens. Aber es kommt ihm oder ihr gar nicht erst in den Sinn, welche Handlungsmöglichkeiten tatsächlich zur Verfügung stehen, beispielsweise in einer schwierigen Verkehrssituation, die weit eher durch defensives als durch »durchsetzungsaktives« Verhalten zu bewältigen wäre.

Aspekt C : Rekonstruktion eigener Handlungsorientierungen

Dieser Aspekt der Reflektiertheit bezieht sich auf die Fähigkeit von Menschen, sich die Entstehungsgeschichte eigener Einstellungen, Werthaltungen, Interessen usw. im Kontext ihrer Biographie bewusst zu machen. Wenn es sich um ungünstige, störende oder belastende Orientierungen handelt, werden sie durch das Bewusstmachen meist auch "zugänglich" oder behandelbar. Die Rekonstruktion eigener Handlungsorientierungen ist gewissermaßen ein Schritt zur "Psychotherapie der eigenen Person". Für Trunkenheitsfahrer ist dies die vermutlich wichtigste Voraussetzung zur Wiedererlangung der Fahreignung.

Aspekt D: Ausgewogene Bewertung eigenen und fremden Handelns

Menschen neigen bekanntermaßen dazu, eigenes Handeln eher gutzuheißen als fremdes, es weniger streng zu beurteilen als das anderer Menschen usw. Das soziale Leben erfordert aber nicht selten, dass eine handelnde Person quasi "aus sich heraustritt", sich von "außen" zu betrachten imstande ist unter Verwendung allgemeiner, nicht bloß persönlicher und subjektiver Beurteilungsmaßstäbe. Gerecht zu sein gegen andere und realistisch gegenüber der eigenen Person beim Anlegen von Gütemaßstäben ist sicherlich ein anspruchsvolles und schwierig zu erreichendes Ziel und ein zentraler Punkt aller Bemühungen um eine selbstkritische Haltung von Kraftfahrern, die sich leicht durch die negative Deutung des Verhaltens anderer zu unbedachtem Handeln hinreißen lassen.

Aspekt E: Erkennen problematischer Handlungsorientierungen

Zuweilen stehen sich Menschen bei der Fortentwicklung ihrer Persönlichkeit, gerade auch im höheren Lebensalter, selbst im Weg. Sie sind nicht in der Lage zu erkennen, dass sich Wünsche, Ziele und Interessen gegenseitig oder wechselseitig blockieren können, und auf diese Weise Probleme in der Bewältigung alltäglicher Anforderungen entstehen. So kann das Bedürfnis nach Selbstwertschätzung durch automobile Mobilität die Sicht auf die Möglichkeiten verstellen, alternative Wege der Mobilität zu realisieren, die das ebenfalls vorhandene Bestreben nach Sicherheit erfüllen würden.

Aspekt F. Bereitschaft und Fähigkeit zur Revision von Deutungen eigenen und fremden Handelns

Dieser Aspekt der Reflektiertheit wird am ehesten vom Bedeutungsgehalt des Wortes "Selbstkritik" getroffen, Klug handelnde Menschen zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihre Bewertungen und Interpretationen, gleich ob die eigene oder fremde Personen oder sonstige Sachverhalte betreffend, prinzipiell für revidierbar halten. Mögliche Fehlurteile, überhaupt die generelle Fehlbarkeit des Menschen, wird von ihnen stets einkalkuliert. Auf diese Weise werden sie offen gegenüber neuen Erkenntnissen und Sichtweisen und flexibel gegenüber neuen Anforderungen. Revisionsbereit dem eigenen und fremden Handeln gegenüber zu sein, erleichtert die Bewältigung von Konfliktsituationen, wie sie beispielsweise auftauchen, wenn die Fahreignung eines älteren Menschen (z.B. von einer Behörde) in Zweifel gezogen wird. Revisionsbereite Menschen sind weniger in der Gefahr, hinter den Zweifeln lediglich ein Komplott zu vermuten, und sind kooperationswilliger bei der Suche nach einem realitätsangemessenen Eignungsurteil.

Aspekt G: Konsensorientierte und revisionsbereite Beschreibung des Modus eigener Handlungen

Eng mit dem vorangegangenen Aspekt verknüpft, zielt der Umgang mit Annahmen und Aussagen zum Modus eigener Handlungen auf die Interpretation eigenen Handelns in einem speziellen Sinn. In dem, was wir über unser eigenes Tun sagen, offenbaren wir Ansichten über die Art und Weise, wie wir unsere Handlungen ausführen. Älteren Kraftfahrern wird beispielsweise nachgesagt, dass sie das eigene Fahrverhalten, die "Verkehrsangepasstheit" ihrer Aktionen am Steuer, häufig unrealistisch interpretieren. Sie halten beispielsweise langsames Fahren für vorsichtiges oder umsichtiges Fahren. (Dies ist gemeint mit dem "Modus", den sie mit der Beschreibung ihres Handelns verbinden.) Unter Berücksichtigung aller Erfordernisse der Verkehrssituation aber müssten sie erkennen, dass ihre angeblich vorsichtige Fahrweise eher eine dem Verkehrsfluss unangepasste, faktisch unsichere und behindernde ist. Eine ausgewogene Interpretation des Modus der eigenen Handlungen anzustreben, bedeutet sicherlich ebenso eine Erleichterung im Konfliktfalle wie eine revisionsbereite Beschreibung.

Die hier dargestellten Facetten von Reflexivität oder Reflektiertheit können, das ist sicher gut zu erkennen, als eine kognitive Hilfe bei der Bewältigung der diagnostischen Aufgaben aufgefasst werden, die einem psychologischen Berater/einer psychologischen Beraterin auf jeden Fall gestellt sind, sei es zu Beginn oder auch während einer Beratung. Werden diese Aufgaben erfüllt, sind Hinweise darauf gewonnen, welche Defizite bei der Handlungsplanung, Handlungsentscheidung und Handlungsausführung der KlientInnen für die Entstehung der beratungsrelevanten Probleme maßgeblich gewesen sein könnten, was ja auch für etliche Fälle im Bereich der Sozialarbeit relevant sein dürfte.

Zudem liefert eine Beratung, dies sich den dargestellten Aspekten der Reflektiertheit zuwendet, Informationen über weitere Bedingungen für die anzustrebende Problemlösung, und zwar solcher, die mit dem Problembewusstsein der Ratsuchenden zusammenhängen. Gemeint sind etwa (s. auch oben)

Insofern kann man in den beschriebenen Unterscheidungen und Hinweisen in der Tat mögliche Wege zur Problemlösung erkennen. Beratungen nach diesen Prinzipien und auf Basis einer differenzierten Theorie menschlichen Handelns haben darüber hinaus die erwartbare Konsequenz, dass der im Prozess der Beratung gelernte reflektierte Umgang mit sich selbst von den Betroffenen in ihre Lebenspraxis mitgenommen wird und dort soziale Wirkungen entfaltet.

5. Zusammenfassung und Ausblick: Handlungspsychologie als Hilfe bei der Professionalisierung der Beratung und im Rahmen des Prozesses der reflexiven Modernisierung

Ziel unserer Überlegungen war es, an ein spezifisches Konzept der Psychologie als Wissenschaft zu erinnern, das für die Verwirklichung einer »reflexiven« professionellen Beratung, so wie sie im Rahmen von Sozialpädagogik und Sozialarbeit vielfach berufliche Praxis geworden ist, hilfreich sein kann: die Handlungspsychologie. Wir sind von der Erwartung ausgegangen, dass »unsere« Handlungspsychologie von den Fachkollegen der Sozialarbeit/Sozialpädagogik als Anstoß zur weiteren theoretischen Reflexion ihrer spezifischen Berufspraxis wahrgenommen werden kann. In den oben genannten Arbeiten zur Reflexivität der Beratung geht es ja auch um die Professionalisierung der Beratung, das heißt um eine möglichst enge Bindung der Beratungspraxis an theoretische Fundamente, nicht nur der Psychologie, sondern der Sozialwissenschaften überhaupt. Das war beispielsweise das Interesse einer Arbeit von Valach & Young (2002), in der die Perspektive der Handlungspsychologie ebenfalls als fruchtbar für eine Beratungspraxis (hier: der Karriereplanung) empfohlen wurde.

Wir sind davon ausgegangen, dass eine solche Praxis u.a. das Interesse und Ziel hat, auch die Reflexivität des Klientels, d. h. die Reflektiertheit des Handelns der KlientInnen in ihrem sozialen Alltag zu erhöhen, um damit zu einer Lösung jener Probleme beizutragen, dessentwegen die Beratung nötig wurde. So gesehen, kann die psychosoziale Praxis über die Behandlung individueller Probleme zu einer Förderung der Entwicklung reflektierten Handelns der Menschen in dieser Gesellschaft überhaupt beitragen, ganz, wie es der Programmatik der »reflexiven Modernisierung« entspricht.

Seel (2012) hat jedoch darauf hingewiesen, dass diesbezüglich auch die folgende Aufgabe gestellt werden muss:

»Relativ unabhängig davon, wie letztlich die Mission der Profession Beratung formuliert wird, können wir unterstellen, dass im Sinne gelingender Lebensgestaltung in der Gesellschaft der reflexiven Moderne nicht nur ein Interesse an einer wissenschaftlichen Verbesserung der Beratungspraxis bestehen sollte, sondern auch daran, die Erkenntnisse aus Beratungsprozessen über die Genese der Problemlagen der KlientInnen so auf zu arbeiten, dass sie in gesellschaftspolitische Diskurse mit dem Ziel eingebracht werden, solche Probleme möglichst gar nicht erst entstehen zu lassen, bzw. sie so zu beeinflussen, dass sie von den Subjekten der reflexiven Moderne unproblematisch beherrscht und bewältigt werden können.«

Gehen wir von diesem Gedanken aus, müssen wir feststellen:

Für die von Seel beschriebene Aufgabe ist die Erfahrung praktisch tätiger PsychologInnen und PsychotherapeutInnen von Bedeutung, dass Reflektiertheit als eine der Grundhaltungen möglichst vieler Menschen nur unter bestimmten sozialen, gesellschaftlichen, kulturellen und individuell-personalen bzw. biografischen Bedingungen überhaupt entstehen kann. Ihre Skepsis, dass in der gegenwärtig schon so differenziert entwickelten Informationsgesellschaft die Voraussetzungen eher ungünstiger als günstiger werden, dürfte sicher sehr begründet sein. Das nachdenkliche Betrachten der eigenen Person ist ohne Innehalten, ohne Muße und ohne Abstand gerade von der Informationsflut von außen kaum zu erreichen. Wir leben aber in einer Zeit der äußeren und inneren Unrast und der Überfütterung mit Informationen, die Aufmerksamkeit von der eigenen Person eher abziehen. Wir wachsen auch in die Zeit einer inflationären Bilderflut hinein, die geeignet sein könnte, die sprachlichen Fähigkeiten der Menschen verarmen zu lassen (man vergleiche hierzu die Argumentation von Neil Postman 1985 in seinem Buch »Wir amüsieren uns zu Tode«). Eine arme Sprache aber liefert nicht alle die Werkzeuge, die eine kritisch-differenzierte Betrachtung der eigenen Person und anderer Personen erst ermöglicht. Die Interessen vieler Menschen richten sich stärker als früher auf die Unterhaltung von außen, auf das kurzlebige Amüsement, auf Flucht aus der Wirklichkeit, die die Freizeit der Menschen einzunehmen beginnen. Diese Haltung in der oft beschworenen "Freizeitgesellschaft" ist auch nicht geeignet, die eigene Person und ihre Stellung in der Gemeinschaft zum Gegenstand des Nachdenkens werden zu lassen.

Wenn aber die Sozialwissenschaften in ihrer als »Beratung« auftretenden Praxis etwa auf Basis der vorgestellten Handlungstheorie die Rationalität und Reflektiertheit ihrer Klientel genauer untersuchen und ihre gesellschaftlichen Entstehungszusammenhänge analysieren, daraufhin die reflexive Modernisierung der Gesellschaft thematisieren, dann ist die Chance gegeben, dass in einem solchen Austausch zwischen Wissenschaft, wissenschaftlich angeleiteter Praxis und Gesellschaft ein dem Menschen und der Gesellschaft gleichermaßen hilfreicher Prozess in Gang kommt. Dies entspricht den Vorstellungen, die mit einer Reflexivität in Beratungen als gesellschaftlicher Institution verbunden werden, ausgedrückt beispielsweise im Rahmen des Call for Papers »Beratung und Reflexivität« des Journal für Psychologie vom 25. Juli 2013. Dort heißt es unter anderem: »Dies schließt ein etwa die Verwertung von Beratungserfahrungen, die Auswertung von Erkenntnissen über die Problemlagen der beratenen Subjekte und die Lösungsmöglichkeiten für die Diskurse, die auf gesellschaftlicher und politischer Ebene die Lebens- und Arbeitsbedingungen thematisieren.«

Auch wenn das in der wissenschaftlichen Diskussion derzeit nicht allgemeiner Konsens ist (vgl. Rechtien 2009), so könnte man doch noch einen weiteren möglichen Vorteil des aufgezeigten Ansatzes anführen:

Im Hinblick auf die Professionalisierung von Beratung vermittelt die Berücksichtigung handlungstheoretischer bzw. handlungspsychologischer Konzepte mit den ihnen eigenen wissenschaftstheoretischen Grundlagen und daraus resultierenden methodologischen Konsequenzen eine Orientierung, die der Ausarbeitung einer allgemeinen Beratungstheorie durchaus vorausgehen könnte. Gerade bei der Behandlung des Problems, wie die Praxis der professionalisierten Beratung Anregungen zum Verständnis und zur Behandlung der thematisierten Probleme multi- und/oder interdisziplinär aufnehmen soll, kann Handlungstheorie insofern hilfreich sein, als ihr mit Recht eine integrative Kraft zugeschrieben werden kann. Von ihr ausgehend sind beispielsweise sowohl unterschiedliche Verhaltenstheorien als auch klinische Ansätze wie die Psychoanalyse oder die Klientenzentrierte Psychotherapie »erreichbar«. Das ist dadurch möglich, dass Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen deren theoretischen Grundlagen und jenen der Handlungstheorie genau angebbar sind. Diese Rolle der Handlungstheorie lässt sich übrigens gut verbinden mit den Argumenten von Weissman (2009) zur Professionalisierung (der Beratung) durch theoretische Begründung.

Im Hinblick auf die »reflexive Professionalisierung der Beratung« ist abschließend folgendes zu sagen: Es bestehen sicher keine Zweifel daran, dass die in der Beratung tätigen Praktiker auf dem Wege einer durch Handlungstheorie fundierten und strukturierten Praxis Erfahrungen machen, die es wert sind, an die Wissenschaft zurückgemeldet zu werden. Ähnlich wie bei Martens (1997) ja bereits geschehen, ist nicht auszuschließen, dass sich durch praktische Erfahrungen mit KlientInnen Hinweise auf eine weitere Differenzierung handlungspsychologischer Teilkonzepte oder Begriffe ergeben. Diese wären einerseits dazu geeignet, die Handlungstheorie inhaltlich und terminologisch weiter zu entwickeln und dadurch andererseits neue praktische Verfahrensweisen im Hinblick auf Beratung anzuregen.

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Über den Autor

Heinz Jürgen Kaiser

Prof. Dr., geb. 1945, bis 10/2010 apl. Professor und Akademischer Direktor am Institut für Psychogerontologie der Universität Erlangen-Nürnberg und Leiter der MPTO-Obergutachtenstelle – Verkehrspsychologie – der Universität Erlangen-Nürnberg.

Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Subjektive Aspekte des Alterns, Handlungstheorie, Verkehrspsychologie (mit Schwerpunkt alte Menschen im Straßenverkehr), Altern und Gesellschaft

Prof. Dr. Heinz Jürgen Kaiser Mathildenstr. 35 90489 Nürnberg

E-Mail: jkaiser@arcor.de

Web: http://www.handlungspsychologie.de