Editorial

Irene Strasser & Susanne Ogris

Das Altern bzw. das Älterwerden einer immer größeren Anzahl von Menschen wird zunehmend als gesellschaftliches, weil ökonomisches Problem, sowie – ausgehend von einem defizitären Altersbild - als individuelles Problem dargestellt (vgl. Backes 1997, Köster 2012). Dem gegenüber wird in jüngster Zeit nicht weniger dogmatisch die Bewegung des »productive aging«, des erfolgreichen und aktiven Alterns, mit seinem Postulat der Aktivitätsverpflichtung und Selbstverantwortlichkeit in den Raum gestellt (vgl. dazu van Dyk 2009). Beide Ansätze (pathogenetisch/defizitfokussiert versus salutogenetisch/ressourcenfokussiert) vertreten Positionen, zwischen denen wenig Spielraum für ein differenziertes gesellschaftliches Bild vom Altsein und ein stereotypenfreies, biografie- und subjektorientiertes Herangehen an einen als alt definierten oder sich als alt definierenden Menschen bleibt.

Die vorliegende Schwerpunktausgabe zu kritisch-gerontologischen Ansätzen will einen kritischen und interdisziplinären, vom Mainstream gerontologischer und geriatrischer Betrachtungsweisen abweichenden Blick auf das Thema Alter(n), die damit verbundenen (Selbst‑)Zuschreibungen, gesellschaftlichen Haltungen und die Haltungen der im Gesundheitsbereich tätigen Professionen werfen.

Im Rahmen der hier vertretenen Beiträge werden mehrere unterschiedliche Themenbereiche aus der Sicht verschiedenster Professionen und wissenschaftliche Standpunkte theoretisch und/oder praxisbezogen verhandelt.

Zur Frage, wie Altersbilder und Haltungen entstehen, gesellt sich schnell eine weitere Überlegung, nämlich welche gesellschaftlichen Bedingungen dazu führen und warum bzw. unter welchen historischen, gesellschaftlichen, ökonomischen wie individuellen Bedingungen und für wen Altern zu einem Problem wird (Backes 1997). In diesem Zusammenhang spielen auch Fragen der sozialen Ungleichheit eine bedeutende Rolle, werden aber im Mainstream gerontologischer Diskurse selten thematisiert. Pelizäus-Hoffmeister zeigt dazu in ihrem Beitrag anhand ausgewählter historischer Beispiele die Tendenz auf, dass die in einer Gesellschaft vorherrschenden Altersbilder in Wechselbeziehung zu den jeweiligen gesellschaftlichen Positionen und Rollen, die Ältere innehaben, und ihren sich daraus ergebenden (Un‑)Sicherheitslagen stehen.

Rossow und Koll-Stobbe legen aus soziolinguistischer Perspektive ihr Augenmerk zum einen auf die diversen gesellschaftlichen und medialen Alter(n)sdiskurse sowie die sprachlichen Bedeutungsstrukturen von Alter(n)sbildern auch im Hinblick auf das Verhältnis von »jung« und »alt«. Zum anderen zeigen sie am Beispiel von Alterskomplimenten, wie sich diskursiv verbreitete, implizite Altersbilder in intergenerationellen Interaktionsroutinen manifestieren, aber letztlich auch in Frage gestellt und modifiziert werden können.

Ein weiterer Themenbereich, der in mehreren Beiträgen behandelt wird, ist jener der subjektiven Vorstellungen und Theorien zum eigenen Älterwerden.

Theoretiker_innen im Bereich der Altersforschung und auch Praktiker_innen in Gerontologie und Geriatrie, die das Alter beschreiben und zum Teil dadurch auch bewerten sind vor allem junge bzw. Menschen mittleren Alters, die selbst noch nicht die Erfahrung des Alter(n)s gemacht haben; und während vor einigen Jahrzehnten zunächst noch eine stark defizitorientierte Perspektive eingenommen wurde, wendet man sich heute vermehrt positiven und positiv-psychologischen Aspekten des Alters zu. »Wer das Alter lobt, hat ihm nicht ins Antlitz geblickt« ist jedoch beispielsweise ein dem italienischen Philosophen Norberto Bobbio zugeschriebenes Zitat, das sehr trefflich die Kritik an einer wiederum allzu idealisierten Betrachtung des Alters seitens jüngerer Menschen illustriert. Oft wandelt sich die Bewertung des Alter(n)s mit der persönlichen Erfahrung, wie Noack Napoles es in ihrem Beitrag für die beiden Entwicklungspsycholog_innen Erik und Joan Erikson darlegt. Deren Auseinandersetzung mit dem eigenen Altern als biografische Erfahrung scheint bedeutend für ihre späten Alter(n)skonzeptionen in der eigenen Theorienbildung.

Auf konkrete Altersselbstbilder geht der Beitrag von Grillitsch und Jenull näher ein und fokussiert auf die Vorstellungen von Frauen über das eigene Älterwerden in Bezug auf Körperlichkeit und Attraktivität. Die Autorinnen thematisieren dabei auch gesellschaftliche Idealbilder der ewigen Jugendlichkeit.

Der dritte große Themenkomplex widmet sich den u.a. für die Praxis des Gesundheits- und Sozialbereichs relevanten Fragen, welche Rolle die Haltungen, die subjektiven Alternstheorien und Altersbilder der in gerontologischen Arbeitsfeldern tätigen Professionist_innen spielen. Dabei stellt sich vor allem die Frage, inwiefern Stereotype über alte Menschen, das Altern und damit verbundene Vorstellungen über (vermeintliche) Veränderungen, Einschränkungen und Bedürfnisse handlungsleitend werden.

Hermann geht in ihrem Beitrag unter anderem darauf ein, welches doppelte Stigmatisierungsrisiko für alte, psychisch kranke Menschen bestehen kann. Dabei wird sowohl auf ein Evaluationsprojekt eingegangen, in dem Altersbilder vor allem von Gesundheitsberufsgruppen erfasst wurden, als auch ein Mehrgenerationen-Konzept einer Psychotherapie-Station vorgestellt.

Kammerer, Falk und Heusinger stellen eine noch bis 2016 laufende Studie (PSYTIA) vor, in deren Fokus der Zugang zu psychotherapeutischer Versorgung älterer, depressiv erkrankter Menschen und dessen Bedingtheit durch Altersfremd- und Altersselbstbilder der beteiligten Akteur_innen (Ärzt_innen, Psychotherapeut_innen und ältere Menschen) stehen.

Blaser, Becker, Wittwer und Berset richten den Blick in ihrer Studie auf die subjektiven Einstellungen von Pflege- und Betreuungspersonen zum Krankheitsbild Demenz und wie diese den Umgang mit demenzkranken Menschen in der täglichen Pflegeroutine beeinflussen. Basierend auf den hier vorgestellten Forschungsergebnissen entwickeln die Autorinnen gegenwärtig interaktionsorientierte Konzepte, die in Pflege- und Betreuungssituationen nicht nur den/​die Betroffene_n selbst, sondern vielmehr die Person des/der Betreuenden in den Blick nehmen - mit dem zukünftigen Ziel, daraus Lehr- und Lernkonzepte zur Persönlichkeitsentwicklung von Pflegenden ableiten zu können, die die Selbstreflexion und Introspektionsfähigkeit hinsichtlich subjektiver Einstellungen fördern.

Allen drei Beiträgen gemein ist, dass sie über die reine Feststellung des Vorliegens von Altersstereotypen bei Fachkräften hinausgehen und sich mit möglichen Konzepten beschäftigen, deren Ziel eine stärker sowohl subjekt- als auch interaktionsorientierte Herangehensweise in der Pflege, Betreuung und psychosozialen Arbeit mit älteren Menschen ist.

Zur Frage, welche Rolle Partizipation, Demokratieteilhabe und Mitspracherecht in der Gerontologie spielen und welche Handlungsspielräume sich dabei orten lassen, nehmen Frewer-Graumann und Schäper konkret Bezug auf die Situation von alternden Menschen mit Behinderung. Sie verdeutlichen u.a. die Forderung nach selbstbestimmtem Altern einer Personengruppe, die in gerontologischen Bereichen bislang weitgehend unsichtbar ist.

Kollewe zeigt beispielhaft an der Situation in Großbritannien Diskurse über und Entwürfe von partizipativer Forschung sowie Praxis auf. Dabei liegt ein Fokus auch auf einer kritischen Auseinandersetzung mit Forderungen nach »active aging« und Formen der lediglich vermeintlichen Teilhabe.

Die vorliegenden Beiträge sprechen zu einem großen Teil neuere Bereiche an oder fokussieren auf wenig beachtete Aspekte innerhalb der Gerontologie und setzen sich hier mit kritischen Diskursen oder Forschungsansätzen auseinander. Gleichzeitig ist mit dieser Ausgabe gelungen, ein recht breites Feld an Perspektiven, Disziplinen und Themenbereichen innerhalb kritischer gerontologischer Theorien und Praktiken zu beleuchten. Allen Beiträgen gemeinsam ist dabei eine kritische Reflexion von oftmals unhinterfragten Paradigmen in der Gerontologie und gerontologischen Praxis sowie die Überwindung der Idee, den vielkritisierten defizitorientierten Ansatz durch ein einseitiges »Aktivierungsparadigma« ersetzen zu wollen.

Literatur

Backes, Gertrud M. (1997): Alter(n) als ›Gesellschaftliches Problem‹?:zur Vergesellschaftung des Alter(n)s im Kontext der Modernisierung. Opladen (Westdt. Verlag).

Köster, Dietmar (2012). Thesen zur kritischen Gerontologie aus sozialwissenschaftlicher Sicht. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 45, 603-609.

van Dyk, Silke (2009): Das Alter: adressiert, aktiviert, diskriminiert. Theoretische Perspektiven auf die Neuverhandlung einer Lebensphase. Berlin J Soziol, 19, 601-625.

Über die Autorinnen

Irene Strasser

Irene Strasser, Dr., Assistentin am Institut für Psychologie, Universität Klagenfurt, Österreich. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte in den Bereichen Entwicklungspsychologie der Lebensspanne, Alter(n)sforschung, subjektive Entwicklungstheorien, Gender Studies, Entwicklung von Weisheit im Kontext biografischer Erfahrungen.

E-Mail: susanneogris@yahoo.de

Susanne Ogris

Susanne Ogris, Dr., Klinische und Gesundheitspsychologin, promovierte Pädagogin und zertifizierte Beraterin für Gender and Diversity Management. Leiterin des Tageszentrums für SeniorInnen im jüdischen Elternheim Wien, Österreich. Lehr- und Vortragstätigkeit in den Bereichen: Gerontologie, transkulturelle Aspekte in der Gesundheits- und Krankenpflege, Migration, Psychotraumatologie, interkulturelles Lernen und Erinnerungsarbeit.

E-Mail: irene.strasser@uni-klu.ac.at