Nachruf

Erinnerung an Werner Deutsch (1947-2010)

Am 12. Oktober 2010 starb plötzlich und völlig unerwartet Werner Deutsch. Wir haben einen prominenten Wissenschaftler verloren und viele von uns trauern über den Tod eines guten Freundes.

Werner Deutsch wurde 1947 in Bedburg-Hau, einem kleinen Ort in der Nähe von Kleve am Niederrhein geboren. In Kleve ging er auf das Gymnasium und machte 1966 sein Abitur. Gleich danach studierte er an den Universitäten Münster und Marburg Psychologie, Philosophie und Sprachwissenschaft. Als frischgebackener Diplompsychologe wurde er 1972 in Marburg Forschungsassistent bei Theo Hermann. 1976 promovierte er bei Theo Hermann und ging dann, als Stipendiat von Eve und Herbert Clark, an die Stanford University nach Kalifornien. Hier, weit weg von Zuhause, stieß er auf eine Psychologie von Zuhause, auf die Arbeiten von Clara und William Stern. Er war fasziniert von diesem vergessenen Werk und entdeckte dessen Bedeutung für die Erneuerung der Psychologie. Diese Wiederentdeckung von Sterns Subjektpsychologie und kritischen Personalismus hat das Denken von Werner Deutsch bewegt und es bildete das Zentrum seines Schaffens und Wirkens.

Zurück aus den USA arbeitete Deutsch ab 1977 zehn Jahre am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik im niederländischen Nijmegen, ganz in der Nähe seines Geburtsortes. Diese Zeit war geprägt von verschiedenen Forschungsaufenthalten, etwa am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung in Bielefeld, an der Hebräischen Universität in Jerusalem und an den Universitäten in Nijmegen, Mannheim, Göttingen und Umea (Schweden).

Im Frühjahr 1987 nahm Deutsch eine Professur an der Technischen Universität Braunschweig an und die darauffolgenden zwei Jahrzehnte bildeten eine Blütezeit seines Schaffens. Es gab zahlreiche Publikationen über die historische Bedeutung der Werke von Clara und William Stern, über die Entwicklung des Sprechens, des Singens und des Zeichnens, über Identitätsentwicklung (vor allem bei Zwillingen), und vieles mehr. Durch seine Arbeit zu Stern hatte ich das Glück Werner Deutsch kennenzulernen und mit ihm über die Jahre zusammenarbeiten zu können.

1991 erhielt ich eine Einladung, einen Vortrag über William Stern auf dem Kongress der American Psychological Association zu halten. Damals waren meine Stern-Kenntnisse noch ziemlich in den Kinderschuhen. Glücklicherweise aber erschien gerade in dieser Zeit der von Werner Deutsch herausgegebene Band Die Verborgene Aktualität von William Stern. Der Band eröffnet tiefe Einblicke in Sterns Forschen und Denken und bildete die Grundlage meines Vortrages. Aufgrund der Ermutigung von Deutsch entschied ich mich weiter an den Werken von Stern zu arbeiten.

1989, am Max-Planck-Institut in Nijmegen, traf ich Werner Deutsch zum ersten Mal. Dort staunte ich darüber, dass bei einem von ihm geleiteten Projekt sämtliche Kindertagebücher von Clara und William Stern – Tagebücher, die ungefähr 5.000 Seiten umfassten – in allgemein lesbare Form auf Computerdisketten gebracht wurden. Und noch besser: Deutsch schenkte mir den ganzen Satz von Disketten. Damit begann mein Leben als Stern-Forscher.

Seitdem arbeiteten wir immer wieder zusammen, immer in irgendeiner Weise verbunden mit den Werken von Clara und/oder William Stern. 1997 organisierte ich eine Stern-Konferenz an der Georgetown University in Washington. Deutsch nahm natürlich daran teil und daraus entstand ein von uns beiden herausgegebenes Sonderheft der Zeitschrift Theory and Psychology (Dezember, 2000) und wir schrieben gemeinsam den einleitenden Artikel.

Zwei Jahre zuvor hatte ich Deutsch in Braunschweig besucht und ihm meine amerikanische Übersetzung des von Clara und William Stern im Jahre 1909 veröffentlichten Buches Erinnerung, Aussage und Lüge in der ersten Kindheit überreicht. Er las die gesamte Übersetzung Satz für Satz neben dem deutschen Original und überprüfte die Genauigkeit meiner Übersetzung. Alleine Dank seiner Hilfe konnte die Übersetzung 1999 veröffentlicht werden.

Ich besuchte Werner immer wieder an seinem Institut in Braunschweig, er kam auch ab und an nach Washington, und wir gingen zusammen auf Tagungen: Hamburg, 1994, Dresden, 1998, Moskau, 2005, Jena, 2007, Budapest, 2009. Nur wenige Tage vor seinem Tod waren wir dabei, ein Stern-Symposium für eine Tagung im kommenden Juni in New York zu organisieren. In seiner letzten E-mail an mich am 4. Oktober 2010 schrieb er:

Lieber Jim, danke für Deine Anfrage. Im Prinzip ja, denn inzwischen sind es über dreißig Jahre, seit dem ich in New York gewesen bin, und eine Tagung mit Dir ist immer auch ein Vergnügen. Ich würde gerne über das Interesse der Sterns an Kinderzeichnungen etwas machen und die Positionen von Stern, Bühler und Piaget miteinander vergleichen. Das ist nur eine Idee. Wir können auch ganz normal über die Frage reden, warum aus entwicklungspsychologischer Sicht die sich entwickelnde Person nicht als kleiner defizitärer Erwachsener betrachtet werden soll. Der Großteil der aktuellen Forschung geht leider immer noch davon aus, die kindliche Entwicklung mit den Augen von Erwachsenen zu betrachten. Das war bei den Sterns schon ganz anders. Beste Grüße, Werner

Irgendwann im Jahre 2002 meldete sich Deutsch bei mir und erklärte, dass er mich für die Ernst-Cassirer Gastprofessur an der Universität Hamburg vorschlagen würde. »Warum?«, fragte ich ihn, »ich bin doch kein Cassirer Experte«. Er meinte, dass diesesmal jemand gesucht wird, der sich über einen engen Kollegen von Cassirer auskennt: William Stern. Zum Sommersemester 2004 wurde ich dann an die Universität Hamburg eingeladen, um ein Semester über Sterns Leben und Werk zu forschen und zu lehren. Es sollte eine der größten Erfahrungen meines bisherigen beruflichen Lebens werden.

Ich hoffe, dass ich Werner Deutsch im Laufe unseres Zusammenarbeitens deutlich machen konnte, wie sehr er mein persönliches und akademisches Leben bereicherte und wie sehr ich ihn schätzte. Nicht nur für die Psychologie ist sein Tod ein enormer Verlust. Wir werden ihn vermissen.

Autorenhinweis

James T. Lamiell

James T. Lamiell Georgetown University Washington DC

E-Mail: lamiellj@georgetown.edu