Zeugnis ablegen als »DoingTestimony« – Interviewinteraktion in Zeitzeugeninterviews

Christopher Poppe, Michael B. Buchholz & Marie-Luise Alder

Zusammenfassung

Zeitzeugeninterviews gelten als Methode, um historische Erfahrung festzuhalten. Das Interview als Forschungsmethode wird in letzter Zeit für die Nichtbeachtung der Interaktion kritisiert. Die Konversationsanalyse (KA) von Interviews mit Zeitzeugen könnte hier ein interessantes Korrektiv darstellen. Sie zeigt Ähnlichkeiten von Zeitzeugeninterviews und Medieninterviews auf, in denen das Gespräch auch immer auf eine »overhearing audience« (Heritage 1985), ein nicht-anwesendes Publikum, gerichtet ist. Um sprachlich-interaktive Praktiken in Zeitzeugeninterviews darzustellen, wird auf das konversationsanalytische Konzept des »recipient design« zurückgegriffen; Äußerungen werden »zugeschnitten« auf Hörer. In die Untersuchung gingen acht Interviews aus den Jahren 2005/2006 ein. Der epistemologische Status des Zeitzeugeninterviews wird diskutiert.

Schüsselwörter: Zeugenschaft, Adressatenzuschnitt, Konversationsanalyse, soziale Interaktion, qualitative Methodologie, recipient design

Keywords: historical testimony, recipient design, conversation analysis, social interaction, qualitative methodology, recipient design

Summary

The narrative interview is the method of choice for preserving historical experience. However, interviewing as social research method is seriously criticized for neglecting interview interaction. Conversation analysis (CA) could bring in some corrections in this debate. Using this method, the conversational practices in interviews for historical testimony, especially the «recipient design” of interviewee’s utterances are examined. In 8 interviews for historical testimony from the years 2005-2006, not only the interviewer but also a third non-present other, an «overhearing audience” (Heritage 1985), is addressed. These findings are discussed in comparison to media interviews.

Schüsselwörter: Zeugenschaft, Adressatenzuschnitt, Konversationsanalyse, soziale Interaktion, qualitative Methodologie, recipient design

Keywords: historical testimony, recipient design, conversation analysis, social interaction, qualitative methodology, recipient design

1. Einleitung

Zeitzeugenschaft hat sowohl in der medialen Erinnerungskultur als auch in der Geschichtswissenschaft einen unbestrittenen Stellenwert. Aus den Anfängen der Oral History in den 1960er Jahren hat sich eine breite Diskussion des methodologischen Stellenwerts von Zeitzeugenschaft ergeben (vgl. Niethammer 1985; v. Plato 2000). Zeitzeugen stehen für historische Nähe und historische Unmittelbarkeit, Zeugenschaft abzulegen ist »auf die Spanne des Menschenlebens« (Sabrow 2012, S. 26) begrenzt. Mit wachsendem Abstand zu Ereignissen und Tod vieler Zeitzeug_innen (»historische Krise der Zeugenschaft«, Baer 2008, S.12) erscheint es immer dringlicher, Zeitzeugenschaft medial zu konservieren. Mehr noch, Zeitzeugenschaft ist immer »medial verfasst« (Keilbach 2012, S. 281). Diese mediale Verfasstheit wird in dieser Arbeit hinsichtlich der sprachlich-interaktiven Praktiken von Zeitzeug_innen erarbeitet. Unsere Methodologie nimmt Kritik am Interview auf, wie sie in anderen Zusammenhängen artikuliert wurde (Ayaß/Bergmann 2011; Button 1992; Maynard/Schaeffer 2006; Potter/Hepburn 2005), ohne dass diese Diskussionen als abgeschlossen bezeichnet werden könnten. So sind hinsichtlich des Zeitzeugeninterviews als Forschungsinstrument eine Vielzahl von methodischen Fragen offen, die sich aus der sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Interview als Erhebungsinstrument ergeben (Deppermann 2013; Wooffitt 2006). In den Sozial- und Geschichtswissenschaften (Paoletti/Johnson 2007) sind sie partiell diskutiert, aber nicht breit rezipiert worden. Alle Kritik fokussiert den aktiven Beitrag von Interviewern sowie den medialen Kontext des Interviews und fragt in methodischer Skepsis, welche Rolle diesen beiden Momenten bei der Gestaltung der Antworten zugemessen werden müsse. Auf solche methodischen Probleme bei der Datenerhebung durch qualitative Interviews, die systematisch und empirisch oft zu wenig erörtert sind, soll deshalb zuerst eingegangen und Perspektiven zu ihrer Lösung diskutiert werden. Anschließend werden mit einer geeigneten Methode, der Konversationsanalyse, sprachliche Praktiken, mit denen Zeitzeugen und Intervieweren sich an nicht-anwesende Publika wenden, analysiert.

2. Beispiel zur Einführung

Das Interview mit Jutta B.-P. beginnt mit folgendem Abschnitt (vgl. Abbildung 1):

Abbildung 1: Transkript 1 aus dem Interview mit Jutta B.-P. (ZA ID061, Zwangsarbeit Archiv 1939-1945)

Der Interviewer AVP (Alexander von Plato) benennt Eckdaten des Interviews und anwesende Personen, beschreibt den Ablauf des Interviews mit monologischem Rederecht der Zeitzeugin zu Beginn und darauffolgendem Fragenteil. Deren postalische Anschrift ist im Gegensatz zu den Namen der Anwesenden anonymisiert[1]. Das präsentierte Transkript (Abbildung 1) ist geglättet und orientiert sich an schriftlicher Sprache. Eine genauere, von uns angefertigte Transkription der Aufzeichnung, die den Regeln des Gesprächsanalytischen Transkriptionssystems 2 (GAT) von Selting et al. 2009 folgt, – findet sich in Abbildung 2.

Abbildung 2: GAT-Transkription der Interviewsequenz mit Jutta B.-P. (ZA ID061, Zwangsarbeit Archiv 1939-1945)

Wir sehen nun deutlicher, wie der Anfang des Interviews in einen interaktiven Kontext eingelagert ist. Die Interviewte (IE) ist mehr als nur Informantin; sie ist Beobachterin einer sie leicht irritierenden Interaktion: Nach der Frage eines der Kameramänner, ob eine Kamera neben einer anderen mit aufzeichnen sollte (Segment 013), bejaht dies der Interviewer, während der andere Kameramann ihm ins Wort fällt und dies verneint. Diese Verneinung (S 015) bezieht sich zum einen auf die Sache (»die defau nich«), zum anderen ist sie Fremdkorrektur am Interviewer - mit angehängtem tag (»ne« mit abfallender Intonation, S 015). Die »defau« steht dabei für DV, also Digital Video. Dies »tag«, nämlich das angehängte »nich«, fordert Zustimmung ein, obwohl inhaltlich Widerspruch besteht (Hagemann 2009). Der Interviewer reagiert mit Ausatmen und einem glucksenden »Achso«. Dieser Widerspruch, dem auch eine gewisse emotionale Qualität eignet, wird von der Befragten bemerkt und kommentiert, als wäre sie forschende Sozialwissenschaftlerin: ob Kameramänner und Interviewer bereits zusammen gearbeitet haben? Das ist der linguistischen Form nach eine Frage, der konversationellen Funktion nach evaluierender Kommentar dessen, was sie hat beobachten können. Die hohe Intonation ihrer Frage könnte ihre Skepsis ausdrücken; möglicherweise stellt sich ihr auch eine Frage nach der Verlässlichkeit der Interviewsituation. Mit einem schnell anschließenden zweisilbigen »ja::« (S022) versichert ihr der Interviewer diese und schließt zugleich weitere Nachfragemöglichkeiten. Erst nach diesen, eine gewisse Verlegenheit eliminierenden »kleinen Formaten« beginnt das Interview wie im ursprünglichen Transkript. Wir erkennen, wie die Befragte ihre Äußerungen nicht nur an einen, sondern an mehrere Rezipienten richtet. Solcher »Zuschnitt« von Äußerungsformaten auf Rezipienten heißt in der Konversationsanalyse (KA) »recipient design« (Sacks, Schegloff & Jefferson 1974; Deppermann/Blühdorn 2013)

Für das Interview ist eine Einleitungssequenz festgelegt, wie sie das erste Transkript zeigt. Die Interaktion soll Inhaltliches nicht beeinflussen. Wenn das jedoch schon an diesem Anfang, wenn er nur vollständig notiert wird, sich anders darstellt, wird erwartbar, dass in den folgenden, nicht festgelegten Sequenzen Interaktion und Inhalt höhergradig vermischt sind. Die Interaktion im Interview wird damit zu einem interessanten Forschungsgegenstand. Wir wollen hier zeigen, a) wie Zeitzeugen beanspruchen, nicht nur als dokumentarische »Zeugen« (sensu »Informanten« bzw. Informantinnen) angesprochen zu werden, sondern aktiv evaluierende und kommentierende Beiträge liefern; b) wie sie das Interview nutzen, um eine Botschaft an Nachkommen zu übergeben; sie schneiden Äußerungen nicht nur auf Interviewende und Kamera als aktuellen Rezipienten zu, sondern auch auf nicht-anwesende Adressatinnen und Adressaten: Sie richten Botschaften an uns. Dass sie das tun, ist vielleicht weniger überraschend als vielmehr, wie sie das tun. Darauf wird sich unsere Aufmerksamkeit richten.

3. Theoretische und methodologische Grundlagen

Georges-Arthur Goldschmidt hat im Interview mit Hans-Jürgen Heinrichs (Goldschmidt 2013) nachdrücklich auf die Problematik der Erzählbarkeit der Shoah hingewiesen; der Schrecken ist nicht sagbar, die Erfahrung bleibe individuell, es sei auch verkehrt, die Verfolgten der Shoah als einheitliche Gruppe aufzufassen. So hatten sich auch Auerhahn und Laub (1987) dagegen verwahrt, als »Traumatisierte« gar einer klinischen Gruppe zugeordnet zu werden. Das beraube sie ihrer Subjekthaftigkeit. Deshalb sind Interviews mit Zeitzeugen im Blick auf die allgemeine Sagbarkeit der Erlebnisse problematisiert geworden. Carolin Emcke resümiert essayistisch:

»Die Erzählungen aus den Lagern, aus den Gefängnissen, die Geschichten von Folter und Gewalt, von struktureller Entrechtung und Misshandlung, die Berichte von Vergewaltigungen und sexualisierter Gewalt, sie mögen gebrochen sein und unvollständig, sie mögen leise erzählt werden oder gebrüllt, sie mögen poetisch oder nüchtern daherkommen, sie mögen sich aus vielen Stimmen und Perspektiven zusammentragen, jener der Täter und jener der Opfer, sie mögen von der Schuld oder vom Unglück erzählen – aber sie bilden das bewegliche, unfertige, zeitoffene Narrativ unserer Gesellschaft.« (Emcke 2013, S. 109)

Wie die Zeitzeugenschaft für die Geschichtswissenschaft, ist das Forschungsinterview in den Sozialwissenschaften ubiquitär geworden (Deppermann 2013; Potter/Hepburn 2005), häufig jedoch als Quelle der Information über Sachverhalte oder Mitteilung subjektiver Erfahrung. Silverman (2009, S. 102–106) bezeichnet diese Pole als entweder »positivism« oder aber »emotionalism« und stellt dem das Interview als soziale Praxis (»constructionist«) gegenüber. Kritisiert wird die Nichtbeachtung des Interviews als Interaktion und des Interviewten als aktiv-gestaltendem Teilnehmer. Um diese Aktivität sichtbar zu machen, hat sich seit Sacks (1984) die Formulierung des »doing« als hilfreich (Fischer-Rosenthal 1992; Kirschenhofer/Kuttenreiter 2014; Nishizaka 1999; Paoletti/Johnson 2007) erwiesen; Sacks sprach vom »doing ›being normal‹ – was man tun müsse, um als »normal« zu gelten und das ist eine andere Frage, als die danach, was Normalität »ist«. »Doing« zielt auf soziale Praktiken - Zeugenschaft als Praxis des »doing testimony«.Dazu werden in dieser Arbeit die sprachlich-interaktiven Praktiken der Sprecher in ausgewählten Interviews untersucht. Mit besonderem Hinblick auf das konversationsanalytische Konzept des recipient design wird sondiert, wie Zeitzeugen und Interviewer sich gegenüber Dritten verständlich machen. Es wird argumentiert, dass dieser Zuschnitt auf abwesende Dritte ein Distinktionsmerkmal des Zeitzeugeninterviews darstellen könnte. Ähnlichkeiten zu Medieninterviews werden diskutiert.

3.1 Probleme des Interviews als Methode

Interviews in Sozial- und Geschichtswissenschaften sind häufig Methode der Wahl bei qualitativer Datenerhebung:

»Das autobiographische narrative Interview erzeugt Datentexte, welche die Ereignisverstrickungen und die lebensgeschichtliche Erfahrungsaufschichtung des Biographieträgers so lückenlos reproduzieren, wie das im Rahmen systematischer sozialwissenschaftlicher Forschung überhaupt nur möglich ist« (Schütze 1983, S.265-266).

Die Formulierung von der »Erzeugung« spielt auf die interaktive Praxis des Interviews an, wozu Schütze mit Untersuchungen zum »Gestaltschließungs-«, zu »Detaillierungs-« und Kondensierungszwang« beim Erzählen eines Narrativs Bleibendes beigetragen hat; Schützes Rede von »Datentexten« hingegen avisiert noch das Ziel, die »lebensgeschichtliche Erfahrungsaufschichtung« als mit hermeneutischen Mitteln erschließbar auszuweisen. Damit aber würde hinter das Wissen um die Bedeutung der interaktiven Interviewpraxis zurück gegangen. So wird die methodische Spannung erkennbar, die zur Entwicklung anderer Lösungen wie etwa der »dokumentarischen Methode« (Bohnsack 1997; Przyborski 2004; Przyborski/Slunecko 2010) geführt haben. Das »Interviewprodukt« (Deppermann 2013) ist dabei nicht allein vertextete Lebensgeschichte der Interviewten, sondern Produkt aller Partizipanten.

Die Durchführung des Interviews fußt auf Instruktionen der Interviewenden und der deklarierten Bereitschaft der Interviewten (Deppermann/Lucius-Höhne 2008). Dazu gehören u.a. ein bestimmter Ablauf, Fragen (»erzählförderliche Fragen«, »Eingangsfrage«) oder ein bestimmter Interviewer-Stil. Entwickelt werden Instruktionen meist aus intuitivem Wissen oder theoretischen Überlegungen. Eine empirische Basis oder Untersuchung der Auswirkung verschiedener Instruktionen fehlt, Interviewinstruktionen setzen sich meist keiner empirischen Bewährung aus (wie auch Deppermann 2013, feststellt), die nur die Empirie des Gesprächs selbst sein könnte. Bereits früh (König et al. 1972) wurde darauf hingewiesen, dass das Interview eine »Soziologie der Soziologie« produziere; andere sprachen von »doppelter Hermeneutik« (Giddens 1990). Die Methodenlehre in der sozialwissenschaftlichen Forschung ist über eine schlichte Auslegungslehre von »Text« hinaus. Schon bei der der Datengenerierung, also im Interview, braucht es deshalb methodische Sensibilität für die interaktive Dimension.

Bei vielen sozialwissenschaftlichen Interviews werden werden Interviewte im »talking-head-Format« videographiert. Ein für Interaktion aufschlussreicher Blickwinkel, in welchem beide Teilnehmer_innen zu sehen sind, ist – trotz der einstigen Bemerkungen eines Sozialpsychologen (Graumann 1979) über »die Scheu des Psychologen vor der Interaktion« – am ehesten in klinisch-psychologischer Forschung erprobt worden (Deppermann 2013). Aber man bürdet sich dabei gewaltige Codierungsprobleme auf.

Weitere Problemzonen lassen sich unschwer finden. Selten ist Grund oder Anlass für die Interviewteilnahme bekannt. Die Rolle, die der Teilnahmentscheidung unter dem unschönen Wort der »Rekrutierung« im Forschungsprozess zugeschrieben wird, wird wenig öffentlich gemacht. Das gilt auch für die Aufgabe, die Interviewte im Interview zu erfüllen haben. So stellen diese Daten den unbekannten Hintergrund des Gesprächs dar (Potter/Hepburn 2005). Methodisch wünschenswert wäre größere Transparenz.

Ein Schluss von Gesagtem auf Kognitionen oder von Erzählung auf Erfahrung bleibt immer unsicher (Schütze 1983). Schütze interessierte sich auch wenig dafür, sondern richtete seine Interessen an den Orientierungen der Interviewten aus, etwa ihren impliziten Lebensmaximen oder Erwartungsfahrplänen. Die methodische Erörterung insinuiert nicht einen Zweifel an der berichteten Faktizität von Erfahrung (Lätsch und Bamberg 2012).

Ein vermeidbares Problem ist die orthographische Repräsentation des Interviews, welche Interviews als eine Art Drehbuch wiedergibt. Stellenweise wird der Interviewende oder die interviewte Person nicht ins Transkript aufgenommen (es sei an das anfängliche Beispiel erinnert). Transkriptionssysteme (bspw. GAT, Jefferson Lite) bieten eine angemessenere Repräsentation verbaler Daten. Nichtverbale Daten werden in Interviewnachschriften erst in jüngerer Zeit repräsentiert. Noch Oevermann meinte in einer Diskussion der Tiefenbrunner Tagungen zu Qualitativen Methoden in der Psychotherapie 1995, allzu präzise Transkriptanforderungen brächten wenig Gewinn (Persönliche Erfahrung, MBB).

Inhaltsanalytische Auswertungen dekontextualisieren und desequenzialisieren Interviewsegmente in eine verdichtende Paraphrase, so dass man nicht mehr nachvollziehen kann, was tatsächlich gesprochen wurde und was dem vorausging und was folgte. Aussagen interviewter Personen werden somit nicht aus dem Gesprächsrahmen oder -ablauf heraus analysiert, sondern als Ausdruck einer zeitstabilen kognitiven Repräsentation behandelt. Der Schluss von Interview-Aussage auf einen Befund wird damit unklar bzw. ohne mehr oder weniger implizite Inanspruchnahme von Theorien ganz anderen Typs kaum durchführbar.

Der Schluss, den wir aus diesen Diskussionen (Flick 2009; Deppermann 2013; Potter/Hepburn 2005) ziehen, lautet, dass das Interview weniger als Konglomerat von Aussagen über einen thematischen Gegenstand, sondern als eigenständige soziale Empirie zu betrachten sich lohnen könnte.

3.2 Zur Methodologie der Konversationsanalyse

Eine eigene Lösung bietet die Konversationsanalyse (KA) an. Sie gründet in den Arbeiten von Harvey Sacks, der von Erving Goffman maßgeblich beeinflusst war. Diese Beeinflussung war beidseitig: Goffman soll sich selbst als Schüler Sacks bezeichnet haben.[2]

Neben Goffman hat die Ethnomethodologie (Garfinkel 1967; Bergmann 1981; Cicourel 2012; Hilbert 2009; Weingarten/Sack 1976) großen Einfluss auf die Konversationsanalyse ausgeübt (Deppermann 2010). Ihr Gegenstand war die methodische Herstellung sozialer Wirklichkeit im Rahmen der »interaction order«. Die KA spezifiziert ihren Gegenstand: es ist das Gespräch als »talk-in-interaction« (Atkinson/Heritage 1984; Kleemann et al. 2013). Eine thematische Annäherung ergibt sich: Die KA sieht als ihren primären Untersuchungsgegenstand »talk in interaction« an; die Ethnomethodologie war mit Goffman an den (mundanen) »Methoden« der Herstellung sozialer Wirklichkeit im Rahmen der »interaction order« interessiert. Beide richten ihr Augenmerk auf jene »Methoden«, mit denen Menschen ihre soziale Wirklichkeit herstellen, die sie »vorzufinden« meinen. Gegenüber solchen »Methoden-im-Vollzug« müssen die Forschungsmethoden als solche »zweiter Ordnung« bestimmbar sein, auch wenn sie unzweifelhaft selbst Teil sozialer Ordnung werden (oder sind) (Antaki 2011).Die KA analysiert talk-in-interaction sequentiell (turn-construction-units). Es gilt die Sacks‘sche Maxime von »order at all points« (Sacks 1984), d.h. jede Äußerung im Gespräch trägt zu Geordnetheit bei, selbst wenn alles zunächst wie Chaos aussieht. Geordnetheit von talk-in-interaction nimmt in gewisser Weise den Begriff des Sinns aus den hermeneutischen Tradition in sich auf, transformiert ihn aber in das Register des Performativen.

Die Sequentialität der turns zeichnet sich dadurch aus, dass

  1. ein Redezug sequentiell einen nächsten Sprecher benötigt und projiziert – normativ und empirisch (Heritage 1995);

  2. ein Redezug Bezug auf den bisherigen Gesprächsverlauf nimmt, durch den er kontextualisiert ist und damit den weiteren Verlauf steuert;

  3. die Bedeutung eines Redezugs durch darauffolgende Redezüge, nicht also allein textlich-hermeneutisch, von den Teilnehmern selbst erschlossen wird.

Ein Beispiel kann diese Differenz zur Teilnehmerperspektive illustrieren: Der Film »Oh Boy« zeigt noch vor der Titelpräsentation einen jungen Mann, der sich leise aus dem Schlafzimmer einer jungen Frau zu schleichen versucht. Als sie erwacht, sagt sie zu ihm: »Du gehst schon?« Die ambige Äußerung, der Form nach Frage, artikuliert zugleich dass sie auch als Vorwurf gehört werden kann. Ihre Funktion ist zugleich, dem Adressaten die »Entschärfung« der Ambiguität zuzumuten. Der aber antwortet nicht stellungnehmend, sondern mit einem einfachen leisen Begrüßungspartikel: »Hej!« – die Ambiguität selbst bekommt Bedeutung in der Interaktion, die Beziehung kündigt sich in diesen allerersten Äußerungen des Films als beständig-diffus an. Das kann hier nicht weiter ausgeführt werden (Buchholz/Hamburger im Druck), hier sollte die Differenz zur Teilnehmerperspektive illustriert werden.

Die Konversationsanalyse will nicht die »Bedeutung hinter der Oberfläche« suchen, ihr Blick bleibt radikal auf die Oberfläche von talk-in-interaction gerichtet – und dabei werden oft Formen und Funktionen sichtbar, die anderen Verfahren entgehen. Keineswegs muss die KA mentale Begriffe wie »Intentionalität« oder »Erwartung« ablehnen; sie besteht darauf, sie empirisch als im Gespräch realisierte Praktiken zu dokumentieren. Sie sind Explanandum, nicht Explanans (Levinson 2006; Potter/Edwards 2013). Die detaillierte Mitteilung genauer Transkriptdaten lässt es Dritten frei, der Argumentation zu folgen oder sie abzulehnen (Deppermann 2010).

Ausgehend von ordinary conversation (Schegloff, Jefferson & Sacks 1977) haben sich die Interessen der KA über institutionelle Gesprächsformate (etwa psychiatrische Erstgespräche; Bergmann 1980) und über eine Vielzahl weiterer Themenfelder erstreckt; darüber informiert ein »Handbook« (Sidnell/Stivers 2013). In Verbindung mit der diskursiven Psychologie untersucht die KA konversationelle Praktiken rund um »Darstellungen und Begründungen von Handlungen« (Deppermann 2010, S. 645). Das Konzept der Positionierung, ursprünglich in der diskursiven Psychologie (Korobov/Bamberg 2007; Salgado et al. 2013) beheimatet (Harré 1999), hat auch in der KA eigene Untersuchungen zur Folge gehabt (Buchholz/Reich 2015); Deppermann/Lucius- Hoene 2008; Heath/Luff 2011; Streeck et al. 2011). Wir wollen nun nacheinander relevante KA-eigene und verwandte Konzepte vorstellen und auf ihr Potential zur Lösung der beschriebenen methodologischen Probleme in Zeitzeugeninterviews untersuchen.

3.2.1 Recipient design (RD)

Nach Sacks et al. (1974) beschreibt der Begriff recipient design[3]»a multitude of respects in which the talk by a party in a conversation is constructed or designed in ways which display an orientation and sensitivity to the particular other(s) who are the co-participants« (S. 727).

RD meint sensible Anpassung eines turns an Adressierte. Dieses Konzept findet sich in verschiedenen linguistischen Feldern. Aus der Soziolinguistik stammt beispielsweise das ähnliche Konzept (Schmitt/Deppermann 2009) des »audience design« (Bell 1984)[4]. Gute Redner_innen »erkennen« ihr Publikum und wechseln die Art der »Adressierung«. Vor der Äußerung ihrer Pro-Positionen kommt die Prä-Position, ein Wortspiel, das wir Latour (2014) entlehnen. Bevor ein Sprecher einen Inhalt propositional formuliert, schätzt er zuvor (»prä«) dessen »Position« ab. «Es handelt sich nämlich um die Einnahme einer Position, die vor der Proposition kommt und über die Art und Weise entscheidet, wie man diese aufzufassen hat; sie bildet deren Interpretationsschlüssel« (Position 1487 in der elektronischen Buchfassung).

In einem sozialen Akt wird der Andere wahrgenommen und nach einer Möglichkeit gesucht, wie er angesprochen werden kann. Kindern wird eine Geschichte anders als einem Erwachsenen erzählt; der Sozialarbeiter in einer Betreuungseinrichtung spricht mit der Mutter seines Klienten anders als mit dem Jugendamtsvertreter – und wenn man beide zugleich am Tisch sitzen hat, müssen die verschiedenen RDs sorgfältig balanciert werden und das lässt sich untersuchen (Hitzler 2013). Dies entspricht der Situation im Zeitzeugeninterview, die wir eingangs dargestellt hatten.

Deppermann und Blühdorn (2013) weisen darauf hin, dass Rezipienten nicht mit den Adressierten übereinstimmen müssen. Teilnehmende prüfen die zugeschriebenen Vorannahmen fortdauernd in der Interaktion (Schmitt/Deppermann 2009). Daraus selektieren sie diejenigen, die die gewünschte Reaktion auf ihren Beitrag hervorbringen (Hitzler 2013). Weil RD eine situierte Praxis der Produktion von Gesprächsbeiträgen beschreibt, kann aus einer bestimmten Äußerung nicht auf stabile kognitive Repräsentation gefolgert werden, sondern nur auf die präferierte Wahl von Vorannahmen.

RD operiert indexikalisch. Wenn etwa die Erwähnung eines Kneipennamens beantwortet wird mit der Äußerung, dass man die Kneipe kennt, liegt auch nah, dass man vielleicht aus der gleichen Gegend kommt und möglicherweise die selbe Schule besucht hat. Gesprächsteilnehmer nutzen Annahmen aus Turnkonstruktionen und bisherigem Gesprächsverlauf.

Hutchby (1995) untersuchte RD in Ratgeber-Radiosendungen. Hier müssen Fachleute ihre Beiträge auf Ratsuchende und das Publikum (overhearing audience) zuschneiden. Bei Goffman stellten die »overhearers« eine unadressierte Partizipationsrolle dar (Goffman 1979, S. 8).

Auch Nachfragen der Interviewer in Radiosendungen sind auf die »overhearing news audience« (Heritage 1985, S. 114) gerichtet. Durch Reformulierungen des vom Interviewten Gesagten fordern sie auf, weiter zu sprechen, ohne dass der Interviewer sich positionieren muss. Beide Sprecher müssen eine Mehrfachadressierung beachten. Umgekehrt konnten Clark und Schober (1989) zeigen, dass für nichtadressierte Teilnehmende das Verstehen einer Aufgabe schwieriger war. Adressierte konnten ihr Aufgabenverständnis sprachlich in der Interaktion überprüfen. Interaktion beeinflusst Kognition.

Zusammenfassend lassen sich drei Aspekte des recipient design herausstellen (Schmitt/Deppermann, 2009):

  1. die Interaktion ist von Annahmen über Wissensbestände der Partner_innen abhängig;

  2. die Anpassung eines turn richtet sich an »spezifizierbare« Rezipientinnen bzw. Rezipienten;

  3. deren Reaktionen tragen zur Veränderung der Annahmen bei.

Im Bericht zur letztjährigen Tagung zur Gesprächsforschung wurde das Konzept so erweitert, dass auch Rezipient_innen, »die nicht zwangsläufig auch Partizipanten einer Kommunikation seien«, inbegriffen sein können (Weiger/Westpfahl 2014, S. 74). Offen bleibt dabei, wie Sprecher ihre Vorannahmen (ihr Partnermodell) absichern, wenn es keine Überprüfung im Gespräch geben kann. RD ist in der KA noch wenig untersucht. Folgt man Drew (2013) und seiner knappen Darstellung (S. 145-148), hat es vorläufig den Status einer Prämisse. Hitzler (2013, S. 112) spricht von einer »analytischen Maxime«.

3.2.2 Common Ground

Während RD eine Maxime der Produktion von Gesprächsbeiträgen ist, beschreibt das aus der linguistischen Pragmatik stammende Konzept des common ground (CG) ein während der Konversation in Anspruch genommenes Hintergrundwissen. Für den Adressatenzuschnitt wird ein common ground gebraucht. Der Pragmatiker Robert Stalnaker (2002) versteht unter common ground verschiedene Präsuppositionen der Sprecher: »To presuppose something is to take it for granted, or at least to act as if one takes it for granted, as background information – as common ground among the participants in the conversation« (S. 701). Wechselseitig vorausgesetzte Annahmen und Hintergrundwissen konstituieren den common ground. Das hat sehr wichtige soziale Funktionen (Givón 2005). Die Art, wie man einander grüßt, wie Fremde einbezogen und Hintergründe »wie nebenbei« gecheckt werden, zeigen die Suche nach dem common ground als »de-aleniation« (Givon 2005, S. 62) an. Die Etablierung des common ground befriedet, lindert Einsamkeit und arbeitet der Entfremdung entgegen.

CG wird definiert als Annahmen der Sprecher_innen über das Gegenüber in Rückgriff auf verschiedenste Wissensbestände (Deppermann/Blühdorn 2013; Tylusińska-Kowalska/Bonacchi 2011), auf deren Basis CG hergestellt, ständig aktualisiert (Clark/Krych 2004; Schmitt/Deppermann 2009) und schließlich zu einem symbolischen Raum erweitert wird, der entwickelte Formen von Kooperationen möglich macht.

RD und CG sind nah verwandte Beschreibungsdimensionen. Gesprächsteilnehmer schneiden ihre Redezüge zu unter fortlaufender Überprüfung des common grounds in der Interaktion (Clark/Krych 2004). Auch CG zielt nicht primär auf kognitive Übereinstimmungen, sondern auf sprachliche Aktivitäten. Die Aktivität des »grounding« (Clark/Schaefer 1989) überführt individuelle Wissensbestände in gemeinsame. Für die Autoren sind drei Transformationen des common grounds zentral:

  1. Überführung von »individual ground« (IG) in »common ground« (CG);

  2. Ratifizierung von Annahmen über den IG der Adressat_innen als Teil des CG;

  3. Blockierung verschiedener Annahmen der Adressat_innen als Teil des CG

3.2.3 Positioning Theory

Das Konzept »Positionierung« stammt aus der diskursiven Psychologie und ist nicht originär der KA zuzurechnen. Es ist eng mit dem Namen Rom Harré verknüpft. Nach Harré (2009) verweist die Positionierungstheorie auf «cognitive processes that are instrumental in supporting the actions people undertake particularly by fixing for this moment and this situation what these actions mean. These processes serve to explain the actions to which we are attending” (S. 6).

Als »actions« gelten auch Praktiken wie das Erzählen. Lucius-Höhne und Deppermann (2004) zeigen, wie narrative Identität sich über Positionierungen konstituiert und praktiziert wird. Über Selbst- und Fremdpositionierungspraktiken schreiben Sprecher sich selbst und anderen Attribute, Einstellungen, Motive und Weiteres zu. In der Interaktion wird fortlaufend und wechselseitig positioniert. Das hat eine körperliche Dimension – Gestik und v.a. Körperhaltungen –, aber auch eine Dimension der sprechend angezeigten Perspektivierung. Positionierungsaktivitäten werden verhandelt und können zurückgewiesen werden (Lucius-Höhne/Deppermann 2004). Dabei gibt es keine speziellen sprachlichen Mittel der Positionierung, prinzipiell ist jede sprachliche Interaktion positionierungsrelevant.

Nach diesen konzeptuellen Überlegungen zur Konversationsanalyse und KA-nahen Konzepten wollen wir uns nun den Zeitzeug_inneninterviews zuwenden.

4. Untersuchung

Der Korpus dieser Untersuchung besteht aus acht lebensgeschichtlichen Interviews, entnommen aus dem Zwangsarbeitarchiv 1939-1945 an der Freien Universität Berlin. Die Interviews sind als Video und Audio im webbasierten Archiv verfügbar, ebenso sind alltagsschriftliche, allerdings (wie gezeigt) sprachlich geglättete[5] Transkripte als Download verfügbar.

4.1 Gegenstand der Untersuchung: Das Zeitzeugeninterview

Wir haben schon gesehen, wie eine Interviewte sich aktiv einbringt, und wollen sprachliche Praktiken der Interviewten, welche Zeitzeugenschaft zum Medium zu machen, darstellen. Im Interview sind Kameraleute als Teilnehmer anwesend, sie kommen als Adressaten durchaus in Frage, Zeitzeug_inneninterviews müssen deshalb als triadisch konstelliert gesehen werden, selbst ein nur aufgestelltes Tonbandgerät hat Teilnehmerstatus. Der Dritte ist »imaginär« (Deppermann/Blühdorn 2013, S. 9). Nie jedoch können sich die Teilnehmer über den common ground mit nicht-anwesend Adressierten verständigen. Wie Zeitzeugen und Interviewende die nicht-anwesende »overhearing audience« dennoch in ihre Interaktion miteinbeziehen, wird nun dargestellt.

4.2 Adressatenzuschnitt in den Interviews

Da die Interviews nur alltagsschriftlich vorlagen, wurden interessante Gesprächsabschnitte zuerst makroskopisch herausgesucht und nach GAT 2-Konvention neu transkribiert. Drei Phänomene zeigen den Adressatenzuschnitt durch den Interviewten und zwei zeigen, wie Interviewende und Interviewte den Zuschnitt gemeinsam bewerkstelligen.

4.2.1 Adressatenzuschnitt durch Kommentierung der Erzählung

Abbildung 3: Transkript aus dem Interview mit Jutta B.-P. (ZA061, Zwangsarbeitarchiv 1939–1945)

Die Interviewte äußert Ärger über den Verleger ihres autobiographischen Buches. Danach erklärt sie diese Mitteilung, von prosodischem Lachen eingebettet, als nicht relevant für das Interviewprodukt (S 007). Sie bezieht sich auf den Interviewer als Rezipienten auch noch in der Nutzung des auffälligen Modalverbs »können«, das hier die soziale Bedeutung von »dürfen« einnimmt (Johnson 2007). Sie erteilt die Erlaubnis zum Wegschneiden dieser Stelle auf der Bandaufnahme und definiert damit ihre Beziehungsposition: sie kann Erlaubnisse erteilen oder verweigern. Sie schneidet diese Äußerung so zu, dass sie gleichzeitig erkennen lässt, dass sie keinen unrechtmäßigen Eingriff in die Interviewführung vorzunehmen beabsichtigt. Die Einbettung in ein Lachen entkräftet den kleinen disaffiliativen Moment.

In Segment 009 schließt der Interviewer mit einem kontrastiven »aber« (Kwon, 2005) an die Aussage der Interviewten an. Es wird ein Gegensatz zur Stellungnahme der Interviewten erzeugt. Er wechselt das Modalverb und gebraucht das negierte »müssen« (S009). Diese Selbstpositionierung erkennt zum einen die Persönlichkeitsrechte der Interviewten an, Mitgeteiltes aus dem fertigen Interview heraushalten zu dürfen. Zum anderen wird durch die Negation "müssens nicht« dargestellt, dass die Interviewte es mit »können se« freigestellt hatte, die Erzählung wegzuschneiden.

Aufschlußreich begründet die Interviewte nun ihren Wegschnittsvorschlag. Sie bezieht sich auf den common ground, die Annahme nämlich, wie die Mitteilung ihres Ärgers über den Verleger in der Öffentlichkeit rezipiert werden könnte (S010). Sie antizipiert einen möglichen Gesichtsverlust, den der Interviewer doch teile. Die Öffentlichkeit ist hier ein nicht-anwesender Adressierter im beschriebenen Sinn. Interviewer und Interviewte verhandeln über das »Interviewprodukt« und dessen »Vermarktung«.

Mit Billig (1997) vermuten wir hier eine Verbindung von sprachlich-pragmatischer (»äußerlicher«) und psychischer (»innerlicher«) Ebene. Die Interviewte lässt erkennen, dass sie sich eine Vorstellung davon macht, wie »die Öffentlichkeit« (»generalized other«) das sehen und beurteilen könnte. Auf diese, im Moment der Äußerung imaginierte Öffentlichkeit bezieht sich der Adressatenzuschnitt ihrer Bemerkung, dass es »bestimmt schrecklich« aussähe. So verbindet das »recipient design« eine sprachlich-pragmatische mit einer psychisch-regulativen Ebene im Blick auf einen nicht anwesenden Dritten.

Michael Billig (1997) zeigt anhand von Selbstreparaturen nach Unhöflichkeit, dass diese, um den normativen Gesprächsrahmen zu schützen, dialogisch verdrängt werden muss. In unserem Beispiel gäbe der als sozial-unverträglich verstandene Impuls, sich ärgerlich über den Verleger auszulassen, Anlass zur dialogischen Verdrängung: Ärger soll nicht dem Interviewer, sondern gegenüber einem Dritten verborgen werden.

Abbildung 4: weiteres Transkript aus dem Interview mit Jutta B.-P. (ZA061, Zwangsarbeitarchiv 1939–1945)

Kurze Zeit später im gleichen Interview kommt es zu einer Interaktion (vgl. Abbildung 4), bei der die Interviewte die kritische Äußerung über die Frau ihres Onkels wieder mit Lachen untermalt. Mitlachend (S 006) nimmt der Interviewer die Erzählkommentierung der Interviewten auf und zeigt, wie er das Modalverb »können« verstanden hatte, nämlich als »dürfen«. Er akzeptiert die Erlaubniserteilung und damit die selbstautorisierte Position der Interviewten. Der Bezug darauf erfolgt metakomplementär; als positioniere er sich als der, der ihr das Recht zur Selbstautorisierung erteilt habe. Seine Veränderung von »können se« (vgl. Abbildung 3, S 007) in »dürfen wir« (2. Transkript vgl. Abbildung 4, S 006) zeigt, dass der Interviewer den Wegschnitt als Forderung verstanden hatte.

Einen auf den ersten Blick ähnlichen Adressatenzuschnitt findet sich im Interview mit Ignacy G. (vgl. Abbildung 5):

Abbildung 5: Transkript aus dem Interview ZA400 mit Ignacy G. (ZA400, Zwangsarbeit Archiv 1939–1944)

Nachdem sich die Interviewerin für das Interview bedankt hat (vgl. Abbildung 5), entsteht eine Pause und im nächsten Redezug verweist der Interviewte auf seine Fehler, die die Interviewerin ausschneide. Dabei nimmt der Interviewte eine Selbstkorrektur (»alles aus-, viel ausschneiden«) vor und stellt das Objekt des Wegschnitts in das Nachfeld: »meine Fehler«. Daraufhin lacht die Interviewerin in ihr gedehntes »Nein« (S010). Mit »ich weiß« artikuliert der Interviewte als common ground, dass seine Fehler ausgeschnitten würden. IG wird in CG überführt. Im Unterschied zum Interview mit Jutta B.-P. wird hier kein Modalverb (»können«) für eine Erlaubnisverteilung verwendet (falls das beabsichtigt sei); es ist ihm vielmehr sicher, dass Fehler »ausgeschnitten« werden.

Der common ground erstreckt sich nicht nur auf diese Annahme, sondern auch auf die affektive Mühe, die das Interview für die Interviewerin bedeute. So kann deren Dank etwas entgegen gesetzt werden, dem Prinzip von Gabe und Gegengabe kann Genüge getan werden.

Abbildung 6: Transkript aus dem Interview mit Josef B. (ZA060, Zwangsarbeitarchiv 1939–1945)

In einem weiteren Transkript (vgl. Abbildung 6) erzählt der Interviewte von einem vorbestellten Grabstein für sich und seine Frau. Er bietet an, Bilder des Grabsteins zu zeigen (S 010). Der Interviewer stimmt zu. Der Interviewte benutzt dann das Modalverb »können«, um seine Forderung oder Bitte, die Kamera auszuschalten, zu formulieren. Er sieht diese Forderung als vom Interviewer geteilt an (»können ma ja«). Die Partikel »ma ja« können als »mer ja« (dialektal für »wir ja«) oder als »mal ja« gehört werden; in jedem Fall operiert »ma ja« als Vollzug des grounding; die Annahme wird artikuliert und sofort geteilt, dass diese Bilder nicht zum Interview gehören. Daraufhin positioniert sich der Interviewer mit »ach so« als different zu dieser Annahme, verändert sie mit dem Partikel »ruhig« – das wäre im Sinne Billigs als Verschiebung im Dialog anzusehen; es ist nicht das Tonband, das ruhig gestellt werden müsste. Die Ruhe wird erwähnt im Interesse des Ziels, dass die Erzählung über die Bilder Teil des Interviews bleiben.

4.2.2 Adressatenzuschnitt durch story prefaces

Wir wollen nun eine Variante des RD vorstellen, die sich in den Interviews findet (vgl. Abbildung 7).

Abbildung 7: Transkript aus dem Interview mit Philipp W. (ZA067, Zwangsarbeitarchiv 1939–1945)

Nach der für Oral-History-Interviews üblichen Eingangsfrage (S 001) eröffnet der Interviewte mit einem story preface (Goodwin/Heritage, 1990). Man kann es als milde Kritik an der sehr offenen Erzählaufforderung des Interviewers lesen; hinsichtlich der Funktionen ergibt sich noch eine andere Lesart. Mit einer solchen, der »story« vorgeschalteten Äußerung schlägt ein Sprecher vor, die übliche Redezugverteilung zu unterbrechen, um eine aus mehreren Redezügen bestehende Erzählung zu beginnen. Dieses story preface findet sich hier in einer veränderten Form, da es eben die Aufgabe der Erzählenden ist, multi-unit turns zu beanspruchen. Story prefaces dienen nicht nur dazu, multi-unit turns einzuleiten und damit die gewohnte Sequentialität der Redezüge zu unterbrechen, sondern projektieren auch ein Verständnis darauffolgender sprachlicher Handlungen (Auer 2005). Klassisch beginnen story prefaces mit einem »single-unit-turn« (S 002), den der Gesprächspartner dann ratifiziert (S 003). Dieser Ablauf wird hier als Positionierung genutzt. Der Interviewte positioniert sich mit der Negation »net anfangen wie ich in der wiege lach« (S 002) zu der ihm gestellten Aufgabe und verweist gleichzeitig auf deren Diffusität. Diese humorvolle Selbstpositionierung durch eine Litotes greift der Interviewer lachend auf und ratifiziert das story preface. Daraufhin schließt der Interviewte mit »aber« an seine eigene Selbstpositionierung an, und betont, welche Zeit für ihn erzählenswert ist: die, in der er sich politisierte (S 004/005). Mit diesem story preface wird auf der einen Seite eine Unterbrechung der turns (die im Format des Interviews gegeben ist) geregelt, aber auch auf eine Erzählung vorbereitet.

Statt des Anfangs bei der biologischen wählt der Interviewte den bei der politischen Geburt. In der folgenden Erzählung (S 007-012) bringt er seine politische Zeit mit Abschluss der Lehre in Verbindung und mit der Jugendarbeitslosigkeit 1930. Nach einem Einatmen, einer Pause von bis zu 0,5 Sekunden und einem bestätigenden »hm« des Interviewers erklärt er seine Erzählung damit, dass in der Gegenwart Ähnlichkeiten beständen. Die Erzählung wird gerichtet auf die Aktualität der Erzählsituation; Arbeitslosigkeit wird als Ursache für den weiteren Verlauf der Geschichte impliziert. Möglicherweise mahnt der Interviewte so auch, dass die Geschichte sich wiederholen könnte.

Abbildung 8: Transkript aus dem Interview mit Paul S. (ZA409, Zwangsarbeitarchiv 1939–1945)

Eine andere Variante der Projektion sprachlicher Handlungen wird in Abbildung 8 (S 005) deutlich. Durch eine Selbstpositionierung (»nicht (‑) bloß als zwangsarbeiter«) legt der Zeitzeuge seinen Erzählschwerpunkt auf das Leben in den Konzentrationslagern (S 005-007). Der Interviewte wird im Rahmen eines Projektes zur Zwangsarbeit in der Rolle des Zwangsarbeiters interviewt. Er nimmt demgegenüber eine Relevanzverschiebung vor. Die korrigierte Selbstpositionierung ist Teil des Situationszuschnitts. Durch sie bereitet er auf weitere Erzählungen vor, die besonders in Hinblick auf Konzentrations- und Vernichtungslager und zweitrangig in Bezug auf die Zwangsarbeit gesehen werden sollten. Mit dem story preface werden die »Zuhörer« (015), also keineswegs nur der Interviewer, adressiert.

Das »ja?« (in S 013) ist eine redezuginterne tag question. Damit markiert der Sprecher seine Äußerung als evident (Hagemann 2009). Tag questions sind eine Möglichkeit, common ground und »shared understanding« zu etablieren und zu sichern. Der Interviewte nutzt dafür die Vergewisserungsfrage »ja?«, wobei diese Formulierung im Gegensatz zu einer alternativen negativen Formulierung mit »nicht wahr?«, »nicht?« oder »ne?« Konsens herstellt.

Ein Teil des Adressatenzuschnitts ist hier die gewählte Sprache. Der Interviewte expliziert dies in Segment 016-017, indem er die Schwierigkeiten, auf Deutsch zu reden, benennt und es zugleich den »Zuhörern« erleichtern möchte. Er spricht zu einer deutschen (nicht anwesenden) Öffentlichkeit (S 015).

4.2.3 Adressatenzuschnitt durch den Interviewer

Abbildung 9: Transkript aus dem Interview mit Elisabeth K. (ZA063, Zwangsarbeitarchiv 1939–1945)

Die Interviewte beginnt zu erzählen, wie sie nach dem Krieg anfing zu arbeiten (vgl. Abbildung 9). Das »se« (S 002) verweist auf ein noch nicht expliziertes syntaktisches Subjekt, welches die Maschinen rausriss. Mit »also wer« (S005) zeigt der Interviewer an, dass das grammatische Subjekt nicht expliziert wurde, dies fungiert in konversationsanalytischer Terminologie als topic opener, als Elizitierungsstrategie. Das darauffolgende »muss ich jetzt natürlich« (S 005) verdeutlicht, dass nicht der Interviewer selbst fragt, sondern es seiner Rolle als Interviewer obliegt, Unschlüssigkeiten im Gespräch aufzuklären. Er verweist auf diese Rolle, indem er »müssen« als Modalverb wählt. Alternativen wie »darf ich sie fragen«, »kann ich sie das fragen« wären dazu nicht geeignet. Dass er durch eine Aufgabe fremdbestimmt ist, zeigt er auch durch den Gebrauch von »natürlich« an, es liegt in der Natur der Sache, der Rolle. Das Fragen untermalt er mit einem Lachen. Die Interviewte stimmt in sein Lachen ein, so dass sie kurz zusammen lachen. Der Interviewer unterbricht dann das Lachen mit »hm« und verweist so auf die Ernsthaftigkeit der Frage. Diese wiederholt die Interviewte dann. Der Interviewer bestätigt dann die Frage erneut. Erst mit einem kurzen »hm«, dann mit einem langgezogenen »Ja«, das in ein leises Ächzen übergeht. Daraufhin erklärt die Interviewte dann, wer gemeint war.

Wenn man nur den common ground zwischen Interviewer und Interviewter betrachtet, erscheint die Frage unnütz; der Interviewer als Historiker kann vermutlich erschließen, wer mit »se« anfänglich gemeint war. Nur wenn wir annehmen, dass der Interviewer noch einen anderen common ground mitdenkt, nämlich das geteilte Wissen von nicht-anwesenden Dritten, die möglicherweise das Wissen um sowjetische Demontagen im Zuge der Reparationen nicht haben, macht die Nachfrage-Rochade in S005-009 Sinn.

4.2.4 Koproduktion des Interviews als Adressatenzuschnitt

Abbildung 10: weiteres Transkript aus dem Interview mit Ignacy G. (ZA400, Zwangsarbeitarchiv 1939–1945)

In Abbildung 10 sprechen Interviewerin und Interviewter über zwei Anwälte im Frankfurter Auschwitzprozess von 1963. Nachdem der Interviewte prosodisch markiert, dass ihm der Name des Anwalts entfällt (»äh« S001), nennt die Interviewerin den Nachnamen Vogel (S002). Nachdem er daraufhin Namen und Vornamen wiederholt und dabei besonders den Vornamen (»uwe!« S003) unterstreicht und nach einer Pause von 0.2 Sekunden den Vornamen resümiert, korrigiert ihn die Interviewerin mithilfe einer fremdinitiierten Fremdreparatur. Ihr Wissen um den Vornamen des Anwalts Vogel bringt sie dabei nicht ein. Stattdessen verweist sie nur darauf, dass der Vorname Uwe »anders« sei. So macht sie den Fehler des Interviewten kenntlich, jedoch ohne ihn zu verbessern. Das initiale »ja« (S006) ist deshalb keine Zustimmung; sie bejaht nicht den Vornamen. Es wird viel mehr genutzt, um einen Inhalt im common ground zu etablieren. Das angehängte Lachen kann so als Möglichkeit gesehen werden, dies möglichst reibungslos zu gestalten. Es wäre in alltäglicher Kommunikation sehr ungewöhnlich, sein besseres Wissen um einen Vornamen einer Person nicht mitzuteilen; hier müssen deshalb gleichsam besondere Sicherheiten etabliert werden, um die Interview-Situation und deren andere Regeln weiter zu etablieren.

In Abbildung/Transkript 12, Segment 003/004 sucht der Interviewte nach der richtigen Vergangenheitsform von wiegen. Sowohl durch die Interviewerin als auch durch eine dritte Person, möglicherweise die anwesende Übersetzerin, wird die richtige Form geliefert. Dies operiert als Form der selbstinitiierten Fremdreparatur. In Segment 013 sucht der Zeitzeuge nach einem Vergleich. Dieser Vergleich kann richtig durch andere nur aus dem common ground erschlossen werden.

Abbildung 11: weiteres Transkript aus dem Interview ZA409 mit Paul S. (Zwangsarbeitarchiv 1939-1945)

Die Interviewerin wählt den Vergleich »Schornsteinfeger«. Ihr leichtes Lachen (»schornsteinfeg(h)er« S014) zeigt sie Unsicherheit, denn ein solches Angebot nach einem gesuchten Wort zu machen, ist kommunikativ riskant. Zu leicht scheitert man an der allgemeinen Intransparenz des Gegenübers. Der Interviewte reagiert nachfragend darauf, so dass sie ihre Annahme wiederholen muss. Durch »ja« (S017) und eine mittlere Pause zeigt sich, dass der Vergleich nicht stimmig ist. Durch »und un_unerkennbar« (S017) macht er deutlich, dass ihm das Entscheidende am Vergleich noch fehlt.

4.2.5 Direkte Adressierung des Dritten

Abbildung 12: drittes Transkript aus dem Interview ZA409 mit Paul S. (Zwangsarbeitarchiv 1939-1945)

Die Interviewerin bedankt sich bei dem Zeitzeugen für das Interview und bereitet auf ein mit ihm vereinbartes Schlusswort vor (vgl. Abbildung 12). Der Interviewte benennt dann seine eigenen Motive, das Interview zu führen: dass »es in zukunft irgendwie helfen kann« (S008-009). Das »es« wird nicht expliziert. Plausibel ist jedoch, dass die mit dem Interview beglaubigte eigene Zeugenschaft gemeint ist. Nach einer kurzen Pause spezifiziert er den Adressaten: eine jugendliche Öffentlichkeit. Nachdem der Adressat des Interviewers bestimmt ist, wird an ihn ein Schlusswort gerichtet. Die Bedingungslosigkeit der darin enthaltene Mahnung (»den durchbruch was es nicht geben da:arf«) wird prosodisch in S018 durch ein zweisilbiges "da:arf" unterstrichen.

Interessant ist das leise gesprochene »gut« (S020) der Interviewerin am Ende. Sie beendet das Gespräch. Mit dieser Selbstpositionierung überlässt sie ihm »das letzte Wort« (S002), beendet das Interview jedoch selbst. Dass diese letzte Äußerung der Interviewerin im Originaltranskript fehlt, ist methodisch zu kritisieren.

5. Diskussion

Diese Untersuchung zeigt verschiedene Formen des Adressatenzuschnitts im Zeitzeugeninterview: durch Kommentierung der Erzählung, durch story prefaces oder durch den Interviewer, aber eben auch durch direkte Adressierung Dritter im Interview. Einige sind Zuschnitte, die vom Interviewten initiiert werden:

  1. In der Auswertungskommentierung fordern Interviewte (mittels verschiedener Konfigurationen von Modalverben) eine Abänderung des bis dahin bereits bestehenden »Interviewproduktes«. Mittels »dialogischer Verdrängung« (Billig 1997) sollen ungewünschte oder private Themen nicht in das Interviewprodukt eingehen. Bemerkenswert ist, wie alle Interviewer auf Wegschnittsäußerungen abweisend reagieren, diese Abweisung aber so eingebettet wird, dass sie keinen Bruch für die Interviewbeziehung bedeutet.

  2. Story prefaces dienen dem Situationszuschnitt – in welcher Rolle, in welcher Situation wird gesprochen? Durch die Interviewten war eine Spezifizierung der Erzählsituation zu sehen, möglicherweise auch, weil die ihnen gestellte Erzählaufgabe (»Erzählen Sie Ihre Lebensgeschichte«) zum einen zu diffus, zum anderen, weil der inhaltliche Schwerpunkt des Interviews für die Interviewten unpassend erschien. Sie nehmen ein Verständnis der darauffolgenden sprachlichen Handlungen vorweg, zum Beispiel, wie Aspekte einer Erzählung hervorgehoben und andere untergeordnet werden. Der Situationszuschnitt ist auch Adressatenzuschnitt.

  3. In das Interviewprodukt gehen Interviewer-Aktivitäten ein. Durch das explizite Fragerecht können sie Unschlüssigkeiten in Erzählungen thematisieren und zur Elizitierung anregen. Die Interviewer_innen-Aktivität ko-konstruiert aber nicht nur den common ground, sondern zielt auch auf Dritte. Interviewer_innen können so den common ground mit einem Dritten ebenso mitdenken, wie es viele Interviewte tun. Dieser dritte individual ground ist nicht-anwesend und imaginär, was dessen Überprüfung im Gespräch nur durch wechselseitige Verständigung über ihn möglich macht.

    Allgemein gilt, dass solche Elizitierungsstrategien nicht zu einem Bruch in der Interviewbeziehung führen dürfen. Für das Zeitzeugeninterview kann angenommen werden, dass sie noch weiter eingeschränkt sind. Die historische Erfahrung, die der Zeitzeuge mitteilt, ist unangreifbar, auch wenn die historische Faktizität manchmal angezweifelt wird. Dass der Interviewer seine eigenen Einstellungen, Wissensbestände oder Positionierungen in das Gespräch nicht einbringt, muss als kommunikative Einschränkung und zugleich als Produktionsbedingung des Interviews gewürdigt werden. Beide, Interviewende und Interviewte, konstituieren das Interview. Gezeigt wurde dies anhand von Fremdkorrekturen durch Interviewende, wenn die Rede der Interviewten brüchig wurde. Aus den individual grounds der Interviewpartner (oder aller im Interview anwesenden) fließen Informationen in den common ground ein (bspw. ein Name, ein Bild für eine Situation). So wird das Interview für dritte vollständig und verständlich. Diese sprachliche Strategie kann aber, wie gezeigt, auch fehlschlagen.

  4. Die Adressierung des Dritten und Nicht-Anwesender ist prägnant. Mal kann sie nur erschlossen werden, mal wird deutlich von »Zuhörern« gesprochen. Mittels der direkten Adressierung Dritter lässt sich am ehesten erschließen, wem sich der Interviewte imaginär gegenüber sieht. Allerdings gilt, dass von einer direkten Adressierung kein Rückschluss auf die kognitive Repräsentation des Sprechers möglich ist. Nur unter Berücksichtigung komplexer Prozesse (beispielweise Fremd- und Selbstpositionierungen) lassen sich solche Vermutungen anstellen. Obwohl Rückversicherung in Zeitzeugeninterviews nicht gegeben ist, darf man annehmen, dass durch Adressierung Dritter das Interview verständlicher für selbige wird.

6. Ausblick

Methodologische Kritik am Interview als Forschungsmethode hat ihre Berechtigung für sozialwissenschaftliche Forschung. Für das Zeitzeugeninterview könnte jedoch die oben beschriebene »Tilgung« der Interviewer-Aktivitäten insofern berechtigt sein, als der begründete methodologische Anspruch, das Interview als Interaktion untersuchbar zu machen, einer gleichsam medialen Absicht des Interviews widerspräche. Hamburger (2014) hatte vermutet, dass die Videographierung des Zeitzeugeninterviews eine Szene erzeugt, in welcher der leere Platz des Interviewenden durch die Betrachtenden eingenommen werden kann.

Auerhahn & Laub (1990) beschreiben die Zeitzeugenschaft[6] als Apostrophe: Nicht nur wird zu mehreren Adressaten gesprochen, die imaginär den Platz des Interviewenden einnehmen; sondern es wird auch für jemanden gesprochen. Mittels der Apostrophe werden neben den Lebenden auch die Abwesenden, die Verlorenen und die Toten adressiert[7]. Der Sprecher bringt die Adressierten mittels seiner Stimme zu Gehör. So endet das Schweigen des Gegenübers und ein Dialog kann beginnen. Über diesen »stillen« Dialog mit den Verlorenen und Abwesenden konstituiert sich der Zeuge selbst. Der Impuls, ein adressierbares Gegenüber haben zu wollen, dient dazu, der Fragmentierung Form zu verleihen. Ein adressierbares Gegenüber verkörpert einen »mirroring other« (Auerhahn & Laub, 1990, S. 452), der in der Zeitzeugenschaft angerufen und wieder ansprechbar wird. Verkörperungen dieses ansprechbaren Anderen wären eine spiegelnde Mutter oder auch Gott.

Wie diese Adressierung im Interview funktionieren kann, wurde mit Mitteln der Konversationsanalyse gezeigt. In Zeitzeug_inneninterviews kann der Adressatenzuschnitt als Fremdpositionierung zu einem nicht-anwesenden Dritten gesehen werden. Die vorformulierte Stilfigur der Apostrophe lässt sich empirisch in den Gesprächsbeiträgen der Interviewpartner finden. So wird die Funktion erfüllt, dass durch das Interview vermittelte Zeugnis einem Betrachter oder Zuhörer verständlich zu machen. Der Dritte ist imaginär und kann nicht (mehr) selbst in die Interaktion eingehen.

Die Absicht des Zeitzeug_inneninterview bildet so einen gewissen Kontrast zu der des Forschungsinterviews, weniger gegensätzlich als vielmehr unterschiedlich. Für die Forschung könnten neue Fragen wie z.B. »wie wird die Szene mit dem nicht-anwesenden Dritten im Interview erzeugt?« in den Mittelpunkt gestellt werden. Für die Untersuchung solcher Fragen ist eine Berücksichtigung der Interaktion unerlässlich. In der Gedenkstättenarbeit oder der Bildungspraxis hingegen steht die videographische Erzeugung der Szene als Nachvollzug im Betrachter im Mittelpunkt. Es wäre wünschenswert, diese unterschiedlichen Interessen methodisch bewusst zu reflektieren und im jeweiligen Kontext zu berücksichtigen.

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Endnoten:

[1]

nach Vorgaben des Zwangsarbeitsarchivs werden die Namen in den Bildunterschriften abgekürzt. Die Klarnamen sind jedoch auch im Archiv deutlich einsehbar.

[2]

Schegloff schreibt in seiner »Introduction« (S. 49-62) zu den von Gail Jefferson (1992) herausgegebenen »Lectures on Conversation« von Harvey Sacks: «Goffman is reported to have responded to a question years later asking whether Sacks had been his student by saying, «What do you mean; I was his student!” Leaving aside the possible elements of generosity, irony and flipness in such a remark (and assuming that the report is, generally speaking, correct), a serious treatment of the directions of influence and the interplay of ideas between them remains to be written«.

[3]

hier als Adressatenzuschnitt nach Deppermann/Blühdorn (2013) übersetzt. Besser in den Flusstext integrieren

[4]

Schon Goffman (1979) erwähnt die Rolle von »audience« in seinem paper über »footing«; »footing« ist seitdem als soziale Praxis en detail beschrieben (Clayman 1992; Goodwin 2007; Holye 1998).

[5]

Alltagsschriftlich meint, wenn Transkriptionsregeln dem Alltagsverständnis von Gesprächen folgen.

[6]

bezogen auf die Zeugenschaft der Shoah besser in den Flusstext integrieren

[7]

»the absent, the lost and the dead« (Auerhahn & Laub 1990, S. 452)

Über die AutorInnen

Christopher Poppe

B.A., Student im M.Sc. Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Kassel

Levetzowstr. 22 10555 Berlin

E-Mail: Christopher.poppe@ipu-berlin.de

Michael B. Buchholz

Prof. Dr. phil.; Inhaber des Lehrstuhls für Sozialpsychologie der IPU (International Psychoanalytic University), Berlin

E-Mail: michael.buchholz@ipu-berlin.de

Marie-Luise Alder

M.A., wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Sozialpsychologie der IPU

E-Mail: luise.alder@ipu-berlin.de