Da die traditionellen Berufsbilder heute weitgehend ihre gesellschaftliche Orientierungs- und Regulierungsfunktion verloren haben und der Zugang zu vielen Stellen nicht von formalen, gesellschaftlich regulierten Karrierepfaden abhängt, ist bei vielen Menschen das Bewusstsein ihrer eigenen Fähigkeiten rückläufig oder ganz verloren gegangen. Sie können sie nicht mehr in berufsfachlichen Begriffen beschreiben. Die von der Arbeitspsychologie propagierten Verfahren der Kompetenzmessung stellen keine praktikable Alternative bei der Beratung und Vermittlung vor allem »berufsferner« Personen dar. Dargestellt werden im Folgenden einige interaktive Methoden der Kompetenzbilanzierung, die es den Betroffenen erlauben, einen neuen Zugang zu ihren Fähigkeiten zu erlangen und diese im Kontext von Feedback und Beratung neu formulieren zu können.
Schüsselwörter: Anforderungsprofil, Berufsberatung, Empowerment, Kompetenzbilanz, Selbstwirksamkeit
Keywords: Balance of competences, career counseling, empowerment, requirement profile, self-efficacy
As traditional occupational profiles have lost their function of orientation and regulation and the labor market access does no longer depend on formally regulated career paths, many people have lost the consciousness of their abilities. They cannot describe them any longer in terms of occupational titles. Methods of competence measurement as far as proposed by labor psychologists are not feasible alternatives with regard to the needs of career and employment counseling of people who do not identify themselves by occupational titles. The article points out some interactive methods of balancing of competences that enable clients to get a new approach to their abilities and to describe them in a new way within the context of counseling.
Schüsselwörter: Anforderungsprofil, Berufsberatung, Empowerment, Kompetenzbilanz, Selbstwirksamkeit
Keywords: Balance of competences, career counseling, empowerment, requirement profile, self-efficacy
Viele Menschen können auf die Frage, was sie besonders gut können und gern machen, spontan keine Auskunft mehr geben. Ein Grund dafür dürfte darin liegen, dass die meisten die Frage nach Fähigkeiten vorrangig mit »Beruf« und »Arbeit« assoziieren und möglicherweise schon lange keiner Erwerbsarbeit mehr nachgehen oder den Ausbildungsberuf mehrfach gewechselt haben. Ein weiterer Grund könnte darin liegen, dass Menschen ihre Fähigkeiten im Tun allmählich und »leise« entwickeln – ob im Beruf, im Sportverein oder im Ehrenamt –, diesen Prozess aber nicht besonders reflektieren und deshalb kein Bewusstsein von damit verbundenem Kompetenzerwerb entwickeln. So finden Menschen in der Familienphase das, was sie in Kindererziehung und Haushaltsführung leisten, so normal und üblich, dass sie diese Leistungen gar nicht als Kompetenzen betrachten. Auch kann es vorkommen, dass sie ursprünglich vorhandene Kompetenzen im Beruf – z. B. durch Vereinseitigung – verlernt haben. Diese Kompetenzen müssen dann im Bedarfsfall mühsam rekonstruiert werden. Und schließlich wirkt sich die in den letzten Jahren festzustellende Beschleunigung der Veränderungen in Ausbildung und Beruf sowie auf dem Arbeitsmarkt im Sinne einer zunehmenden Kurzlebigkeit von beruflichen Profilen und Ausbildungsinhalten aus, selbst wenn die Bezeichnungen erhalten bleiben (Heinzer/Reichenbach 2013, S. 10). Weniger als die Hälfte der Absolventen einer dualen Ausbildung arbeiten heute im erlernten Beruf.
Damit verliert für Arbeitgeber/innen und Arbeitnehmer/innen, aber auch für die Gesamtgesellschaft die normative Schablone »Beruf« weitgehend ihre Orientierungsfunktion. Berufliche Identität scheint heute in psychischer und gesellschaftlich-integrativer Hinsicht bei weitem nicht mehr die gleiche Bedeutung zu besitzen wie noch vor etwa 30 Jahren und dürfte sich – außer bei hochprofessionellen Berufsgruppen mit standardisierten Karrieren – weiter in Richtung einer flexiblen Arbeitsidentität und der Suche nach »Employability« (Galon 2007) verschieben, was die Sorge für die Gesunderhaltung, Arbeitsmarktfähigkeit und die erfolgreiche Selbstvermarktung einschließt. Die weite Verbreitung variabler Erwerbsverlaufsmuster (Beck 1995; Beck/Beck-Gernsheim 1993), die »Entstrukturierung« von Biographien (Hurrelmann 2003) und häufige (berufs‑)biographische Brüche versetzen Menschen permanent in Übergangssituationen, in denen sie sich neu erfinden sollen und müssen.
Zwar existiert noch immer das Wissen über frühere lebenslange identitäts- und sinnstiftende Berufstätigkeit und Arbeitsverhältnisse, die nach wie vor die Normalitätsvorstellungen vieler Menschen prägen und nach denen viele auch immer noch eine Sehnsucht verspüren. Doch die Berufsbilder erfüllten in diesem Zusammenhang keine Orientierungsfunktion mehr; das Denken in Qualifikationen erweist sich in biographischen Übergangssituationen als zu eng und führte in Sackgassen, so dass immer häufiger sogar ein »Entlernen« (Heinzer/Reichenbach 2013, S. 9) notwendig wird.
Es erscheint nur folgerichtig, dass seit Beginn der 1990er Jahre der Kompetenzbegriff den der Qualifikation zunehmend ersetzte, weil dieser sich zu eng auf die Bewältigung spezialisierter beruflicher Anforderungen bezog hatte. Parallel einerseits zur Reintegration zersplitterter Berufsbilder, zur wachsenden Bedeutung der Bewältigung lebensweltlicher Anforderungen andererseits rücken allgemeinere Dispositionen in den Vordergrund, die als Grundlage des Aufbaus von (nicht mehr berufsfachlich normierten und fixierten) Arbeitsidentitäten dienen und sowohl bei der Berufs- und Karriereberatung als auch bei der Arbeitsvermittlung ein wichtige Rolle spielen. Das Denken in Kompetenzen greift weiter und kann neue Wege über die bisherige Ausbildungs- und Berufsbiographie hinaus weisen – vor allem dann, wenn es darum geht, Interessen, Präferenzen und die Wertewelt der Ratsuchenden einzubeziehen .
In der arbeits- und karrierebezogenen Beratung von Klientinnen und Klienten geht es grundsätzlich um folgende Fragen: » Wer bin ich? Was kann ich, und wie gut kann ich das? Was will ich? Wo will ich hin? Wie komme ich dahin?« Die von immer mehr Autoren und Projektteams (KAB Süddeutschlands/DJI 2000; Jaeckel/Erler 2002; Beuker 2005) vorgeschlagene Methode der Kompetenzbilanzierung soll helfen, Antworten auf die zuerst genannten Fragen »Wer bin ich?« und »Was kann ich?« zu geben. Nur wer sich mit seinem Lebensweg als Lernweg auseinandergesetzt hat, kann zu durchdachten Antworten kommen, die eine gute Basis für die Selbstvermarktung auf dem Arbeitsmarkt bilden.
Kompetenzbilanzen sind Instrumente, die Klientinnen und Klienten helfen, ihre Fähigkeiten zu erkennen und zu benennen. Sie verhelfen auch informell erworbenen Fähigkeiten ans Licht, die jenseits von Beruf und Arbeit erworben wurden. Familienphase, Freizeit, Hobbies und Ehrenamt stellen Lernorte dar, an denen Kompetenzen entstehen. Auch besonders herausfordernde Lebenssituationen wie etwa die Flucht aus einem unsicher gewordenen Land bergen Potenziale in sich, die im Zielland nur selten in den Blick genommen werden: das Finden verlässlicher Fluchthelfer, Verschwiegenheit, kontrollierte Kommunikation, das Sich-Einlassen auf extrem verunsichernde und unsichere Situationen.
Der Einsatz von Kompetenzbilanzen macht in zwei biographischen Situationen besonderen Sinn: zum einen, wenn jemand über längere Zeit nicht erwerbstätig war, seine Fähigkeiten nicht genau einschätzen kann oder über keine aussagefähigen Dokumente und Referenzen über frühere Tätigkeiten verfügt; zum anderen, wenn jemand sich für neuartige, bisher noch nicht ausgeübte oder höherwertige Aufgaben oder Aufstiegsstellen interessiert oder von Vorgesetzten dafür vorgeschlagen wird, sich aber nicht sicher ist, ob er die Anforderungen bewältigen kann.
Während Kompetenzbilanzen im Wesentlichen auf Selbsteinschätzung der eigenen Fähigkeiten basieren, werden für die so genannte Kompetenzmessung im Rahmen von Assessment Centern, Development Centern und anderen Personalentwicklungsverfahren sehr präzise Definitionen und Abgrenzungen von Ausprägungsniveaus entwickelt, für die komplexe Beobachtungsverfahren entwickelt wurden. Diese Form von Kompetenzdiagnostik ist ein Gebiet der Arbeitspsychologie.
Der Schritt von der Kompetenzfeststellung zur Kompetenzmessung – vollzogen von Erpenbeck und von Rosenstiel (2003 und 2007), Frieling, Schäfer und Fölsch (2007) und anderen auf der Grundlage zahlreicher BMBF-Projekte – wurde sehr gefeiert, doch teilen wir diese Freude nicht uneingeschränkt. Natürlich sind einseitige Profilingbögen zum Selbstankreuzen (»Führerschein vorhanden: ja/nein?; Englischkenntnisse: ja/nein?«), wie sie auch von der Arbeitsagentur genutzt wurden, zu recht in Verruf geraten. Die Frage ist jedoch, welcher Zusatznutzen durch hohen methodischen Aufwand bei der Skalenkonstruktion und »szientistische« Beobachtungsverfahren erreicht wird.
Meint Kompetenzmessung nicht nur einfach Zuordnung von Werten zu Merkmalen und Merkmalsausprägungen (sei es von Adjektiven – also Messung auf Nominalskalen – , Rangwerten – auf Ordinalskalen – oder metrischen Werten – also auf Intervallskalen), sondern verbirgt sich dahinter ein szientistischer Anspruch, wonach eine Messung objektivierbar, präzise, vollständig usw. sein und höchsten Validitäts- und Reliabilitätsforderungen standhalten muss, würden wir dieser Position nicht mehr folgen wollen – es sei denn, es gehe um extrem spezielle kognitive, sensorische, oder motorische Kompetenzen oder Defizite, wie sie bei sicherheitskritischen Tätigkeiten eine Rolle spielen.
Die Kompetenzfeststellung für die Mehrzahl der Menschen, die sich auf der Suche nach einem Arbeitsplatz befinden, sich aber ihrer Kompetenzen nicht ganz sicher sind, erfolgt sinnvoller Weise nicht in klinischen Laborsituationen, sondern in einem realen Anwendungskontext, z.B. durch Probearbeit oder Arbeitsproben. Das Ziel ist nicht Vollständigkeit der Bildes, nicht das perfekte »Match« ohne Über- und Unterdeckung von Anforderungs- und Kompetenzprofil, sondern ein befriedigendes »Fit«. Dabei ist zu klären, ob eine Person eine bestimmte Rolle im Arbeitsleben unter bestimmten Umfeldbedingungen mit für beide Seiten befriedigenden Ergebnissen zu übernehmen vermag, nicht jedoch ob er oder sie diese optimal ausfüllen kann. Bei 80 Prozent aller Einstellungen wird man sich damit zufrieden geben können.
Eine solche praktische Erprobung von Kompetenzen kann nach unseren Erfahrungen tatsächlich ein Stück weit im Beratungsgespräch simuliert werden, etwa durch Fragen des Typs: »Können Sie sich vorstellen, dass …?« oder durch Vorgaben wie »Welche der folgenden Tätigkeiten sagt Ihnen am meisten zu?« oder »Arbeiten Sie lieber unter freiem Himmel oder im Büro?« Spätestens seit John L. Holland (1958, 1997) wissen wir, dass ein befriedigendes »Fit« nicht nur vom Inhalt der Tätigkeit, sondern vor allem auch von den Umgebungsbedingungen abhält, also etwa vom sozialen Umfeld, von Temperatur, Lärm, Größe und Übersichtlichkeit der Werkhalle, Arbeitstempo, geforderter Körperhaltung usw. Eine reliable Kompetenzmessung ist unter dieser Prämisse kaum denkbar. Aber einfachste Verfahren reichen oft aus, um Kompetenzen »informell« zu überprüfen: Zum Testen der Hand-Auge-Koordination bei einer Bewerberin für die Mikroelektronik-Montage lasse man sie einen Faden in ein Nadelöhr einfädeln. Das ist ein halbwegs valides Verfahren, erhebt aber ebenfalls keinen Anspruch auf vollständige Reliabilität, weil das Ergebnis von Tagesform, Beleuchtung usw., aber auch vom Beobachter abhängen kann.
Methodisch ist weiterhin anzumerken, dass es unsinnig ist, vorab eine kanonische Liste von zu überprüfenden Kompetenzdimensionen festzulegen – Erpenbeck kommt auf 64 und opfert damit möglicherweise die Beobachtbarkeit und Trennschärfe der einzelnen Dimensionen. Vielmehr sind Dimensionierung, Zahl und Granulation (d.h. der Grad der Auflösung) der betrachteten Kompetenzen immer abhängig von der konkret zu besetzenden Position bzw. von den Anforderungen des Arbeitgebers und den Umgebungsbedingungen, die nie ganz vorhersehbar sind. Eine Kompetenz wird stets kontextabhängig umgesetzt (»Performanz«). Eine praxisnahe Kompetenzfeststellung setzt also einerseits Vereinfachungen und Priorisierungen voraus, da eine immer feinere Granulation der Kompetenzen nur zu Widersprüchen zwischen den zu beobachteten Einzelkompetenzen (z. B. Teamfähigkeit vs. Durchsetzungsfähigkeit). Andererseits sind die Umgebungsfaktoren und die Sensibilität für diese (z. B. Lärmempfindlichkeit) oft wichtiger für die erfolgreiche Anforderungsbewältigung und das erfolgreiche Abrufen der Leistung als die im Mittelpunkt stehende fachliche Kompetenz.
Die von der Kompetenzmessungsschule angestrebte strikte Unterscheidung von Beobachtung und Interpretation ist illusorisch, weil in einer interaktiven Beratungssituation das Antwortverhalten des Klienten stets der Interpretation bedarf und stets die Frage im Raum steht, wie er / sie sich in einer realen Anforderungssituation wirklich verhalten würde.
Wie funktioniert eine pragmatische Kompetenzbilanzierung für Arbeitsuchende? Ausgangspunkt ist die Annahme, dass Arbeitgeber nicht an formaler Berufsausbildung, sondern an in bestimmten Situationen oder generell abrufbaren Fähigkeiten interessiert sind, die individuell völlig unterschiedlich gebündelt oder auch sehr einseitig ausgeprägt sein können. Zunächst bedarf es also eines Rekurses auf den Kompetenzbegriff und seine wichtigsten Komponenten. Die meisten allgemeinen Kompetenzmodelle (z. B. Straka/Macke 2009, S. 14; Baumann 2013, S. 1) gehen davon aus, dass Kompetenzen vier Arten von Komponenten umfassen:
theoretisches bzw. fachliches Wissen (knowledge): Wie geht etwas?
praktisches Können (skills): Erfahrung durch Ausübung
Wollen im Sinne von Motivation, Handlungsbereitschaft, Präferenzen, Durchhaltevermögen und Durchsetzungsvermögen
Dürfen im Sinne von Legitimation: Befugnis zur Ausübung, die durch Zeugnis, Approbation, Führerschein, Staplerschein usw. nachgewiesen werden können.
Psychologen haben verschiedene wesentlich komplexere Kompetenzmodelle entwickelt, auf die wir hier nicht weiter eingehen können. Padägogen unterscheiden meist zwischen
fachlichen Kompetenzen
sozialen Kompetenzen
methodischen Kompetenzen und
personalen Kompetenzen (oder Selbstkompetenzen).
Diese Gliederung ist zwar wissenschaftlich nicht besonders gut begründet, dient aber seit etwa 20 Jahren als Ordnungsmuster und Grundlage einer pragmatischen Bilanzierung von Fähigkeiten. Schon hier sei darauf hingewiesen, dass mit dieser Klassifikation der Blick für bestimmte Traits (Ehrlichkeit, Durchhaltevermögen, Konzentrationsfähigkeit) und körperliche bzw. körpernahe Merkmale (Stimme, Aussehen, Auftritt, Körperkraft, Hand-Auge-Koordination) verloren geht, die jedoch Voraussetzungen für viele Stellenbesetzungen bilden und vor allem den Zugang zu nicht-fachlichen Arbeitsmärkten eröffnen.
Zur Bilanzierung von Kompetenzen existiert heute eine breite Vielfalt an Instrumenten und Vorgehensweisen, die sich vor allem im Hinblick auf ihre Komplexität unterscheiden:
Einfache Fragebögen zum Selbstankreuzen m Sinne einer Selbstevaluation erfassen im Allgemeinen formale Schul- und Berufsabschlüsse und Weiterbildungen zielen auf die fachliche Kompetenz und Legitimation zur Ausübung einer bestimmten Tätigkeit – beispielsweise fragen sie nach dem Vorhandensein eines Führerscheins.
Komplexere Instrumente versuchen abgestufte Ausprägungen von Kompetenzen mittels Ordinalskalen (sehr gut – gut – mittel – wenig – gar nicht) auf der Basis von Selbsteinschätzungen zu erfassen. Auf diese Weise werden häufig die sog. Schlüsselkompetenzen, soziale und kommunikative Fähigkeiten, Methoden- und Selbstkompetenz erfragt. Die so erhobenen Kompetenzen beziehen sich vorrangig auf die Berufsbiographie wie z.B. die vom ehemaligen Landesinstitut für Qualifizierung entwickelte »Kompetenzbilanz NRW« (GIB 2003). Das Feedback einer neutralen Person wird empfohlen, ist aber wohl nicht zwingend erforderlich.
Der Einsatz dialogischer Instrumente macht vor allem dann Sinn, wenn es um wichtige, gründlich zu reflektierende biographische Übergänge geht wie etwa die Wahl eines Ausbildungsberufs. Sie setzen ebenfalls auf Selbsteinschätzung von Eigenschaften und Fähigkeiten, enthalten jedoch als elementaren – wenn nicht sogar zwingenden – Bestandteil ein mehrperspektivisches Vorgehen: Der Selbstevaluation wird eine zuweilen sogar mehrfache Fremdeinschätzung gegenüber gestellt. So setzen Instrumente des Übergangsmanagements Schule – Berufsausbildung oft auf Eltern plus Lehrer/innen plus Freundinnen und Freunde als »Geber« von Fremdeinschätzung (Breuer 2005). Diese unterschiedlichen Perspektiven können in das Beratungsgespräch einbezogen werden.
Biographisch orientierte – ebenfalls dialogische – Instrumente orientieren sich an einer Betrachtung des bisherigen Lebensweges, basierend auf den Fragen »Wer bin ich?« und »Was kann ich?« Häufig unterscheiden sie Kompetenzen, die in formellen und informellen Lebenszusammenhängen erworben wurden. Die Lebensgeschichte wird als Lerngeschichte angeschaut, wobei einzelne Lernorte – etwa die Familie – je nach thematischem Schwerpunkt des Instruments »gezoomt« werden (Jaeckel/Erler 2002; KAB Süddeutschland/DJI 2000). Biographische Methoden sind immer auch auf einen intensiven Dialog mit der Beraterin / dem Berater hin angelegt. Ihr Ziel besteht in der Identifizierung und seriösen Abklärung übertragbarer Kompetenzen aus verschiedenen Lern- und Lebenskontexten und der Suche nach Möglichkeiten ihres Einsatzes in Erwerbsarbeit. Sie eignen sich besonders für Menschen mit biographischen Brüchen, also etwa langer Familienphase, Langzeitarbeitslosigkeit oder Migrationshintergrund.
Selbsteinschätzung spielt demzufolge eine wesentliche Rolle in allen Kompetenzbilanzen. Die Fremdeinschätzung ist nicht zwingend vorgesehen, wird jedoch häufig empfohlen. Oft werden Kompetenzbilanzen in Gruppen und über mehrere Tage hinweg durchgeführt, beispielsweise mit Langzeitarbeitslosen im Rahmen von Maßnahmen. Hierbei sollen sich die Teilnehmenden wechselseitig Feedback geben. Ob dies jedoch immer ein neutraler Gegen-Check ist, darf bezweifelt werden. Unter Teilnehmenden innerhalb einer Gruppe wird die Fremdeinschätzung sicherlich häufig im Sinne sozialer Erwünschtheit formuliert. Die Kompetenzbilanzierung in Gruppen hat sich dennoch als wertvoll erwiesen: Teilnehmende lernen am Beispiel Anderer zuweilen, wie sie über sich und ihre eigenen Kompetenzen berichten und sich präsentieren können. Insofern kann die Gruppe mit ihrem Potenzial an sozialen Rollenmodellen den Prozess der Bewusstseinsbildung im Rahmen der Bilanzierung durchaus begünstigen.
Die Gruppe als Ort von Kompetenzbilanzierung bietet darüber hinaus vielfältige Möglichkeiten, vielfältige Fähigkeiten eindrucksvoll zu erleben, zu erfassen und bewusst zu machen: Kooperationsübungen, Gruppendiskussionen, Selbstpräsentationen vor Publikum, die Auseinandersetzung mit Anderen in einer vergleichbaren Lebenssituation, wechselseitige Beobachtung und vieles mehr können sich als bereichernd und anregend erweisen – wenn die Gruppe professionell geleitet wird.
Die Methoden der Kompetenzbilanzen variieren auch je nach Alter und Situation. Für Schüler/innen und Jugendliche werden zum einen gern Gruppenaktivitäten etwa innerhalb einer Schulklasse vorgeschlagen und gut begründet. Zum anderen werden Ergebnisse oft mit eindrücklichen pädagogischen Mitteln dargestellt, so etwa mit der »Fähigkeitenfigur« bei Breuer (2005), die festgestellte Kompetenzen und Eigenschaften mit Körperzonen verbindet und damit schnell die Einsicht herstellen kann, ob jemand eher kopf- oder herzgesteuert ist, geschickte Hände hat oder über ausgeprägte feinmotorische Fähigkeiten verfügt. Auch ist es für Jugendliche, die noch nie gearbeitet haben, schwierig, sich zukünftige Tätigkeiten konkret vorzustellen. Die Erfassung ihrer Präferenzen muss daher oft über Analogien zu Freizeittätigkeiten und Hobbies erfolgen, gelegentlich sogar über Metaphern.
Für Erwachsene werden teils Mindmap-Methoden eingesetzt (KAB Süddeutschlands/DJI 2000), die einzelne biographische Lernorte in besonderer Weise erhellen, weil sie deren Anforderungen präzise und detailliert herausarbeiten, so dass die zu ihrer Bewältigung erforderlichen Kompetenzen erkannt und benannt werden können. Auch die auf den ersten Blick eher narrativ anmutenden biographischen Methoden münden in intelligente und »handfeste« Zusammenfassungen erworbener Kompetenzen, die der von uns vorgeschlagenen In-Wert-Setzung sehr nahe kommen.
Eine besondere Vorgehensweise und Methodik bietet der Ansatz des Life/Work Planning von Richard N. Bolles (2002), auf dem in Deutschland John C. Webb seine Seminarkonzeption zum Life/Work Planning an vielen Hochschulen aufgebaut hat. Auch der recht gut bekannte TalentKompass ist in enger Anlehnung an Bolles und Webb entwickelt worden (Arbeitsministerium NRW 2012; Röwe 2013). Der Ansatz zeichnet sich aus durch eine ganzheitliche Betrachtung der Person, das Konzept der übertragbaren Fähigkeiten und die Entwicklung der Persönlichkeit im Prozess der Auseinandersetzung mit dem Life/Work Planning. Ein wesentliches Ziel des Verfahrens besteht im Empowerment der Ratsuchenden, verstanden als Förderung von Eigenverantwortung, Motivation und aktiver Lebensgestaltung. Durch eine konsequent an den Interessen der Ratsuchenden orientierte Vorgehensweise sollen neue Tätigkeitsfelder identifiziert und der Eintritt auch in den nicht berufsfachlich strukturierten Arbeitsmarkt ermöglicht werden. Ein weiteres wichtiges Ziel besteht in der Förderung der Sprachkompetenz, um eine positive Selbstdarstellung zu unterstützen. Das schlägt sich auch in der Sprache des Ansatzes und seiner Instrumente selbst nieder, wenn von »Kraftfeldern« und »Magnetfeldern« im Sinne persönlicher Wünsche, Interessen, Präferenzen, Fähigkeiten und Werte die Rede ist.
So sind Ratsuchende nach Durchlaufen des Life/Work Planning-Prozesses in der Lage, ihre Erkenntnisse entlang der folgenden Kategorien zu benennen:
So bin ich gerne
Das tue ich gerne
Das hätte ich gerne
Das ist mir wichtig
Das interessiert mich
Das Wissen wende ich gerne an (TalentKompass 2012)
Wer diese Fragen relativ flüssig beantworten kann, ist eher in der Lage, Perspektiven für sich zu entwerfen und einen Plan zu machen, der ihn/sie seinen/ihren Wünschen näher bringt.
Der Ansatz des Work/Life Planning ist anderen Vorgehensweisen der Kompetenzbilanzierung nicht entgegen gesetzt. Er zeichnet sich jedoch durch eine noch dezidiert positivere Betrachtung von Interessen und Wünschen aus und entwickelt bewusst die Sprach- und Sprechfähigkeit von Ratsuchenden im Sinne einer klaren Selbstauskunft. Insofern geht die Kritik von Christoph Burger, die der Bolles-Methode vorwirft, sich auf verkaufbare Fähigkeiten und nicht auf Persönlichkeitsentwicklung zu konzentrieren, weitgehend ins Leere (Burger 2012).
Manche Menschen fürchten, als Ergebnis einer Kompetenzbilanzierung in eine Tätigkeit oder Funktion gedrängt zu werden, die sie gar nicht ausüben wollen oder für die sie sich unzureichend vorbereitet fühlen – auch wenn sie diese nach Einschätzung von Beratern aufgrund ihres Wissens, Könnens und ihrer Erfahrung ausüben könnten. Insofern ist im Beratungsprozess auch immer zu beachten, dass die Entdeckung und Identifizierung vorhandener Fähigkeiten nicht notwendig in die Motivation mündet, diese auch einzusetzen. Dafür kann es vielfältige Gründe geben, die hinlänglich erforscht sind. Ein empirisch gut bestätigtes Prozessmodell haben Brown und Lent (1992) entwickelt, das die Beziehung von Selbstwirksamkeits- und Ergebniserwartung untersucht. Mit »Selbstwirksamkeitserwartung« ist das Ausmaß gemeint, in dem jemand glaubt, wirksam Einfluss auf sein Leben und Schicksal nehmen zu können. »Ergebniserwartung« ist die Überzeugung, mit der jemand meint, etwas erreichen zu können, das sie / er wirklich will und verfolgt. Was zeigt das Modell?
Eine positive Selbstwirksamkeits- und Ergebniserwartung begünstigen die Verfolgung von beruflichen Entwicklungsinteressen und die Erreichung von Karrierezielen.
Die Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen Potenzial eines Menschen und dem individuellen Glauben an die eigenen Fähigkeiten produziert mentale Barrieren, die sich negativ auf die Formulierung, Verfolgung und Erreichung von beruflichen Zielen auswirken.
Einfluss auf die Selbstwirksamkeitserwartungen haben die soziale Herkunft, Geschlechterstereotypen, kulturelle Barrieren, frühe Erfolge und vor allem Zuschreibungs-(Labeling-)prozesse (Lent/Brown/Hackett 1994, zit. nach Gerstenmaier/Günther 2004, S. 935).
In der Beratung zweifeln Menschen immer wieder an ihren Kompetenzen, obwohl hinreichende Evidenz für deren Vorhandensein besteht. Das führt in der Folge dazu, dass sie gar nicht erst Ziele entwickeln, die ihren Kompetenzen angemessen wären, sondern sich mit unterwertigen Optionen begnügen. Die Beratenden sind demnach gut beraten, Wissen und Können nicht mit Wollen quasi gleichzusetzen. Vielmehr sollte im Dialog mit der Klientin/dem Klienten herausgearbeitet werden, was ihr/ihm gegenwärtig möglich ist, aber auch, was zu einem späteren Zeitpunkt möglich sein könnte. Beratung ist immer auch auf Entwicklung angelegt.
Eine Kompetenz, die ihren Trägern nicht bewusst ist und zu deren Ausübung sie nicht nachhaltig motiviert ist – vor allem nicht im Kontext von Erwerbsarbeit – , kann kaum als Kompetenz bezeichnet werden. Dennoch lässt sie sich durch geeignete Interventionen eventuell weiter entwickeln (z.B. manche Hobbies).
Für die Kompetenzbilanzierung bedeutet dies dreierlei:
Eine Kompetenz muss zunächst durch den Kopf ihrer Inhaberin/ihres Inhabers »hindurchgegangen« sein, sie/er muss sich dieses Handlungsvermögens bewusst sein, aber auch dann ist die Kompetenz zunächst einmal nicht mehr als ein Potenzial.
Ihr/e Inhaber/in muss auch motiviert sein, sie auszuüben und bis zu einem bestimmten Grad der Beherrschung zu trainieren, ansonsten hat sie für andere keinen Wert. Dies bezieht sich u.a. auch auf die Arbeitsumgebung, in der die Kompetenz angewendet werden kann. Wenn ich Brot backen kann, aber nicht früh aufstehen will, kann ich meine Kompetenz als Bäcker nur schwer verwerten. Wenn ich Chirurgin werden will, aber auf halber Stelle arbeiten und jeden Tag um 14 Uhr Schluss machen möchte, bekomme ich irgendwann nur noch die langweiligen »geplanten« Operationen zugeschoben.
Die Kompetenzfeststellung bleibt auch dann immer noch eine Hypothese, solange die Kompetenz nicht praktisch erprobt bzw. ihr Vorhandensein nicht glaubhaft gemacht werden kann. Das bezieht sich vor allem auf die praktische Könnens- und Wollenskomponenten, während man die Wissenskomponente (z.B. Fachtheorie) einfacher testen und die Legitimationskomponente aus Zeugnissen und Zertifikaten ablesen kann.
Daraus folgt, dass die Beratenden für die Ermittlung von Kompetenzen weitgehend auf die Selbstauskünfte ihrer Träger/innen und auf deren Erinnerung an frühere Lernerfahrungen und Anwendungssituationen angewiesen sind. Ihnen müsse diese Ressourcen und Potenziale oft erst bewusst gemacht werden. Eine Kompetenzfeststellung bei einem nicht außerordentlich selbstbewussten Menschen ist also immer eine Art Empowerment, das von kritischen Gegenchecks durch die Fremdsicht begleitet sein muss. Sie vollzieht sich im Wechselspiel der Weiterentwicklung der Sicht auf die eigenen Kompetenzen und der Fremdsicht, also in einem interaktiven und reflexiven Prozess. Das setzt besondere Fragetechniken voraus, die sich durch hochstandardisierte Instrumente nicht ersetzen lassen. Weder die Eigensicht ohne Gegen-Check noch die objektivierte Fremdsicht können diesen Dialog ersetzen. Kompetenz sollte also stets in enger Verknüpfung mit Beratung bilanziert werden (Bretschneider/Preißer 2003; Preißer 2009).
Häufig wird berichtet, dass Klientinnen und Klienten am Sinn einer Bilanzierung ihrer Fähigkeiten zweifeln, da sie unterstellen, dass der Arbeitsmarkt keine entsprechenden Stellenangebote bereithält. Berater/innen sollten deshalb Transparenz und Sinnhaftigkeit herzustellen versuchen: Wozu ist es gut zu wissen, welche Fähigkeiten man hat – auch wenn aktuell der Arbeitsmarkt andere Profile verlangt? Rat- und Arbeitsuchende sollten in einem reflexiven Beratungsprozess immer auch Kompromiss- und Entscheidungsfähigkeit entwickeln: Wenn ich etwas kann und will, das im Moment in meinem lokalen Umfeld aber nicht gefragt ist –wo finde ich die größte Deckungsgleichheit zwischen den Anforderungsprofilen lokal verfügbarer Stellen und meinem persönlichen Kompetenzprofil? Wie kann ich meinen Suchradius ausdehnen, um meine Fähigkeit und Interessen in einer entsprechenden Stelle besser einbringen zu können? Voraussetzung dafür ist der Dialog zwischen Ratsuchenden und Beratenden.
Kommen wir zurück auf die im ersten Abschnitt skizzierte zunehmende Normalität biographischer Übergangssituationen bei oft gleichzeitig bestehender Sehnsucht nach den »alten« stabilen Erwerbsverlaufsmustern. Sie betrifft Menschen ganz unterschiedlicher Altersstufen: Ältere, die durch welche politischen und ökonomischen Bedingungen auch immer aus dem Erwerbsleben herauskatapultiert wurden und den Wiedereinstieg nicht oder nur sporadisch geschafft haben, blockieren sich oft dadurch, dass sie an Vergangenem quasi »kleben« und es ihnen nicht gelingt, nach vorn zu schauen. Durch den Aufbau von Parallelwelten jenseits des Erwerbslebens konstruieren sie sich Sinnzusammenhänge, in denen sie Befriedigung finden, die aber die Orientierung auf Neues in Arbeit und Beruf verhindern können. Aber auch Angehörige der jungen Generation erleben immer wieder Verzögerungen und Warteschleifen bei dem Versuch des Eintritts in die Berufswelt. Hurrelmann beschreibt das Jugendalter als »Schlüsselphase in einem neu zu komponierenden Lebenslauf, denn es ist Vorbote der Ent-Strukturierung und De-Standardisierung von Lebensphasen« (2003, S. 177f.) Der »Jahrmarkt der Lebensmodelle« (Täubner 2005, S. 72) produziert auch unter jungen Hochqualifizierten seine Sinnkrisen.
In diesen sich ausdehnenden Übergangssituationen, die von Beck und Beck-Gernsheim schon vor 20 Jahren beobachtet bzw. prognostiziert wurden und ihnen zufolge zu »Bastelbiographien« (1993) führen, brauchen Menschen eine sensible Beratung, die ihre Befindlichkeit und die Trauer um Verlorenes anerkennt und auf dieser Basis erst die psychische Disposition schafft, nach vorn zu schauen und sich neu zu orientieren, auch wenn diese Orientierung vielleicht nur für einen sehr begrenzten Zeitraum Perspektiven bietet. Denn die Identität wird durchaus erschüttert durch wiederholte Verluste von Arbeit, insbesondere dann, wenn dies dauerhaft zur Exklusion geführt hat. Aber auch wenn Menschen noch vor Beginn ihres Berufslebens nicht mit stabilen Erwerbsverläufen rechnen dürfen, kann dies zu schwerwiegender Verunsicherung und Erschütterung führen. Daher muss das Kompetenzbilanzierungsverfahren an die Lebenssituation der Klientinnen und Klienten angepasst werden, wofür eine hohe Diversity-Kompetenz notwendig ist (Weißbach 2005).
Die Beratung im Kontext von Arbeit, Beruf und Karriere hat vor allem zu berücksichtigen, dass persönliche Ressourcen der Bewältigung von (Arbeits‑)Verlusten im Lebenslauf nicht in allen Phasen kontinuierlich zur Verfügung stehen. Es wäre sicher vermessen zu behaupten, dass Kompetenzbilanzierung das Allheilmittel zur Bewältigung beschädigter Identität ist; sie ist aber besser geeignet als das Insistieren auf der Forderung nach mehr und längerer formaler Qualifikation. Wo das auf dem Abgleich von Anforderungs- und persönlichem Profil basierende Matching nicht mehr so einfach funktioniert, bietet die Erforschung der Biographie und die Betrachtung biographischer Lernorte eingebettet in einen hochwertigen Beratungskontext die Chance, sich seiner Identität bewusst zu werden. Menschen müssen darum biographische Übergänge und Krisen nicht lieben, aber Beratende können ihnen – außerdurch andere Interventionen – auch mittels Kompetenzbilanzierung helfen, sich selbst nicht zu verlieren, ihr Potenzial zu entdecken und so zu lieben, dass sie daraus etwas machen können.
Die Reflexion des Klienten wird durch häufigen Perspektivwechsel während des Beratungsgesprächs gefördert. Folgende Interventionsmöglichkeiten gibt es dafür:
Mehrfacher Wechsel der Zeitperspektive (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft)
Wechsel zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgebersicht (»Und wie hat das Ihr Chef gesehen?«; Nutzung von Begriffen, die für Stellenausschreibungen typisch sind: »Glauben Sie, dass Sie so flexibel sind wie es dort gefordert wird?«)
Wechsel zwischen Berater- und Klientenperspektive (»Was glauben Sie, wie wirken Sie jetzt auf mich?«)
Wechsel zwischen Fokussierung und Ausweitung der Perspektive
Vergleichsfragen, dynamische Perspektive (»Sind Sie jetzt näher dran am Arbeitsmarkt – oder weiter weg?«)
Kontrafaktisches Fragen (»Was wäre wenn ...?«)
Allein die Notwendigkeit des häufigen Perspektivwechsels und die Notwendigkeit, die Fragen an das sprachliche Verständnisniveau der Klienten anzupassen, führen dazu, dass eine interaktive Kompetenzbilanz nie vollständig standardisiert sein kann. Beispiele derartiger, flexibel anpassbarer Leitfäden für Gering-, aber auch Hochqualifizierte finden sich bei Weißbach und Weißbach (2012).
Zuweilen bilanzieren Ratsuchende für sich am Ende, welche Kompetenzen ihnen fehlen oder welche nicht hinreichend ausgeprägt sind, um ihren Traumjob zu finden oder ihre Gründungsidee zu verfolgen und bauen sich damit neue Denkbarrieren. Eine abschließende Bewertung der Bedeutung vorhandener oder fehlender Kompetenzen nach Kategorien wie »wichtig«, »mittel«, »gering« hat sich dann bewährt, wenn Ratsuchende bereits eine Idee oder ein Ziel im Kopf haben, aber an sich zweifeln. Durchführung und Auswertung von Kompetenzbilanzen und In-Wert-Setzung von Kompetenzen sollte in ein Gesamtkonzept von Arbeits-, Berufs- und Karriereberatung eingebettet sein, das die Aneignung durch den Träger/die Trägerin der entdeckten Schätze fördert und in Beziehung setzt zu Interessen, Präferenzen, Werten und angestrebten Ergebnissen. Eine sorgfältig durchgeführte Kompetenzbilanz kann einen Beitrag zur Beantwortung der Fragen »Wer bin ich?«, »Was kann ich?« und »Wo will ich hin?« leisten. Hochwertige Kompetenzbilanzierung zeichnet sich durch die Entdeckung von Pfaden aus, die der oder die Ratsuchende oder Arbeitslose vorher nicht gefunden hat.
Dass Beratende, die als Selbstständige – etwa als Karriereberater/innen –, aber auch bei Bildungsträgern oder Trägern der beruflichen Rehabilitation tätig sind, Kompetenzbilanzierungen als wertvolle Unterstützung ihrer Tätigkeit betrachten, liegt nahe. Ihr Auftrag besteht ja gerade darin, Möglichkeiten auch bei schwierigen und anspruchsvollen Fällen zu eröffnen, ohne dafür das Portfolio der psychologischen Diagnostik bemühen zu müssen. Dazu bedarf es geeigneter niedrigschwelliger oder auch »informeller« Instrumente. Menschen, die beispielsweise in den Jobcentern der Agentur für Arbeit als Vermittler/innen arbeiten und auch einen Beratungsauftrag gegenüber ihrer Klientel haben, fällt es häufig schwerer, auf Wünsche und Interessen ihrer Kundinnen und Kunden einzugehen. Sie neigen eher zur Vermittlung in irgendeine halbwegs passende Stelle, da sie auch den Auftrag haben, dass ihre Klientel die Hilfebedürftigkeit überwindet und sich ihren Lebensunterhalt selbst verdient statt im Leistungsbezug zu verharren. Für Kompetenzbilanzierungen scheint da keine Zeit zu bleiben, und für die Orientierung an Wünschen, Werten, Präferenzen der Klientel fehlt oft die Motivation, da dies im institutionellen Kontext von Zwangsberatung angeblich nicht erwünscht ist. Auf diese Weise bauen sich Beratende aber selbst mentale Gefängnisse, weil sie einem vordergründigen Vermittlungsauftrag hinterher jagen und nicht sehen, dass die Befassung mit den Wünschen ihrer Klientel zu bisher nicht in den Blick genommenen Tätigkeitsfeldern und ungeahnten Möglichkeiten führen kann. Menschen können den Weg auf den Arbeitsmarkt oft leichter beschreiten, wenn man sie häufiger fragt, was sie besonders gut können und was sie besonders gern tun – und auch bereit ist, sich die Antwort anzuhören und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Eine ausgeprägte Kompetenz zur Gesprächsführung ist also die Voraussetzung für die produktive Anwendung interaktiver Kompetenzbilanzierungsverfahren.
Baumann, Daniel (2013): Leistung = Wissen Können Wollen Dürfen. Vortrag auf der Spm/BWI Frühjahrstagung 2013: »Projektmanagement – Out oft he Box«, Zürich, 23. Mai 2013
Beck, Ulrich (1995): Die Individualisierungsdebatte. In: Schäfer, Bernhard (Hg.): Soziologie in Deutschland. Opladen (Leske und Budrich), S. 185 – 198.
Beck, Ulrich & Beck-Gernsheim, Elisabeth (1993): Nicht Autonomie, sondern Bastelbiographie. Anmerkung zur Individualisierungsdiskussion am Beispiel des Aufsatzes von Günther Burkhard. Zeitschrift für Soziologie (22), 178 – 187.
Beuker, Christine (2005): Berufswahlorientierung nicht nur für Mädchen. Eine Methodensammlung für Pädagoginnen und Pädagogen, entwickelt im Rahmen der EQUAL-Partnerschaft FUTURA, hrsg. vom Berufsorientierungszentrum des Berufsbildungsstätte Westmünsterland. Ahaus.
Bolles, Richard Nelson (2002): Durchstarten zum Traumjob. Das Handbuch für Ein-, Um- und Aufsteiger. Frankfurt am Main (Campus).
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