Editorial

Andrea Birbaumer & Peter Mattes

Vorbemerkung

Das 30-jährige Bestehen der Gesellschaft kritischer Psychologen und Psychologinnen (GkPP)[1] war Anlass für die Tagung Psycholog_innen prekär im September 2015 in Wien.[2] Die langjährige Tradition, GkPP-Jubiläen mit kritischer Auseinandersetzung, Standortbestimmung und Hinterfragen unseres politischen und fachliches Tuns zu begehen, fand ihren Ausdruck diesmal darin, von uns selbst als Psychologen und Psychologinnen und unseren konkreten Handlungsmöglichkeiten wie auch Handlungsbeschränkungen auszugehen. In den letzten Jahren haben wir uns intensiv immer wieder Gedanken darüber gemacht, was veränderte Rahmenbedingungen, was Prekarität, was der Niederschlag des Neoliberalismus für unsere Arbeit mit KlientInnen bedeutet[3] – diese Tagung sollte einmal uns selbst als arbeitende und lebende Wesen in den Fokus rücken, Verhältnisse klar zu analysieren und Haltungen zu entwickeln, die unsere Möglichkeitsräume erweitern.

1. Auf der Suche nach den Möglichkeitsräumen

Das Öffnen von Möglichkeitsräumen hat als zentrales Thema vor allem die zwischen 2009 und 2012 stattgefunden habenden »kritisch psychologischen Almen« (ebenfalls veranstaltet von der GkPP) durchzogen. ›Möglichkeitsraum‹ verstehen wir als den Raum, in dem verborgene Stimmungen und psychische Experimente zugelassen werden können, die das Ich noch nicht zu realisieren vermag. Es ist ein gemeinsam geteilter Raum in wechselseitigem Miteinander von PsychologInnen und KlientInnen. In der Folge sollten Möglichkeitsräume aufgefunden werden, die über den Beziehungsraum zwischen KlientIn und PsychologIn hinausgehend, sich für uns PsychologInnen im Laufe der letzten Jahre aufgetan haben und weiter auftun können. Damit in Zusammenhang wäre dann auch die Positionierung einer kritisch psychologischen Berufsvertretung in Österreich zu denken.[4]

Möglichkeitsräume lassen sich historisch anhand der Entwicklung der Psychologie in Österreich auffinden. Seit 1955 hatte sich ein flächendeckendes Gesundheits- und Sozialwesen entwickelt. Psychologische und psychotherapeutische Dienstleistungen waren jedoch lange außerhalb einiger weniger Institutionen des Gesundheits- und Sozialwesens nur für eine wohlhabende Minderheit erreichbar. Durch die massive Kritik verschiedener sozialer Bewegungen der 60er-80er Jahre kam es in den Folgejahren zu umfassenden Reformen in Psychiatrie, Strafvollzug und Jugendwohlfahrt. Das Gesundheitswesen bietet heute Leistungen für breite Teile der Bevölkerung, was nicht gleichbedeutend ist mit einer ausreichenden Versorgung in allen Bereichen und für alle Bevölkerungsgruppen. Diese Entwicklungen erhöhten den Bedarf an qualifiziertem Betreuungspersonal und ermöglichten unter anderem auch PsychologInnen, damit auch kritischen PsychologInnen, vielfältige praktische Einsatzfelder. In diesen Zusammenhängen kann man von einem deutlichen Professionalisierungsschub für die Psychologie in Österreich sprechen, der sich auf verschiedenen Ebenen nachvollziehen lässt. Neue anwendungsbezogene Herausforderungen schlugen sich beispielsweise auf einer legistischen Ebene nieder, so wurden sowohl ein Berufsgesetz für PsychologInnen (PG 1990) als auch eines für PsychotherapeutInnen (PthG 1990) formuliert, die Berufszugänge, Ausbildung und berufliche Tätigkeit regeln. Die Auseinandersetzung mit Qualifikationen und Kompetenzen führte und führt noch zu einer Ausdifferenzierung der Berufsbilder und der beruflich-fachlichen Positionen.

Universitär ist parallel dazu die Entwicklung der Psychologie zu einem Massenstudium zu beobachten. Im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland hat allerdings keine kritisch psychologische Strömung in Österreich systematisch Fuß gefasst. K(k)ritisch psychologische Ansätze haben aber dennoch über Initiative von Studierenden, die für Lehraufträge sorgten, vereinzelt Eingang gefunden.

Außerhalb des Gesundheits- und Sozialwesens entwickelten sich die Praxisfelder der Arbeits- und Organisations-Psychologie, der Schulpsychologie, der Verkehrspsychologie, der Sportpsychologie u. a. m. Allerdings fehlte (und fehlt bis heute) ein tragfähiges Finanzierungsmodell für psychologische und psychotherapeutische Dienstleistungen im extramuralen niedergelassenen Bereich. Nur wenige Leistungen sind kassen(teil)finanziert. Seit der Jahrtausendwende kommt es vermehrt zu »Privatisierung«, zu restriktiver Vergabe von Versorgungsaufträgen durch Anbotsdumping, zu einer rapiden Verschlechterung der Betreuungsschlüssel etc.) bis zur Dominanz von »Effizienzkriterien«, die die Arbeits- und Betreuungsbedingungen gekonnt verschleiern. Seit der Krise 2008 muss man von echten Kürzungen und Einsparungen und den damit einhergehenden schleichenden Einsparungen von PsychologInnenstellen sprechen.

Die gesetzliche Regelung hat den Schutz der Berufsbezeichnung »Psycholog/e/in« geschaffen sowie die »Berechtigung zur selbständigen und eigenverantwortlichen Berufsausübung im Bereich des Gesundheitswesens« (PG 1990, §3 Abs3), aber keine wirksame Regelung zur Schaffung von Praxisausbildungsplätzen oder angemessener Entlohnung. Gratisarbeit und »Praktikum« sind weit verbreitet. Prekarität ist in den skizzierten Bereichen systematisch angelegt.

Angesichts dieser Voraussetzungen wächst auch der Bedarf an der Auseinandersetzung mit Grundlagen kritisch psychologischen Denkens und Handelns und der nach Foren für Bestandsaufnahme und Diskussion. Vor diesem Hintergrund entstand dann die Fachtagung Psycholog_innen prekär und letztlich diese Ausgabe des Journal für Psychologie, die überarbeitete Beiträge dieser Tagung enthält (unter Hinzufügung eines Beitrags von Hannes Fricke).

2. Psychologische Tätigkeit nach der »neoliberalen Wende«

Wir neigen dazu, im Zuge der Analyse der Bedingungen uns selbst und unsere Bedürfnisse zu vergessen. Es braucht Instrumente des Denkens, um unsere gesellschaftliche und individuelle Lage als PsychologInnen begreifen und artikulieren zu können. So unsere Programmatik im Call for papers zur Tagung[5]. Zur konkreten Veränderung sind Instrumente des Handelns gefordert, mit welchen wir uns zur Wehr setzen, für uns selbst eintreten und neue Spielräume schaffen können. Die Ökonomisierung, vor allem im Gesundheits- und Sozialbereich, wird oftmals mittels profitorientierter Managementkonzepte vorangetrieben. Gleichzeitig erleben viele KollegInnen prekarisierte Arbeitsverhältnisse mit geringer sozialer Absicherung und unsicheren Zukunftsperspektiven. Fragen nach gesellschaftlichen und politischen Strukturveränderungen und deren Erscheinungsformen in psychosozialen Institutionen sowie Erfahrungen mit dem täglichen Umgehen, vielleicht auch der Verbesserung eben dieser strukturellen Gegebenheiten finden sich in den Beiträgen dieser Ausgabe. Sich mit den Widersprüchen auseinander zu setzen, die Kluft zwischen Ansprüchen und den eigenen Ressourcen sowie dem Vermögen der Umsetzung aufzuzeigen, hat die AutorInnen/Vortragenden und die GkPP als berufspolitische Organisation beschäftigt. Aporien zwischen Strategien der Anpassung, um gesteckte Ziele zu erreichen und der Gefahr der Deformation der eigenen Subjektivität gilt es nicht nur zu benennen, sondern ihnen auch mit solidarischem Handeln als Berufsgruppe zu begegnen.

3. Zu den Beiträgen

Im Eröffnungsbeitrag reflektiert Heiner Keupp die Entwicklung psychosozialer Praxis sowie der sie begründenden Vorstellungen seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Ihnen seien die utopischen Energien der frühen Jahre immer mehr ausgegangen. Psychosoziale Arbeit befinde sich heute im allgemeinen Krisenmodus, der ihre Klienten ebenso wie sie selbst betreffe. Für solche Zusammenhänge sollte und könnte sie aber eine wichtige seismographische Funktion haben, wenn sie es versteht, den kulturell-gesellschaftlichen Hintergrund zu beleuchten und zu benennen. Dafür entwirft der Autor ein detailliertes Panoptikum von Aufgaben und Möglichkeiten.

Athanasios Marvakis, Sofia Triliva, Christos Tourtouras beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit Prekarität & Austerität als »eigenständige politische Mittel für eine grundlegende Rekonfiguration unserer Vorstellungen von Gesellschaftlichkeit«. Am Beispiel der griechischen Gesellschaft wird eine neoliberale Transformation skizziert, die mit einer »NGOisierung« der psychologischen Arbeit einhergeht. Die neuen Arbeitsregime und Arbeitspraxen machen die AutorInnen u. a. am Beispiel einer explorativen Studie mit jungen SchulpsychologInnen deutlich, die über Erfahrungen mit vielfältigen Feldern von Prekarität berichten.

Tom Uhlig haben Beobachtungen, die er als Praktikant in einer Einrichtung der offenen Psychiatrie gemacht hat und in seinem Beitrag systematisch auf den Begriff bringt, zum Resümee einer Prekarität zwischen diskursiv strukturiertem Wissen, institutionellen Professionalitätserwartungen und (Pseudo)intimität veranlasst. Es herrscht in diesem Bereich ein tendenziell widersprüchliches Verhältnis zwischen institutionalisierter Arbeit und sozialen Beziehungen.

Lisa Hopfgartner, Christian Seubert & Jürgen Glaser beleuchten ein spezielles Arbeitsfeld, nämlich die Arbeitspsychologie in Österreich. Ausgangspunkt ist eine von den AutorInnen aktuell durchgeführte Studie zu Rahmenbedingungen der arbeitspsychologischen Tätigkeit. Aus den Ergebnissen lässt sich ableiten, wie ein teilweise unsicheres und undefiniertes Berufsbild das psychische Wohlbefinden der KollegInnen beeinträchtigt. Schlussfolgernd werden Lösungsansätze aufgezeigt, wie prekäre Beschäftigungsverhältnisse von Arbeitspsycholog_innen in Österreich verbessert werden können.

Daniel Sanin arbeitet in einem Wiener Drogenhilfeverein und möchte sich zu einer kritischen Suchtarbeit jenseits einer bloß humanistischen Orientierung, die die eigene Eingebundenheit in gesellschaftliche Bedingungen und Missstände vergisst, bekennen. In seinem Beitrag »Humanistische Suchtarbeit in Bedrängnis« untersucht er die konkreten Verhältnisse der Wiener Suchthilfe sowie ihre Veränderungen im Hinblick auf Behinderungen und Möglichkeiten des Handelns.

Im Beitrag von Romeo Bissuti steht solidarisches Handeln in einer Non-Profit Organisation im Mittelpunkt. Rahmenbedingungen der Arbeit im Gesundheits- und Sozialbereich werden in Beziehung zum Begriff der Solidarität im Sinne Tranovs (2014) gesetzt. Der Autor reflektiert in diesem Beitrag Formen solidarischen Handelns anhand der von ihm selbst erlebten Praxis im Feld psychologischer Männerarbeit. Dabei wird versucht aufzuzeigen, dass strukturell bedingte Konfliktkonstellationen Teil der Handlungsformen bleiben, die nur in größerer gesellschaftlicher solidarischer Kooperation aufhebbar sind.

Die Ausgabe schließt ab mit einer mit einem Blick ›von außen‹ erstellten, einer von Literatur- und Medienwissenschaften inspirierten narratologischen Analyse der in Filmen und TV-Produktionen stereotypisierten Rollenerwartungen an PsychologInnen. Hannes Fricke stößt hier auf ein weiteres, prekäres Dilemma, nämlich die Differenz von oft verschrobenen Persönlichkeiten zugeschriebenen idiosynkratischen Allmachts-, Allwissens- und Eingriffskompetenzen zu den gänzlich anders gelagerten, wohlverstandenen Ressourcen der Profession.

Endnoten:

[1]

Gesellschaft kritischer Psychologen und Psychologinnen (GkPP), österreichische Berufsvertretung für PsychologInnen. http://www.gkpp.at/

[2]

Psycholog_innen prekär. Standortbestimmung und Handlungsperspektiven. Fachtagung. Wien, 18.–20. September 2015. VeranstalterInnen: GkPP & AG Kritische Sozialpsychologie der SFU Wien

[3]

hier seien vor allem die »kritisch psychologischen Almen« als Tagungen der letzten Jahre erwähnt: 2009 mit dem Thema: Was haben uns kritisch-psychologische Ansätze heute zu sagen? 2010 mit dem Thema: Konkrete psychologische Praxis und Handlungsperspektiven 2012 mit dem Thema: Beleuchten unterschiedlicher Praxisfelder vor einer kritisch-psychologischen Folie

[4]

Trinks, Reinhilde; Birbaumer, Andrea; Keclik, Anna (2012): The challenge of being a critical psychologist in times of crisis: An example from Austria. ARCP 10: Critical Psychology in a Changing World: Building Bridges and Expanding the Dialogue. open-access journal (ISSN 1746-739X). https://thediscourseunit.files.wordpress.com/2016/05/austria-89-109.pdf

[5]

Call for Papers Psycholog_innen prekär 2015: http://www.gkpp.at/preview/weiterbildung/documents/Tagung2015A4.pdf

Über die AutorInnen

Andrea Birbaumer

lebt in Wien, langjährige Obfrau der GkPP, selbständige Gesundheitspsychologin, Arbeits- und Organisationspsychologin, Notfallpsychologin, Forschung und Lehre an der TU Wien, Lehre an der SFU und in der GkPP, Mitherausgeberin des Journal für Psychologie seit der Umstellung auf Open Access.

E-Mail: birbaumer@gkpp.at

Peter Mattes

lebt als Freier Wissenschaftler in Berlin und Wien. Lehr- und Forschungstätigkeit bis 2004 an der Freien Universität Berlin mit häufigen Lehraufträgen an der Universität Wien. Mitherausgeber des Journal für Psychologie seit dessen Gründung, Herausgeber vieler Einzelausgaben. Derzeit letzte Veröffentlichung: (2017) Zur Geschichte der Psychologiekritik in den kritischen Psychologien. In: Heseler, Denise et al.: Perspektiven kritischer Psychologie und qualitativer Forschung, Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 13-31.

E-Mail: petermattes@aol.com