Das erschöpfte Selbst der Psychologie

Heiner Keupp

Zusammenfassung

Gegenwärtig gibt es eine inflationäre Beschäftigung mit dem Thema Burnout, das im globalen Kapitalismus fast alle Berufsgruppen und auch die privaten Lebenswelten erreicht hat und es ist eindeutig, dass die helfenden Berufe an der Spitze der Erschöpfung rangieren. Reicht es, mehr »Selbstsorge« oder »Achtsamkeit« zu empfehlen? So wichtig das auch ist, so bleibt doch letztlich die Notwendigkeit, das psychosoziale Handeln in einen größeren gesellschaftlichen Kontext zu stellen und an der Überwindung der zunehmenden »Gesellschaftsblindheit« oder »sozialen Amnesie« der aktuellen Psychologie zu arbeiten. Die ganze PSY-Zunft ist seit den 80er Jahren in ihrem Siegeszug gestoppt worden. Die utopischen Energien sind auch ihr im Zuge der neoliberalen Globalisierung immer mehr ausgegangen und sie befindet sich im allgemeinen gesellschaftlichen Krisenmodus. Die Psychologie ist vom gesellschaftlichen Strukturwandel in elementarer Weise betroffen. Die kritische Reflexion setzte erst allmählich ein und sie muss fortgesetzt und vertieft werden. Gerade die Erschöpfungssymptome der PSY-Professionellen selbst erfordern eine Analyse ihrer Entstehungsbedingungen.

Schüsselwörter: Professionalisierung, Psychosoziale Praxis, Professionskritik, Spätmoderne gesellschaftliche Verhältnisse, Neoliberales Menschenbild, Psychosoziale Ressourcen

Summary

The exhausted self of psychology

Currently, there is an inflationary involvement with the subject Burnout, which has reached almost all professional groups and the private worlds in the global capitalism. It is clear that the helping professions are ranked at the top of exhaustion. Is it enough to recommend more "self-care" or "mindfulness"? There remains ultimately the need to contextualize the psychosocial work in a broader social frame and to work on overcoming the increasing "social blindness" or "social amnesia" of the current psychology. The whole PSY guild has been stopped in its triumphal march since the '80s. The utopian energies are also considered more and more exhausted in the course of neoliberal globalization and the psychosocial Professions are in the general social crisis mode. The psychology is affected by the social changes in an elementary way. The critical reflection began only gradually and it must be continued and intensified. Just fatigue symptoms of PSY-professionals, requiring an analysis of the conditions of their occurence.

Keywords: Professionalization, Psychosocial practice, Criticism of profession, Social conditions in actual modernism, Neoliberal image of the subject, Psychosocial resources

Vor 30 Jahren habe ich an der Freien Universität Berlin einen Vortrag gehalten, der unter dem Titel »Helfer am Ende? Subjektive und objektive Grenzen psychosozialer Praxis in der ökonomischen Krise« publiziert wurde (Keupp 1986). Es war eine Zeit, in der der stürmische Zuwachs an psychologischen Dienstleistungen einen erheblichen Dämpfer erhielt. In den Jahren davor gab es enorme Wachstumsraten in den psychologischen Handlungsfeldern. In fast allen psychosozialen Bereichen sind innovative neue Projekte entstanden und sie profitierten nicht nur von einem politischen Reformklima, sondern auch von günstigen ökonomischen Randbedingungen. Schon in den späten 70er Jahren und jetzt aber in aller Deutlichkeit wurde deutlich, dass sich der Kapitalismus nach einem andauernden Aufschwung von seiner krisenhaften Seite zeigen würde. Die Reforminitiativen sind damals nicht auf der Strecke geblieben, auch wenn die öffentliche Förderung immer schwieriger wurde, aber es war notwendig die Qualität von dem, was in den Jahren vorher auf den Weg gebracht wurde, kritisch zu reflektieren. Nach der allgemeinen Kritik am Psychoboom, die wir betrieben hatten, wurde es notwendig, die Arbeitsbedingungen in den psychologischen Arbeitsfeldern kritisch zu beleuchten und sich mit dem gesellschaftlichen Mandat für PsychologInnen auseinanderzusetzen. Damals kamen der Diskurs zu den »hilflosen Helfern« auf und die ersten Analysen zum Thema Burnout.

Ich würde gerne meine eigenen Analysen aus der Frühphase einer kritischen Selbstreflexion der explosiven Entstehung des psychologischen Berufsstandes (vgl. Keupp 1978; 1981; 1986; 1987b; 1989 a;b; Keupp, Straus & Gmür 1989) auf den Prüfstand stellen und fragen, was damals und heute im Focus steht und was an kritischer Reflexion heute zusätzlich zu leisten ist.

Das »Jahrhundert der Psychologie« endet in der Krise

Sigmund Koch und David Leary (1985) haben in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts dieses als das »Jahrhundert der Psychologie« charakterisiert. Sie hat sich als Wissenschaft etabliert, aber vor allem hat sie die Kinder des Wertewandels in den Nachkriegsjahrzehnten angesprochen. Sie wollten keine entfremdeten Tätigkeiten ausüben wie ihre Eltern, sie orientierten sich an »posttraditionellen Werten« und wollten vor allem ihre eigene Selbstentfaltung vorantreiben, und wenn man das sogar noch zum Beruf machen kann, das erfüllt es materielle und postmaterielle Ziele zugleich. Seit den 60er Jahren erhöht sich die Anzahl der PsychologiestudentInnen exponentiell, einer akademischen Steigerungsrate, die zwei Jahrzehnte später nur von der Informatik überholt wurde. Die Psychologie wurde zu einer soziokulturellen Deutungsmacht und es gab kaum ein Thema, bei dem sie nicht ihre interpretatorische Hoheit entfaltete. Gleichzeitig bemühte sich die wachsende Gruppe von PsychologInnen sich vor allem im psychotherapeutischen Handlungsfeld als Heilberuf neben der ärztlichen Zunft zu etablieren.

Die kritische Psychologie ist natürlich auch ein Kind dieser Zeit, hat aber die Entwicklung der eigenen Zunft immer wieder reflektiert, die intellektuelle Hermetik psychologistischer Sichtweisen aufzubrechen versucht, gesellschaftskritische Perspektiven eingenommen und alternative berufliche Handlungsfelder zu etabliert.

Die ganze PSY-Zunft ist allerdings seit den 80er Jahren in ihrem Siegeszug gestoppt worden. Die utopischen Energien sind auch ihr im Zuge der neoliberalen Globalisierung immer mehr ausgegangen. Zwar ist die Nachfrage nach dem Studium ungebremst und die Psychologisierung der Welt boomt ebenso. Wir erleben allerdings eine »Enteignung« unseres Wissens. Das Monopol für psychologische Interpretationen und Interventionen liegt schon längst nicht mehr bei Fachvertretern. Betriebswirte, Managementexperten, Coaches, Medienfachleute etc. bieten alles genauso an und verdienen dabei nicht schlecht. Die weite Landschaft der Psychotherapie hat sich ohnehin in vielen Varianten von einer wissenschaftlich fundierten Psychologie gelöst und scheint dort besonders nachgefragt zu sein, wo sich die Entfernung zu einer akademischen Reflexionskultur besonders deutlich abzeichnet. Je größer der Abstand zur blutleeren kognitivistisch verkürzten Mainstreampsychologie an den Universitäten ein Therapieverfahren aufweist und je näher es esoterischen Sinnhorizonten und Heilsversprechungen ist, desto erfolgreicher ist es und zieht vor allem auch enttäuschte Absolventen der Hochschulpsychologie an.

Psychologie der Krise und in der Krise

All diese Probleme zeichneten sich schon 1985 ab. Es war klar, dass sich ökonomischen Krisen häufen würden und dass sich die relative Stabilität der restaurativen gesellschaftlichen Verhältnisse der Nachkriegsjahrzehnte, die uns in der Studentenbewegung in die Revolte trieb, auflösen würde. Aber es wurde auch immer deutlicher, dass die sozialliberalen Demokratisierungs- und Reformansätze der 70er Jahre, die wichtige psychosoziale Projekte ermöglichten, zunehmend ausgebremst werden würden. Im Rückblick ist es uns heute viel klarer, als es uns damals sein konnte, dass sich hier ein tiefgreifender gesellschaftlicher Strukturwandel vollzog, der als globalisierter Netzwerkkapitalismus nichts mehr so ließ, wie es war. Manuel Castells hat es schon 1991 so ausgedrückt: Für ihn bedeutet »die Netzwerkgesellschaft einen qualitativen Wandel in der menschlichen Erfahrung« (1996, S. 477): Ihre Konsequenzen »breiten sich über den gesamten Bereich der menschlichen Aktivität aus, und transformieren die Art, wie wir produzieren, konsumieren, managen, organisieren, leben und sterben (Castells 1991, S. 138).« Und die Psychologie war von diesem Strukturwandel in elementarer Weise betroffen, auch wenn sich die Mainstreampsychologie in ihrem naturwissenschaftlichen Selbstmissverständnis davon nicht betroffen sah.

Wie habe ich 1985 die Krisensymptome verstanden und eingeordnet? Mein Ausgangspunkt war die Einordnung des psychosozialen Handlungsfeldes als »Krisengewerbe«, worunter zu verstehen ist, dass wir dort mit den Krisen von Menschen zu tun haben. Die Frage war und ist, ob wir die Krisenerfahrungen von Subjekten auch als Indikatoren erkennen, in denen sich gesellschaftliche Erfahrungen und Zumutungen spiegeln bzw. individuell nicht bewältigt werden können.

Mein Text, der jetzt 30 Jahre auf dem Buckel hat, spiegelt die Reflexionsmöglichkeiten von damals.

Das Ende der Reformillusionen: Das Aufwachen aus dem »kurzen Traum immerwährender Prosperität« (Lutz 1984)

Nach einer Aufbauperiode nach dem Ende von Faschismus und Krieg, die vor allem als relativ krisenfreier ökonomischer Aufschwung (Sprichwort »Wirtschaftswunder«) gekennzeichnet war, kam es zu einer ersten heftigen Wirtschaftskrise mit zunehmender Arbeitslosigkeit. Auf diesem Hintergrund haben sich viele Reformhoffnungen der 60er und 70er Jahre zunehmend als illusionär erwiesen.

Die Reformbewegungen (wie die Antipsychiatrie oder die Gemeindepsychiatrie) verlieren an Energie

In den 60er und vor allem den 70er Jahren sind viele PsychologInnen in der Psychiatriereformbewegung sozialisiert worden (vgl. Keupp 2015). Es ging um die Utopie einer veränderten Gesellschaft, in der Aus­grenzung von Dissens und Differenz überwunden, in der "Verrücktheit" und "Anderssein" norma­lisiert werden könnten. Die großen Worte wie "Deinstitutionalisierung" (Auflösung der "Irrenhäuser") oder "Rekommunalisierung psychischen Leids" wurden zu Reiz­worten, weil sie von einem utopischen Überschuss getragen wurden, der mehr wollte, als technisch-quantitative Lösungen. Aber dieser Überschuss war schnell verbraucht, auch in den kleinen pragmatischen Schritten, die bei dem Aufbau alternativer Hilfesysteme erforderlich waren. Genau in der Zeit gab es die allgemeingesellschaftliche Diagnose der »Erschöpfung utopischer Energien« (Habermas 1989). Schon vor einem Vierteljahrhundert ist der Reformbewegung eine resignative Desillusionierung attestiert worden: "In der psychiatrischen Szene in der Bundesrepublik herrscht allenthalben Kater­stimmung. Die Psychiatriereform habe nicht gebracht, was man sich von ihr versprochen habe; sie habe gar nicht stattgefunden, meinen einige. Sie sei steckengeblieben, meinen andere, weil es an Geld fehle, an Personal vor allem, und am politischen Willen, sie durchzusetzen". Dieses Bild zeichnete Asmus Finzen in einem Artikel in der "Frankfurter Allgemeinen Zei­tung" (12. Mai 1989).

Antisubjektivismus: Psychologiekritik von rechts

Der weltweit beschriebene Wertewandel in den 70er Jahren, der sich als eine Abkehr von materiellen und Hinwendung zu postmateriellen Werten vollzog (Inglehart 1977), die vor allem auf Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung setzten, hatten einer psychologischen Reflexionskultur eine enorme Schubkraft verliehen. Für viele Studierenden der Psychologie waren das die Wertbezüge, die ihre Berufsentscheidung begründeten. Zugleich war diese Entwicklung auch eine Kampfansage an konservative Weltbilder, deren Vertreter sich offensiv mit der Entstehung einer »psychologischen Gesellschaft« (so der Titel der reaktionären Kampfschrift von M.L.Gross (1984)) auseinandersetzten und darin die Zerstörung der kulturellen Grundlagen der westlichen Welt sahen (vgl. Bell 1982). Sie sahen die zentralen ideologischen Pfeiler der kapitalistischen Gesellschaft, Arbeit und Leistung, in Gefahr und vertraten eher eine Haltung, die in der Studie zum »autoritären Charakter« als »Anti-Intrazeption« bezeichnet wurde (vgl. Adorno 1973), also eine Warnung vor einer selbstreflexiven und hedonistisch ausgerichteten Lebensführung, die man gerade in den Elitebildungsstätten der akademischen Jugend beobachtete.

Psychokultur als Kontrollsystem: Die Kritik von links

Die Kritik an einer zunehmenden Psychologisierung aller Lebensbereiche und die damit verbundene Entpolitisierung war auch ein zentraler Topos linker Psychologiekritik, die allerdings in ihren differenziertesten Formen nicht von außen an die Psychologie herangetragen wurde, sondern aus ihrer Mitte selbst kam. Dieser Diskurs thematisiert die Tendenz, dass psychotherapeutische Angebote das Leiden der Menschen an unmenschlichen gesellschaftlichen Verhältnissen so bearbeiten, dass der gesellschaftliche Verursachungszusammenhang ausgeblendet wird und die Probleme zu psychologisch hand- und aushaltbaren Aufgaben umdefiniert werden. So würden den Klienten darin unterstützt, sich an gesellschaftlich fragwürdige Verhältnisse anzupassen, statt ihre Veränderung einzuklagen (z. B. Nagel & Seifert 1979; Szasz 1982; Zygowski 1987).

Die Ambivalenzen der Professionalisierung eines »unmöglichen Berufs«

In den 60er und 70er Jahren gab es einen enormen Zulauf zu den psychosozialen Berufsgruppen, deren Bestandsraten sich vermehrfacht haben. Im Zuge dieser Entwicklung ist auch die Frage der Professionalisierung psychosozialer Dienstleistungen immer relevanter geworden. Speziell das starke Interesse an der klinischen Psychologie und Psychotherapie hat die Debatte um wirksame Formen psychologischer Hilfen aufgeworfen, einen hochkonkurrenten Schulenstreit unter den unterschiedlichen psychotherapeutischen Richtungen ausgelöst und dieser verengte sich immer stärker auf die scheinbar überlegenen therapeutisch-technischen Dimensionen psychotherapeutischen Handelns. In dieser Debatte ist die frühe Warnung Freuds überhört worden, der den Beruf des Psychoanalytikers – und das kann man für alle PsychotherapeutInnen verallgemeinern - als »unmöglichen Beruf« bezeichnete und verstand darunter ein Handlungsfeld, in dem »man des ungenügenden Erfolges von vornherein sicher sein kann« (Freud, GW XVI, S. 94). In der frühen Phase war vor allem die junge Verhaltenstherapie mit einer Haltung aufgetreten, die ich als »therapeutischen Triumphalismus« (Keupp 1978) bezeichnet habe. Die Grenzen des psychotherapeutischen Technizismus wurden inzwischen nicht zuletzt durch die seriöse Psychotherapieforschung aufgezeigt, die den Wirksamkeitsanteil des schulenspezifischen Handwerkszeugs deutlich unter 20% aufzeigte (vgl. Auckenthaler 2012).

Professionskritik der Selbsthilfeinitiativen der Betroffenen

Die wichtigste Verunsicherung kam durch Selbstinitiativen von Betroffenen. Für mich ist das mit einer traumatischen politischen Erfahrung verbunden. An einem Wochenende Ende 1984 hatte die Bundes­arbeitsgemeinschaft der Grünen zu einer psychiatriepolitischen Tagung nach Berlin geladen. Endlich sollten Eckpunkte für ein psychiatriepolitisches Programm der entstehenden neuen Partei formuliert werden. Die Psychia­triereformer der Bundesrepublik kamen voller Hoffnung zu dieser Tagung, endlich eindeutige und radikale Reformpositionen im politischen Raum vernehmbar artikulieren zu können und sie erlebten doch ein spezifisches Waterloo. Ich hatte mir eine Reihe von Punkten überlegt, die ich in das ge­plante Programm einbringen wollte. Letztlich bin ich stumm geblieben. Warum? Zu dieser Tagung waren auch Betroffenen-Initiativen geladen wor­den. Und den Tagungsort nutzte vor allem die Berliner Irrenoffensive. Allein ihre Existenz war ja schon ein Grund zur Revision von Positionen, die da­mals auch in der Reformszene geteilt wurden. Michael Lukas Moeller (1978), da­mals meist als Selbsthilfe-Moeller tituliert, hatte mit der Autorität des Ex­perten betont, dass psychisch Kranke aufgrund ihrer spezifischen psychi­schen Verfassung nicht "selbsthilfefähig" seien. Nun begegneten wir da einer handlungsmächtigen Gruppe von psychiatrie­erfahrenen Menschen. Dieser Überraschung folgte die Traumatisierung. Diese Gruppe sah nicht die "böse Gesellschaft" oder die "böse Psychiatrie" als ihre Hauptgegner an, sondern Leute wie uns, die für sich einfach unge­prüft von der Unter­stellung ausgingen, dass sie die legitimen Interessenver­treter der psychisch Kranken seien. Sie konfrontierten uns mit dem Vor­wurf, dass sie die für­sorgliche Form der Entmündigung, die sie vor allem von sozialpsychiatrisch orientierten Professionellen erfahren würden, als besonders raffinierte Re­pression erleben würden. Warum würden wir sie, als die eigentlichen Ex­pertInnen, nicht fragen, was für sie gut und richtig ist. Sie forderten das Recht auf Selbstorganisation und sie forderten vor allem auch die sozialpo­litischen Ressourcen dafür.

Die Erschöpfungskrise der PsychologInnen: Burnoutinflation

Das heute so prominente Thema Burnout fand damals erstmals Beachtung. In die deutsche Diskussion fand es unter dem Stichwort von den »hilflosen Helfern« Eingang. Wolfgang Schmidbauer (1977) hatte mit diesem Titel einen Bestseller gelandet, als 5 Jahre später sein zweiter Band zum Thema »Helfen als Beruf« (Schmidbauer 1982) erschien, waren bereits – wie die Verlagswerbung herausstellte – 100.000 Exemplare verkauft. Da wurde ein Treffer gelandet, der der triumphalistischen Selbstinszenierung des Berufsstandes den Boden entzog. In den USA hatte Herbert Freudenberger (1974) das Thema Burnout zum Gegenstand einer ersten fachlichen Analyse gemacht und die Bücher von Cary Cherniss (1980) und Christina Maslach (1982) sind schnell zu wichtigen Quellen geworden. In der ersten großen Krise nach einer Phase des ungebremsten Auf- und Ausbaus psychosozialer Dienste war eine psychologische Deutungsfolie für Krisen im Berufsstand gegeben. Aber schon damals war uns bewusst, dass es nicht ausreicht, den Beginn einer dramatischen gesellschaftlichen Strukturveränderung psychologisch zu interpretieren (vgl. Keupp 1987a). Der globalisierte Netzwerkkapitalismus, den Ulrich Beck (1986) damals als »Risikogesellschaft« beschrieben hat, erforderte andere analytische Zugänge, die auch zunehmend vorgelegt worden (genannt seien nur Autoren wie Zygmunt Bauman, Manuel Castells oder Anthony Giddens). Im Diskursfeld der Psychologie sind sie kaum angekommen. Durchgesetzt hat sich der Burnoutdiskurs.

Wir haben heute eine schon fast inflationäre Beschäftigung mit dem Thema Burnout, das im globalen Kapitalismus fast alle Berufsgruppen und auch die privaten Lebenswelten erreicht hat und es ist eindeutig, dass die helfenden Berufe an der Spitze der Erschöpfung rangieren. Reicht es in der Situation, uns gegenseitig mehr »Selbstsorge« oder »Achtsamkeit« zu empfehlen und entsprechende Kursangebote zu machen? So wichtig das in der Ausbildung von professionellen HelferInnen ist und in allen Coaching- und Supervisionsangeboten vorkommen sollte, bleibt doch letztlich die Notwendigkeit, das psychosoziale Handeln in einen größeren gesellschaftlichen Kontext zu stellen und an der Überwindung der zunehmenden »Gesellschaftsblindheit« oder »sozialen Amnesie« der aktuellen Psychologie zu arbeiten.

Von der Notwendigkeit einer Gesellschaftsdiagnostik

Im Weiteren werde ich mich exemplarisch mit dem gesellschaftlichen Strukturwandel und dessen psychosoziale Konsequenzen beschäftigen. Z. B. könnte man fragen, wie sich die klassisch nachgewiesenen und aktuell erneut eher verschärft klar bestätigten korrelativen Verknüpfungen zwischen Armut und psychischen Störungen verstehen lassen. Oder das Gewalthandeln von Jugendlichen veranlasst uns immer wieder, nach den Ursachen und ihrer Beeinflussbarkeit zu fragen. Ein anderes mögliches Thema wäre ADHS. Eine neue Erhebung der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung weist aus, dass bei 25% der Anlässe dafür, eine Beratung aufzusuchen, ADHS angegeben wird.

Im Weiteren möchte ich an der vielfach aufgezeigten Zunahme von Depressionen ansetzen, weil ich in dieser Zunahme die subjektiven Folgen gesellschaftlicher Dynamiken sehe, die vor allem für die individuelle Identitätsarbeit von Menschen erhebliche Anforderungen stellen.

Die uns vorliegenden Daten aller großen deutschen Krankenkassen (AOK, DAK, TK, BKK) lassen sich durchaus als empirische Untermauerung solcher Aussagen lesen. Sie zeigen dramatische Zuwachsraten bei der Diagnose psychischer Störungen. Die Anzahl der Arbeitsunfähigkeitstage, die durch diese Diagnose begründet wird, steigt in sehr viel höherem Maße als bei allen anderen klassischen krankheitsbedingten Gründen, die zum Arbeitsausfall führen.

Die damalige Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen hat das in diesen Daten sichtbar werdende Problem in der »Saarbrücker Zeitung« vom 27.11.2011 so benannt: »Es gibt ein Thema, das bislang viel zu kurz gekommen ist: die psychischen Belastungen in der Arbeitswelt. Jeder dritte Bürger, der heute vorzeitig in Rente geht, tut das, weil er den Anforderungen seines Jobs psychisch nicht mehr gewachsen ist. Im Schnitt gehen die Leute mit Mitte Vierzig. Das ist für die Betriebe wie für die Gesellschaft ein Riesenverlust. Allein die Behandlungskosten dafür belaufen sich auf geschätzte 27 Milliarden Euro im Jahr. Diese Zahlen sollten aufrütteln.«

Auch der Hochschulbereich, der in seinem Profil immer deutlicher betriebswirtschaftlich geprägt ist und sich von klassischen Bildungsidealen längst verabschiedet hat, fördert mit einer Bachelorisierung der Studiengänge die Belastungen der Studierenden und auch der Hochschullehrenden. Das Deutsche Studentenwerk hat schon vor einiger Zeit in einer vielbeachteten Presseerklärung darauf aufmerksam gemacht, dass auch bei Studierenden ein wachsender Beratungsbedarf wegen depressiver Probleme entstanden sei. Im DSW Journal 2007 des Deutschen Studentenwerks (DSW) wird darauf hingewiesen: Immer mehr Studierende leiden unter dem für Manager typischen Burnout-Syndrom wie Depressionen, Angstattacken, Versagensängsten, Schlafstörungen oder Magenkrämpfen. In den Psychologischen Beratungsstellen der Studentenwerke würden sich verstärkt Studierende mit solchen Beschwerden melden, heißt es in dem Beitrag. DSW-Präsident Rolf Dobischat spricht von einer Besorgnis erregenden Entwicklung. Er sagte: »Die Studierenden stehen unter immer stärkerem Erwartungs-, Leistungs- und vor allem Zeitdruck. Die vielen laufenden Hochschulreformen dürfen aber nicht dazu führen, dass ein Studium krank macht. Dobischat appellierte an die Hochschulen, insbesondere die neuen Bachelor- und Master-Studiengänge nicht zu überfrachten. Gemäß der aktuellen 18. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks hat jeder siebte Studierende Beratungsbedarf zu depressiven Verstimmungen sowie zu Arbeits- und Konzentrationsschwierigkeiten; jeder siebte Studierende will sich zu Prüfungsängsten beraten lassen«.

Die größten Steigerungsraten gibt es bei den Diagnosen Burnout und Depression. Die Einschätzung, dass die Depression zur Volkskrankheit Nr. 1 wird, legt die Frage nahe, was dafür die Ursachen sein könnten. Der Frankfurter Psychoanalytiker Heinrich Deserno schreibt dazu: »Seit etwa 15 Jahren zeichnet sich deutlich ab, dass Depressionen für den spätmodernen Lebensstil beispielhaft werden könnten, und zwar in dem Sinne, dass sie das Negativbild der Anforderungen beziehungsweise paradoxen Zumutungen der gesellschaftlichen Veränderungen darstellen und deshalb in besorgniserregender Weise zunehmen könnten, wie von der Weltgesundheitsorganisation hochgerechnet: Im Jahr 2020 sollen Depressionen weltweit und in allen Bevölkerungsschichten die zweithäufigste Krankheitsursache sein.« Und die deutsche Stimme der WHO, Ilona Kickbusch, hat sich so zu diesem Thema geäußert: »Immer mehr Menschen haben mit einem immer schnelleren Wandel von Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingungen zu kämpfen. Sie können das Gleichgewicht zwischen Belastungs- und Bewältigungspotentialen nicht mehr aufrechterhalten und werden krank. Depression ist zum Beispiel nach den Statistiken der Weltgesundheitsorganisation eine der wichtigsten Determinanten der Erwerbsunfähigkeit. (…) Schon heute sind weltweit ca. 121 Millionen Menschen von Depressionen betroffen. Denn unser Leben gewinnt zunehmend ‚an Fahrt‘, sei es zwischenmenschlich, gesellschaftlich, wirtschaftlich oder im Informations- und Freizeitbereich« (2005, S. 15).

Natürlich gibt es gute Gründe, die uns angelieferten Zahlen kritisch zu reflektieren. Die Krankenkassen liefern uns keine Daten der wahren Prävalenz, sondern die von Ärzten diagnostizierten Befunde. Es ist notwendig, die inflationäre Verwendung der Diagnose Depression kritisch zu reflektieren. Die Hauptnutznießer dieser diagnostischen Gepflogenheit ist die Psychopharmakaindustrie. Der Gesundheitsreport der TKK 2010 zeigt, dass 2009 bei Männern 119 Prozent, bei Frauen 96 Prozent mehr Tagesdosen als im Jahr 2000 verschrieben wurden.

Unstrittig dürfte sein, dass immer mehr Menschen die mit der Globalisierung verbundenen Veränderungen in ihrer Arbeits- und Alltagswelt als Herausforderungen und Belastungen erleben, die ihre Bewältigungsmöglichkeiten überschreiten. Die »Klinifizierung« der daraus folgenden psychischen Probleme enthält die Gefahr der Individualisierung gesellschaftlicher Probleme.

Welche Schlüsse ziehen wir aus solchen Befunden? Aus Frankreich kam kürzlich unter dem Titel »Das erschöpfte Selbst« von Alain Ehrenberg ein wichtiger Beitrag, der eine wichtige Brücke zwischen sozialwissenschaftlicher Gegenwartsdeutung und der Zunahme diagnostizierter Depressionen schlägt. Er geht davon aus, dass Subjekte in der globalisierten Gesellschaft ein hohes Maß an Identitätsarbeit leisten müssen (Keupp et al. 2013). Die zunehmende Erosion traditioneller Lebenskonzepte, die Erfahrung des »disembedding« (Giddens), die Notwendigkeit zu mehr Eigenverantwortung und Lebensgestaltung haben Menschen in der Gegenwartsgesellschaft viele Möglichkeiten der Selbstgestaltung verschafft. Zugleich ist aber auch das Risiko des Scheiterns gewachsen. Vor allem die oft nicht ausreichenden psychischen, sozialen und materiellen Ressourcen erhöhen diese Risikolagen. Die gegenwärtige Sozialwelt ist als »flüchtige Moderne« charakterisiert worden (Bauman 2000), die keine stabilen Bezugspunkte für die individuelle Identitätsarbeit zu bieten hat und den Subjekten eine endlose Suche nach den richtigen Lebensformen abverlangt. Diese Suche kann zu einem »erschöpften Selbst« führen, das an den hohen Ansprüchen an Selbstverwirklichung und Glück gescheitert ist (Ehrenberg 2004). Elisabeth Summer (2008), eine langjährig erfahrene Psychotherapeutin, die mit dem an Ehrenberg geschärften Blick ihren 10jährigen KlientInnenstamm reanalysiert hat, zeigt deutlich, dass die ins Ich-Ideal verinnerlichten gesellschaftlichen Leistungs- und Selbstverwirklichungsideologien eine destruktive Dynamik auslösen können. Es handelt sich also nicht um eine »Krankheit der Freiheit«, sondern um die Folgen einer individuellen Verinnerlichung der marktradikalen Freiheitsideologien.

Psychotherapie könnte genau für solche Zusammenhänge eine wichtige seismographische Funktion haben. Sie arbeitet an den Krisen der Subjekte und ist damit konfrontiert, dass ihnen die Ressourcen fehlen, die sie zu ihrer Bewältigung bräuchten. Die Häufung spezifischer Krisen und Störungsbilder verweist aber über das einzelne Subjekt hinaus und macht es erforderlich, den kulturell-gesellschaftlichen Hintergrund zu beleuchten und zu benennen, der diese Krisen fördert. Die in den letzten Jahrzehnten registrierte Zunahme etwa von Depressionen, Burnouterfahrungen, Borderline- oder Essstörungen sind Beispiele für die Notwendigkeit, neben einer psychodiagnostischen auch eine gesellschaftsdiagnostische Einordnung vorzunehmen. Bei vielen der aktuell bedeutsamer werdenden Störungsbilder handelt es sich um Identitätskrisen, die auf veränderte gesellschaftliche Lebensbedingungen im globalisierten Netzwerkkapitalismus verweisen. Diese stellen Anforderungen an die alltägliche Identitätsarbeit dar, mit denen viele Menschen nicht mehr zu Recht kommen.

Spätmoderne gesellschaftliche Verhältnisse

Im globalisierten Kapitalismus vollziehen sich dramatische Veränderungen auf allen denkbaren Ebenen und in besonderem Maße auch in unseren Lebens- und Innenwelten. Anthony Giddens (2001), einer der wichtigsten sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnostiker, hat folgende Diagnose gestellt: »Die wichtigste der gegenwärtigen globalen Veränderungen betrifft unser Privatleben – Sexualität, Beziehungen, Ehe und Familie. Unsere Einstellungen zu uns selbst und zu der Art und Weise, wie wir Bindungen und Beziehungen mit anderen gestalten, unterliegt überall auf der Welt einer revolutionären Umwälzung. (...) In mancher Hinsicht sind die Veränderungen in diesem Bereich komplizierter und beunruhigender als auf allen anderen Gebieten. (...) Doch dem Strudel der Veränderungen, die unser innerstes Gefühlsleben betreffen, können wir uns nicht entziehen« (S. 69). Globalisierung verändert also den Alltag der Menschen in nachhaltiger Form und damit auch ihre psychischen Befindlichkeiten (vgl. Hantel-Quitmann & Kastner 2004).

Es sind vor allem folgende Erfahrungskomplexe, die mit diesem gesellschaftlichen Strukturwandel verbunden sind und die eine Mischung von Belastungen, Risiken und auch Chancen beinhalten, aber genau in dieser Mischung eine hohe Ambivalenz implizieren:

Diese Alltagserfahrungen werden in den sozialwissenschaftlichen Gegenwartsanalysen aufgegriffen und auf ihre strukturellen Ursachen bezogen. An den aktuellen Gesellschaftsdiagnosen hätte Heraklit seine Freude, der ja alles im Fließen sah. Heute wird uns eine »fluide Gesellschaft« oder die »liquid modernity« (Bauman 2000) zur Kenntnis gebracht, in der alles Statische und Stabile zu verabschieden ist.

Jürgen Habermas hat uns in seinem Büchlein »Die postnationale Konstellation« eine großartige Gegenwartsdiagnose geliefert. Aus ihr will ich nur seine Diagnose eines »Formenwandels sozialer Integration« aufgreifen, der in Folge einer »postnationalen Konstellation« entsteht: »Die Ausweitung von Netzwerken des Waren-, Geld-, Personen- und Nachrichtenverkehrs fördert eine Mobilität, von der eine sprengende Kraft ausgeht« (1998, S. 126). Diese Entwicklung fördert eine »zweideutige Erfahrung«: »die Desintegration haltgebender, im Rückblick autoritärer Abhängigkeiten, die Freisetzung aus gleichermaßen orientierenden und schützenden wie präjudizierenden und gefangennehmenden Verhältnissen. Kurzum, die Entbindung aus einer stärker integrierten Lebenswelt entlässt die Einzelnen in die Ambivalenz wachsender Optionsspielräume. Sie öffnet ihnen die Augen und erhöht zugleich das Risiko, Fehler zu machen. Aber es sind dann wenigstens die eigenen Fehler, aus denen sie etwas lernen können« (ebd., S. 126f.).

Der mächtige neue Kapitalismus, der die Containergestalt des Nationalstaates demontiert hat, greift unmittelbar auch in die Lebensgestaltung der Subjekte ein. Auch die biographischen Ordnungsmuster erfahren eine reale Dekonstruktion. Am deutlichsten wird das in Erfahrungen der Arbeitswelt.

Einer von drei Beschäftigten in den USA hat mit seiner gegenwärtigen Beschäftigung weniger als ein Jahr in seiner aktuellen Firma verbracht. Zwei von drei Beschäftigten sind in ihren aktuellen Jobs weniger als fünf Jahre. Vor 20 Jahren waren in Großbritannien 80% der beruflichen Tätigkeiten vom Typus der 40 zu 40 (eine 40-Stunden-Woche über 40 Berufsjahre hinweg). Heute gehören gerade noch einmal 30% zu diesem Typus und ihr Anteil geht weiter zurück.

Kenneth J. Gergen sieht ohne erkennbare Trauer durch die neue Arbeitswelt den »Tod des Selbst«, jedenfalls jenes Selbst, das sich der heute all überall geforderten »Plastizität« nicht zu fügen vermag. Er sagt: »Es gibt wenig Bedarf für das innengeleitete, ‘one-style-for-all’ Individuum. Solch eine Person ist beschränkt, engstirnig, unflexibel. (...) Wie feiern jetzt das proteische Sein (...) Man muss in Bewegung sein, das Netzwerk ist riesig, die Verpflichtungen sind viele, Erwartungen sind endlos, Optionen all überall und die Zeit ist eine knappe Ware« (2000, S. 104).

Was hier als neuer Menschentypus gefeiert wird, könnte man im Sinne von Robert Lifton (1993) auch ein "proteisches« Selbst nennen. Dabei wird auf die griechische Mythologie zu­rück gegriffen, die den Gott Proteus kennt, der in sich zwar nicht die wahre Bestim­mung findet, Authentizität würden wir das heute nennen, der aber von ei­ner fluiden Offenheit ist und jede beliebige Gestalt annehmen kann. Die neoliberal getönten Narrationen betonen die grenzenlose Plastizität der men­schlichen Psyche und die Steuerungsverantwortung des Ego-Taktikers, der sich endgültig von allen institutionellen Sicherheitsgarantien verabschiedet hat und die Regie über seine Arbeitskraft vollkommen selbst übernommen hat, der »Arbeitskraftunternehmer«. Interessanterweise ist bereits von einer »proteischen Karriere« die Rede (Hall 2002; 2004). Rosina Gasteiger (2007) greift die US-amerikanische Diskussion auf und schreibt: »In dieser Arbeit wird die Metapher des Proteus verwendet, um die zunehmend in der Arbeitswelt geforderte Flexibilität und Anpassungsfähigkeit zum Ausdruck zu bringen. Während sich Berufslaufbahnen traditionell in ein bis zwei Organisationen entwickelten und durch verhältnismäßig hohe Arbeitsplatzsicherheit gekennzeichnet waren, kristallisieren sich gegenwärtig neue, individualisierte Laufbahnformen heraus. Erwerbstätige müssen immer häufiger mit Veränderungen in der Arbeitswelt zurechtkommen. Gleichzeitig verschieben Organisationen die Verantwortung für die Karriereentwicklung immer mehr auf die Arbeitnehmer. Die Herausforderung für den Einzelnen ist dabei, sich nicht nur flexibel auf immer wieder neue Bedingungen einstellen zu können, sondern zugleich die eigene Identität zu wahren und persönliche Werte und Ziele mit der beruflichen Tätigkeit in Einklang zu bringen. Der amerikanische Laufbahnforscher Douglas Hall (1976, 2002) bedient sich in diesem Zusammenhang des Proteus-Mythos der Antike, um zu verdeutlichen, dass berufliche Laufbahnen angesichts der Veränderungen in der Arbeitswelt zunehmend einen proteischen Charakter aufweisen« (S. 15). Die Ambivalenz der Vorlage aus der griechischen Mythologie wird nicht genutzt, um eine solche Entwicklung kritisch zu reflektieren. Sie wird vielmehr zu einer affirmativen Normalität verklärt.

In seinem viel beachteten Buch »Der flexible Mensch« liefert Richard Sennett (1998) eine weniger positiv gestimmte Analyse der gegenwärtigen Veränderungen in der Arbeitswelt. Der »Neue Kapitalismus« überschreitet alle Grenzen, demontiert institutionelle Strukturen, in denen sich für die Beschäftigten Berechenbarkeit, Arbeitsplatzsicherheit und Berufserfahrung sedimentieren konnten. An ihre Stelle ist die Erfahrung einer (1) »Drift« getreten: Von einer »langfristigen Ordnung« zu einem »neuen Regime kurzfristiger Zeit« (S. 26). Und es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie dann überhaupt noch Identifikationen, Loyalitäten und Verpflichtungen auf bestimmte Ziele entstehen sollen. Die fortschreitende (2) Deregulierung: Anstelle fester institutioneller Muster treten netzwerkartige Strukturen. Der flexible Kapitalismus baut Strukturen ab, die auf Langfristigkeit und Dauer angelegt sind. "Netzwerkartige Strukturen sind weniger schwerfällig". An Bedeutung gewinnt die "Stärke schwacher Bindungen", womit zum einen gemeint ist, "dass flüchtige Formen von Gemeinsamkeit den Menschen nützlicher seien als langfristige Verbindungen, zum anderen, dass starke soziale Bindungen wie Loyalität ihre Bedeutung verloren hätten" (S. 28). Die permanent geforderte Flexibilität entzieht (3) »festen Charaktereigenschaften« den Boden und erfordert von den Subjekten die Bereitschaft zum »Vermeiden langfristiger Bindungen« und zur »Hinnahme von Fragmentierung«. Diesem Prozess geht nach Sennett immer mehr ein begreifbarer Zusammenhang verloren. Die Subjekte erfahren das als (4) Deutungsverlust: »Im flexiblen Regime ist das, was zu tun ist, unlesbar geworden« (S. 81). So entsteht der Menschentyp des (5) flexiblen Menschen, der sich permanent fit hält für die Anpassung an neue Marktentwicklungen, der sich nicht zu sehr an Ort und Zeit bindet, um immer neue Gelegenheiten nutzen zu können. Lebenskohärenz ist auf dieser Basis kaum mehr zu gewinnen. Sennett hat erhebliche Zweifel, ob der flexible Mensch menschenmöglich ist. Zumindest kann er sich nicht verorten und binden. Die wachsenden (6) Gemeinschaftssehnsüchte interpretiert er als regressive Bewegung, eine »Mauer gegen eine feindliche Wirtschaftsordnung« hochzuziehen (S. 190). »Eine der unbeabsichtigten Folgen des modernen Kapitalismus ist die Stärkung des Ortes, die Sehnsucht der Menschen nach Verwurzelung in einer Gemeinde. All die emotionalen Bedingungen modernen Arbeitens beleben und verstärken diese Sehnsucht: die Ungewissheiten der Flexibilität; das Fehlen von Vertrauen und Verpflichtung; die Oberflächlichkeit des Teamworks; und vor allem die allgegenwärtige Drohung, ins Nichts zu fallen, nichts ‘aus sich machen zu können’, das Scheitern daran, durch Arbeit eine Identität zu erlangen. All diese Bedingungen treiben die Menschen dazu, woanders nach Bindung und Tiefe zu suchen« (S. 189 f.).

Im Rahmen dieses Deutungsversuchs räumt Sennett dem »Scheitern« oder der mangelnden kommunikativen Bearbeitung des Scheiterns eine zentrale Bedeutung ein: »Das Scheitern ist das große Tabu (...) Das Scheitern ist nicht länger nur eine Aussicht der sehr Armen und Unterprivilegierten; es ist zu einem häufigen Phänomen im Leben auch der Mittelschicht geworden« (S. 159). Dieses Scheitern wird oft nicht verstanden und mit Opfermythen oder mit Feindbildkonstruktionen beantwortet. Aus der Sicht von Sennett kann es nur bewältigt werden, wenn es den Subjekten gelingt, das Gefühl ziellosen inneren Dahintreibens, also die »drift« zu überwinden.

Für wenig geeignet hält er die eine Zeitlang so gerne angebotenen postmodernen Erzählungen. Er zitiert Salman Rushdie als Patchworkpropheten, für den das moderne Ich »ein schwankendes Bauwerk ist, das wir aus Fetzen, Dogmen, Kindheitsverletzungen, Zeitungsartikeln, Zufallsbemerkungen, alten Filmen, kleinen Siegen, Menschen, die wir hassen, und Menschen, die wir lieben, zusammensetzen« (S. 181). Solche Narrationen stellen ideologische Reflexe und kein kritisches Begreifen dar, sie spiegeln »die Erfahrung der Zeit in der modernen Politökonomie«: »Ein nachgiebiges Ich, eine Collage aus Fragmenten, die sich ständig wandelt, sich immer neuen Erfahrungen öffnet - das sind die psychologischen Bedingungen, die der kurzfristigen, ungesicherten Arbeitserfahrung, flexiblen Institutionen, ständigen Risiken entsprechen« (S. 182).

Für Sennett befindet sich eine so bestimmte »Psyche in einem Zustand endlosen Werdens - ein Selbst, das sich nie vollendet« und für ihn folgt daraus, dass es »unter diesen Umständen keine zusammenhängende Lebensgeschichte geben (kann), keinen klärenden Moment, der das ganze erleuchtet« (ebd.). Daraus folgt dann auch eine heftige Kritik an postmodernen Narrationen: »Aber wenn man glaubt, dass die ganze Lebensgeschichte nur aus einer willkürlichen Sammlung von Fragmenten besteht, lässt das wenig Möglichkeiten, das plötzliche Scheitern einer Karriere zu verstehen. Und es bleibt kein Spielraum dafür, die Schwere und den Schmerz des Scheiterns zu ermessen, wenn Scheitern nur ein weiterer Zufall ist« (ebd.).

Also: Die großen Gesellschaftsdiagnostiker der Gegenwart sind sich in ihrem Urteil relativ einig: Die aktuellen gesellschaftlichen Umbrüche gehen ans »Eingemachte« in der Ökonomie, in der Gesellschaft, in der Kultur, in den privaten Welten und auch an die Identität der Subjekte und das hat auch Konsequenzen für Bildungsprozesse. In Frage stehen zentrale Grundprämissen der hinter uns liegenden gesellschaftlichen Epoche. Diese Grundannahmen hatten sich zu Selbstverständlichkeiten in unseren Köpfen verdichtet.

Die benannten Erfahrungskomplexe an der Nahtstelle von den Subjekten und der Gesellschaft zeigen, wie stark sich der Turbokapitalismus in unseren Lebenswelten, in Menschenbildern und in Ideologie schon verankert hat. Deshalb sehen wir schon oft gar keine Alternativen und arrangieren uns mit dem scheinbar naturhaften Ablauf der Dinge. Und genau in dieser Mischung von »innerer Kolonisierung« und dem fatalistischen Arrangement mit der Unabwendbarkeit der gesellschaftlichen Abläufe werden wir immer wieder auch zu Komplizen des Status quo und verlieren die Hoffnung, dass es auch sein könnte, dass man etwas gegen die Verhältnisse unternehmen könnte und dass Utopien motivierende Handlungsqualitäten haben können.

Wenn wir diese Spur weiterverfolgen wollen, dann reicht es offensichtlich nicht, nur über »psychohygienische« und psychotherapeutische Wege zu reden, so wichtig sie sind, wenn Menschen schwere psychische Probleme haben. Es ist notwendig, den gesellschaftlichen Rahmen mit in den Blick zu nehmen und danach zu fragen, wie er einerseits den einzelnen Menschen mit Erwartungen und Ansprüchen fordert und zunehmend überfordert und andererseits die »vereinzelten Einzelnen« damit alleine lässt. Hier ist keine strategische Böswilligkeit zu unterstellen, sondern da ist eher ein Auto auf rasanter Fahrt, in dem zwar ständig das Gaspedal gedrückt wird, aber ein Bremspedal scheint es nicht zu geben. Wir haben es mit einer tiefen Krise im gesellschaftlichen Selbstverständnis zu tun, das sich nicht einmal mehr über unterschiedliche mögliche Zielvorstellungen streitet, sondern einfach keine mehr hat. Es gibt kaum eine Idee über den Tag hinaus und auf allen Ebenen sehen wir das, was Christopher Lasch (1984) in seiner Diagnose vom »Minimal self« schon Mitte der 80er Jahre festgestellt hatte.

Jürgen Habermas (1985) meinte in seiner Analyse in der gleichen Zeit, uns seien die »utopischen Energien« ausgegangen, ganz präzise zitiert, ist bei ihm von der »Erschöpfung der utopischen Energien« die Rede. In allen gesellschaftlichen Bereichen, in der Politik, in der Wirtschaft und zunehmend auch in den privaten Welten geht es ums »Überleben«, ums »Durchhalten«, darum den Tag, die Legislaturperiode oder den nächsten Quartalsbericht zu überstehen. Die mangelnde Zielorientierung verbirgt sich, ohne sich wirklich verstecken zu können, hinter phrasenhaft verwendeten Begriffen wie »Reform«, »Vision« oder »Leitbild«. In hektischer Betriebsamkeit wird jeden Tag die Lösung des Vortags verworfen und wie in einem Hamsterrad wird die gleiche Inszenierung noch einmal aufgelegt, aber wieder wird sie als »Reform«, »Vision« oder »Leitbild« verkauft. Keiner glaubt mehr dran, es ist eine Art kollektiver »Wiederholungszwang« oder eine »manische« Verleugnung der Ziel- und Aussichtslosigkeit. Hier zeichnet sich eine Gesamtsituation ab, die man mit dem Begriff »erschöpfte Gesellschaft« überschreiben könnte.

Wo finden wir hilfreiche Angebote, die uns Wege aus der erschöpften Gesellschaft weisen könnten, die Zukunftsfähigkeit versprechen? Da finde ich es erstmal hilfreich, dass wir so etwas wie eine »Trendforschung« haben, die sich - für gutes Geld – nicht scheut, ihren Blick auf hoffnungsvolle Zukunftsmärkte zu richten. Unter dem Titel »Future Values« gibt es etwa eine Publikation von Heiner Barz und einem Team des Heidelberger Instituts GIM. In diesem Buch wird u. a. mit der »Futurität« eine Schlüsselqualifikation für das begonnene Jahrhundert die »Zukunftskompetenz« als »überlebensnotwendig« eingeführt und so charakterisiert: »Innovationsbereitschaft und ein fortwährendes Navigieren und Neupositionieren wird für Individuen wie Organisationen, für das Selbstmanagement wie das Produktmarketing unverzichtbar« (ebd., S. 24). Und wer es noch nicht mitbekommen hat, dem sei es ausdrücklich versichert: Es geht um die Überlebensnotwendigkeit, wenn es um »den Besitz von ‚Future Tools’ als Accessoires eines zukunftsorientierten Lebensstils« geht und »der immer neue Beweis der eigenen ‚Updatability’ gewinn[t] an Bedeutung« (ebd.). Ist das eine Vision oder beschreibt es erst einmal nur den Zeitgeist der Multioptionsgesellschaft, mehr Ideologie als gelebte Realität?

Wie wir spätestens seit Wittgenstein wissen, transportieren wir mit unseren Sprachspielen mehr als nur Wörter, wir konstruieren immer auch Weltbilder, also Bilder unserer Welt. Und ich bin mir relativ sicher, dass es mir zwar um Zukunftskompetenz geht, aber nicht nur in der Reproduktion des »Trendigen«, sondern auch in der Entwicklung von Widerständigkeit und Eigensinnigkeit. Für den Erwerb von Zukunftsfähigkeit ist die Analyse von gesellschaftlichen Trends zwar wichtig, aber nicht um an ihrer kräuselnden Oberfläche zu besonders fitten Schnäppchenjägern zu werden und damit dem Erschöpfungskreislauf selbst zuzuarbeiten, sondern um diesen aufzubrechen.

Wir brauchen eine kritische Auseinandersetzung mit dem neoliberalen Menschenbild des »modularen Menschen«, der mit seiner IKEA-Identität ein »Wesen mit mobilen, disponiblen und austauschbaren Qualitäten darstellt« (Bauman 1999, S. 158). Oft genug aus der Angst heraus, nicht »dabei zu sein«, passt er sich in seinen Lebensformen der unaufhaltsamen Beschleunigungsdynamik an. Aber der gesellschaftliche und berufliche Fitness-Parcours hat kein erreichbares Maß, ein Ziel, an dem man ankommen kann, sondern es ist eine nach oben offene Skala, jeder Rekord kann immer noch gesteigert werden. Hier ist trotz Wellness-Industrie keine Chance, eine Ökologie der eigenen Ressourcen zu betreiben, sondern in einem unaufhaltsamen Steigerungszirkel läuft alles auf Scheitern und einen Erschöpfungszustand zu.

Wir brauchen eine »Kultur des Scheiterns«, weil Scheitern vermehrt zu unserer Erfahrung gehört, weil Scheitern die Basis für Lernprozesse ist, weil Scheitern die Chance zum Neuanfang enthält und weil Scheitern ein Tabu ist. Unsere Kultur wird zunehmend eine »Winner«-Kultur, sie will vor allem Sieger- und Erfolgsgeschichten hören und sie verdrängt die andere Seite der Medaille. Notwendig sind Trauerarbeit und Empowerment. Empowerment heißt, die eigenen Ressourcen und Kräfte wahr- und ernst zu nehmen. Dies heißt auch, sich von den dominierenden ideologischen Menschenbildvorgaben des neoliberalen Herrschaftsmodells ebenso zu befreien wie von der Hoffnung auf eine obrigkeitliche Lösung.

Welche Aufgaben kann psychosoziale Praxis bei einer solchen Zielvorstellung übernehmen?

  1. Subjekte einer individualisierten und globalisierten Netzwerkgesellschaft können in ihren Identitätsentwürfen nicht mehr problemlos auf kulturell abgesicherte biographische Schnittmuster zurückgreifen. In diesem Prozess stecken ungeheure Potentiale für selbstbestimmte Gestaltungsräume, aber auch die leidvolle Erfahrung des Scheiterns. Psychotherapie kann für Subjekte ein hilfreiches Angebot sein, sich in diesen gesellschaftlichen Umbruchprozessen Unterstützung bei einer Neuorientierung, Reflexion und Selbstorganisation zu holen, sie kann aber auch »Trainingslager« für Fitness im Netzwerkkapitalismus liefern. Sie stellt einen Rahmen der »inneren Modernisierung« dar, aber die Frage, was in diesem Rahmen Emanzipation oder Affirmation sein kann, bleibt auf der Tagesordnung.

  2. Psychotherapie kann und soll Gesellschaftsdiagnostik betreiben und diese im öffentlichen Raum kommunizieren: Die in den privatisierten und individualisierten Problem- und Leidenszuständen der Subjekte enthaltenen gesellschaftlichen Hintergründe kann man entschlüsseln und sichtbar machen. Dies ist auch die Voraussetzung für sinnvolle Projekte der Prävention und Gesundheitsförderung.

  3. Ich sehe für die Psychotherapie die Notwendigkeit, ihr Rollenverständnis nicht auf eine operative Dienstleistung reduzieren zu lassen. Sie benötigt eine Vorstellung davon, für welche Gesellschaft sie mit ihren Kompetenzen einsteht. Will sie Individuen anpassungsfähiger und –bereiter machen und will sie deren Fitness steigern oder seine »Widerstandsressourcen« (Antonovsky 1997) oder Resilienz fördern, die Distanz und Handlungsfähigkeit gegen die normativen Imperative des »unternehmerischen Selbst« (Bröckling 2007) ermöglichen.

  4. Die Psychotherapie benötigt eine kritische Reflexion ihrer eigenen Menschenbildannahmen. Eine Reihe psychotherapeutischer Technologien verdanken sich der Ideologie des Neoliberalismus, sie setzen auf ein Selbstoptimierungsschema, das den einzelnen zum Dreh- und Angelpunkt von Selbstinszenierung und Selbstverantwortung macht. Einer ideologisch-theoretischen »Entbettung« des Subjektes folgt meist eine therapeutisch-praktische. Es wäre den unterschiedlichen psychotherapeutischen Schulen ein Menschenbild zu wünschen, wie es in der Ottawa Charta (Weltgesundheitsorganisation 1986) formuliert wurde: »Gesundheit wird von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt: dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben. Gesundheit entsteht dadurch, dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist, selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben sowie dadurch, dass die Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die all ihren Bürgern Gesundheit ermöglichen«.

  5. Lange Zeit haben die westlichen Industriegesellschaften dem Thema sozialer Ungleichheit im Zugang zu psychosozialen Ressourcen keine große Beachtung mehr geschenkt, obwohl die Ergebnisse der Forschung keinen Anlass boten, die frühere Relevanz dieser Fragestellung aus dem Blickfeld zu verlieren. In den 70er und 80er Jahren wurde die Notwendigkeit gemeindepsychiatri­scher Reformmaßnahmen und einer Verbesserung der psychotherapeutischen Basisversorgung unter anderem mit folgender dramatischen Scherenentwicklung begründet: Einerseits häuften sich die Befunde, dass psychisches Leid in hohem Maße mit gesellschaftlicher Ungleichheit korre­liert ist, also Angehörige der unterprivilegierten sozialen Schichten die höchsten Störungsraten aufweisen; andererseits entwickelte sich ein ge­waltiges psychotherapeutisches Angebot, von dem offensichtlich genau die Menschen am wenigsten profitierten, die das höchste Störungsrisiko zu tragen haben. Die verfügbaren sozialepidemiologischen Daten konnten diese Einschätzung beweiskräftig untermauern. Ist das Thema soziale Ungleichheit aus dem fachlichen Aufmerksamkeitszentrum ver­schwunden, weil soziale Unterschiede an Bedeutung verloren haben und allmählich die "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" ent­standen ist, die schon von einigen konservativen Ideologen in den 50er Jahren verkündet worden war? Empirisch spricht für diese Deutung nichts. Plausibler dürfte die Erklärung sein, dass die Psychotherapie in ih­rem Auf­merksamkeitsverlust für kollektive Lebenslagen in beson­derem Maße an der Erosion kollektiver Erfahrungs-, Wahrneh­mungs- und Erlebnisweisen teil hat, die auf die weitreichenden ge­sellschaftlichen Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse zu­rückzuführen sind. In diesen Prozessen wird nicht der objektiv un­gleiche Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen aufgeho­ben, aber das gesellschaftliche Bewusstsein für diese Ungleichheit verändert sich. Diese individualisierende Verkürzung steht im Widerspruch zu einer wachsenden Ungleichheitsverteilung der materiellen Güter im globalisierten Kapitalismus und wir haben eindrucksvolle Belege für deren gesundheitspolitische Relevanz. Menschen, die in relativer Armut aufwachsen, haben in Bezug auf alle uns verfügbaren Gesundheitsindikatoren schlechtere Chancen. Es kommt noch eine weitere Dimension hinzu: Gesellschaften, in denen die Schere zwischen arm und reich besonders groß ist und insofern die Erwartung einer gerechten Verteilung der vorhandenen Ressourcen immer weniger erfüllt wird, haben epidemiologisch nachgewiesen die höchsten Morbiditätsraten (vgl. das eindrucksvolle Buch von Wilkinson 2001).

  6. Es mag in manchen Ohren altmodisch klingen, aber ich halte diese Einordnung aus: Es sollte immer noch die Förderung von Emanzipation und Aufklärung Ziel unserer Aktivitäten sein. Das ließe sich philosophisch mit Kant begründen, dann würden wir von dem »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« sprechen. Etwas handhabbarer ist das aktuelle Konzept der »Verwirklichungschancen« oder »Capabilities« wie es von dem Nobelpreisträger Amartya Sen und seiner Lebenspartnerin Martha Nussbaum entwickelt worden ist. Amartya Sen (2000) knüpft mit seinem Konzept der »Verwirklichungschancen« einerseits an der Idee der Freiheit und an den gesellschaftlichen Bedingungen an, die zur Realisierung von eigenen Lebensvorstellungen erforderlich sind. Unter Verwirklichungschancen versteht er die Möglichkeit von Menschen, »bestimmte Dinge zu tun und über die Freiheit zu verfügen, ein von ihnen mit Gründen für erstrebenswert gehaltenes Leben zu führen« (S. 108); an anderer Stelle bestimmt er sie als »Ausdrucksformen der Freiheit: nämlich der substantiellen Freiheit, alternative Kombinationen von Funktionen zu verwirklichen (oder, weniger formell ausgedrückt, der Freiheit, unterschiedliche Lebensstile zu realisieren)« (S. 95). Der Ökonom Sen betont die Bedeutung materieller Grundvoraussetzungen als Verwirklichungschance, aber es kommen weitere Ressourcen hinzu, nicht zuletzt auch das, was Kant mit seiner »Empowerment«-Aussage angesprochen hat: »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« Ist das nicht auch ein Appell für uns Psychofachleute?

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Über den Autor

Heiner Keupp

Heiner Keupp, Prof. Dr., Dipl.-Psych., von 1978–2008 Hochschullehrer für Sozial- und Gemeindepsychologie an der Universität München; seit 2001 Gastprofessur an der Universität Bozen. Arbeitsschwerpunkte: Reflexive Sozialpsychologie; soziale Netzwerke; Identitätsforschung; Gesundheitsförderung bei Kindern und Jugendlichen; sexualisierte Gewalt in kirchlichen und pädagogischen Institutionen.

Prof. Dr. Heiner Keupp Ringhofferstraße 34 D-85716 Unterschleißheim

E-Mail: heinerkeupp@psy.lmu.de