Einfall der Professionalität

Teilnehmende Beobachtungen in einer sozialpsychiatrischen Tagesstätte

Tom David Uhlig

Zusammenfassung

Mit der Transformation der Psychiatrie zur gemeindenahen, dezentralisierten Versorgung sollte es gelingen die Patient_innen in ein institutionelles Netz einzuhegen, welches es ihnen erlaubt, sich in den beruflichen wie sozialen Alltag einzugliedern. Der – nicht zuletzt ökonomisch motivierte – Anspruch, Drehtürpatient_innen zu vermeiden, welche die Kapazitäten der verwahrenden Anstalt belasteten, führte zu einer Diversifizierung des Angebots: Betreute Wohneinrichtungen, Tageskliniken mit ambulanter Versorgung, Werk- und Tagesstätte etablierten sich als Komplemente der stationären Behandlung. Das Erkenntnisinteresse des vorliegenden Artikels richtet sich auf den Alltag in diesen sozialpsychiatrischen Einrichtungen. Entlang einer ethnographischen Untersuchung wird nach der Bedeutung von Arbeit und Sozialbeziehungen innerhalb einer sozialpsychiatrischen Tagesstätte gefragt, wobei zweierlei Aporien betreffend dieser Teilaspekte diskutiert werden: Zum einen reibt sich das Arbeitsverständnis der in der Tagesstätte an einem gesellschaftlichen Arbeitsbegriff, welcher die Reproduktions- von der Produktionssphäre abzuspalten trachtet, und zum anderen kollidiert die von der Sogkraft des geteilten Alltags hergestellte Nähe von Klient_innen und Mitarbeiter_innen mit einer Anrufung zur Professionalität, welches in die Sozialbeziehungen einfällt.

Schüsselwörter: Ethnographie, Sozialpsychiatrie, Tagesstätte für psychisch Kranke, Aporien sozialpsychiatrischer Arbeit

Summary

Intrusion of Profession

Participatory Research in Mental Health Day Care

Given the transformation of the psychiatric system towards a community-based, decentralized care, it’s objective is to entangle patients in an institutional network, hereby allowing them to (re‑)built a social and everyday professional life. The claim to avoid »revolving door patients« [who/that are] stressing the institutions’ capacities – not least motivated by economic reasons – led to a diversification of supply: assisted living facilities, (ambulatory) day clinics and educational workshops became an integral part of in-patient treatments. In this article, my interest focuses on everyday life at these social-psychiatric facilities. Based on ethnographic studies, questions regarding the meaning of work and social relations within a social-psychiatric day clinic will be risen. Two aporias open up in this context and will be discussed primarily: First of all, the understanding of work within the day clinic differs from society-wide understandings attempting to split up productional and reproductional spheres. Secondly, (emotional) closeness between clients and employees caused by shared everyday experiences collides with the ideal of professionalism which happens to intrude into their social relations.

Keywords: Ethnography, Social Psychiatry, Day care for the mentally ill, Aporias of Social Psychiatry

1. Erforschung der Psychiatrie: Zwischen einer Soziologie der Praktiken und einer Psychologie des Alltags.

Ende der 1970er Jahre unterbreitete der Schriftsteller und Philosoph Jean Pierre Faye den Vorschlag, psychiatrische Anstalten »nicht nur als Unterdrückungsapparate zu definieren, sondern als optische Apparate, durch die hindurch man auf den sozialen Apparat in seiner Gesamtheit blickt.« (Faye 1979, S. 7) Als eine Art Brennglas soll die Institution Psychiatrie den Blick für gesamtgesellschaftliche Verhältnisse schärfen, sichtbar machen, was sonst unüberschaubar bleibt. Tatsächlich scheint die Geschichte der Psychiatrie und des Umgangs mit psychischer Krankheit mit dem Fortgang gesellschaftlicher Entwicklungen Schritt zu halten: Von der Vertreibung »Aussätziger« in ständischen Gesellschaften, den disziplinarischen workhouses Großbritanniens während der Frühindustrialisierung über die Verwissenschaftlichung der Psychiatrie im Zuge der europäischen Aufklärung zum rehabilitativen Ansatz im Fordismus und Postfordismus verweist die institutionelle Behandlung psychischer Devianz auf die soziale Verfasstheit der Gesellschaft, vor allem auf deren Beziehung zur Arbeit. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass die Psychiatrie nicht nur als Abbild der Verhältnisse diese widerspiegelt, sondern gleichsam prägt, in einer lebendigen dialektischen Beziehung mit ihnen steht. Insbesondere seit Etablierung eines wissenschaftlichen psychiatrischen Diskurses im 19. Jahrhundert wirkt die Institution über ihre materiellen Grenzen hinaus subjektivierend. So sind etwa moderne Formen reflexiven Bewusstseins ohne die psychoanalytische Auffassung des Konfliktmodells und der Einsicht in die Dynamik des Unbewussten kaum denkbar.[1] Wie aber vollzieht sich die Subjektivierung innerhalb der Institution? Welche Praktiken und szenischen Arrangements gestalten den Anstaltsalltag? Welche Wirkung entfaltet dieses Alltagshandeln auf das Leben der Patient_innen, Psychiater_innen und Pfleger_innen?

Die Beantwortung dieser Fragen bedarf der steten historischen Situierung. Ihr Zeitkern, der in der Wandelbarkeit der Psychiatrie gründet, macht es notwendig, sie immer wieder aufs Neue zu stellen und dabei sowohl Veränderungen als auch Kontinuitäten der Psychiatrie in den Blick zu nehmen. Um dieser doppelten Anforderung gerecht zu werden bietet es sich an, auf unterschiedliche Methoden beziehungsweise Erkenntnisse, die mit unterschiedlichen Methoden gewonnen wurden, zurückzugreifen. In der Frankfurter Arbeitsgemeinschaft Psychiatrieforschung haben wir uns damit beschäftigt, diskursanalytische wie ethnographische Studien zur Psychiatrie zueinander ins Verhältnis zu setzen. Maßgeblich schienen uns dabei die Arbeiten Michel Foucaults und Erving Goffmans zu sein. Während ersterer über die historische Analyse von Aussagesystemen und institutionellen Anordnungen die gesellschaftliche Bedeutung psychiatrischen Wissens diskutiert, fokussiert letzterer in seiner wegweisenden Studie Asyle (Goffman 1973 [1961]) mit ethnographischen Mitteln das Alltagsleben in Psychiatrien, um daraus Merkmale »totaler Institutionen« zu gewinnen. Gleich die Methode den Gegenstand, welchen sie untersuchen soll, erst hervorbringt, die beiden Ansätze also nicht einfach das gleiche Phänomen aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten, konvergieren sie an bestimmten Punkten. Reckwitz (2008) stellt diesbezüglich fest: »Die Forschungspraxis der Praxeologie nimmt selbst – ob sie will oder nicht – Züge einer Analyse von historischen Dokumenten an, die sie in die Nähe der Diskursanalyse [...] bringt. Umgekehrt gilt: Jene der Diskurstheorie strebt selber auf die Seite der Analyse sozialer Praktiken, eines ›Kontextes‹ jenseits des ›Textes‹ hin.« (Ebd., S. 200). Leerstellen, welche sowohl eine praxeologisch-ethnographische als auch eine diskursanalytische Forschung notwendig offen lassen, verweisen auf den jeweils anderen Ansatz, können von diesem teilweise ausgeleuchtet werden. In diesem Sinne schlägt Reckwitz einen »praxeologischen-kulturtheoretischen« (vgl. ebd., S. 202) Ansatz vor, der das Wissen, welches bestimmte Interaktionen, Praktiken und Anordnungen im untersuchten Feld prägt, als diskursanalytisch entschlüsselbar historisch verortet. Dabei gilt jedoch, der Grenzen, die eine diskursanalytische Untersuchung von Wissen, welche die Akteur_innen im Feld zum Handeln befähigt, gewahr zu bleiben. Das Agieren im Feld ist maßgeblich von implizitem Wissen (tacit knowledge) geprägt, welches sich der Versprachlichung entzieht, somit diskursanalytisch nicht einzuholen ist, jedoch wiederum über die Analyse von Alltagspraxis rekonstruiert werden kann.[2>]

Den unauflösbaren Zusammenhang gesellschaftlicher Strukturen und individualpsychischer Verfasstheit sieht Stefan Thomas im Lewinschen Begriff der »psychischen Situation« (vgl. Thomas 2009, S. 7ff.) verdichtet: »Die psychische Situation konstituiert sich genau im Schnittfeld zwischen außerweltlichem Handlungsfeld, das seine eigene Strukturbestimmungen als Teil der Sozialwelt aufweist, und psychischem Wirklichkeitsfeld, wie dieses innerpsychisch repräsentiert ist.« (ebd., S. 8) In der Untersuchung der psychischen Situation soll die privatistische Verklärung innerpsychischer Aspekte wie Erfahrung und Intentionalität aufgehoben werden, indem ihr konstitutiver Außenbezug betont wird. Subjektive Wirklichkeit verweist notwendig auf einen Ort außerhalb des Subjekts, der von den sozialen Verhältnissen vorstrukturiert ist. Die Forschenden im Feld wirft dieser Umstand auf ein besonderes epistemologisches Problem: Wenn in der psychischen Situation die soziale Realität sich vom Standpunkt des Subjekts darbietet, wird der Standpunkt der Forschenden zum privilegierten Erkenntnisinstrument der Erfahrung des psychischen »Niederschlags« objektiver sozialer Strukturen. Um also Aussagen über soziale Strukturen und deren subjektivierende Wirkung zu treffen, empfiehlt es sich, im Feld eine reflexive Haltung einzunehmen, also die eigenen Wahrnehmungen, Gefühle und Intentionen als Erkenntnisgegenstand aufzufassen. Dem Zusammenfallen von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt dieser reflexiven Sozialforschung lässt sich in der ethnographischen Feldforschung methodisch begegnen, indem die Verschriftlichung der Erfahrung von Forschenden im Feld einer weiteren interpretativen Analyse unterzogen wird: Feldnotizen sind – einmal zu Papier gebracht – von den Forschenden gewissermaßen abgespalten und beispielsweise inhaltsanalytisch untersuchbar. Erkenntnisobjekt ist nun nicht mehr die Institution »an sich«, sondern die Aufzeichnungen, welche in und über die Institution gefertigt wurden. Ein solches Vorgehen erfordert eine disziplinierte Arbeitsweise, die in der fortwährenden schriftlichen Fixierung von (Selbst‑)Beobachtungen besteht, und deren Erkenntnisgewinn zwischen einer Soziologie der Praktiken und einer Psychologie des Alltags liegt.

Der Versuch, die alltäglichen Praktiken in der Psychiatrie auf ihre Bedeutung zu befragen und dabei nicht ihre diskursive Situiertheit aus den Augen zu verlieren, war der empirische Anspruch der AG Psychiatrieforschung. Die Wahl der Einrichtung, deren teilnehmender Beobachtung die vorliegende Arbeit zugrunde liegt, fiel auf eine sozialpsychiatrische Tagesstätte in einer deutschen Großstadt.[3]Drei Monate lang durfte ich als Praktikant an dem Leben und der Arbeit in der Tagesstätte teilnehmen, meine Beobachtungen schriftlich festhalten sowie fünf Interviews mit Klient_innen der Tagesstätte führen. Die dadurch gewonnenen Feldnotizen, Interviewtranskripte und Materialien der Tagesstätte und ihres Trägers bilden den Datencorpus, dessen inhaltsanalytische Auswertung (Mayring 2010; 2015) die hier vorgestellten Ergebnisse zugrunde liegen. Eine »offene« Einrichtung, die von den KlientInnen freiwillig halbtags aufgesucht werden kann, zu wählen, entsprach dabei dem Vorhaben der AG Psychiatrieforschung, die historische Transformation der zeitgenössischen Psychiatrie zu untersuchen: Intensiviert durch die antipsychiatrische Kritik seit den 1960er Jahren (vgl. z. B. Basaglia (Hg.) 1973 [1968]; Bopp 1980) wandelte sich das Erscheinungsbild der Psychiatrie von der kustodischen, also verwahrenden Anstalt zur dezentralen Versorgung. Die Reform der Institution folgte maßgeblich der Einsicht in den malignen Krankheitsverlauf bei dauerhafter Hospitalisierung. Im Vordergrund stand die Zielsetzung, sogenannte Drehtürpatient_innen (revolving door patients) zu vermeiden sowie die Bettenanzahl und damit die ökonomische Belastung der stationären Ambulanzen zu verringern. Zunehmend wurde die traditionelle psychiatrische und therapeutische Versorgung um Angebote sozialarbeiterischer Betreuung ergänzt. Die Unterbringung und Versorgung von Patient_innen sollte sektorialisiert werden, also verstärkt innerhalb der Gemeinden durch ein Netz von Institutionen erfolgen: Möglichkeiten betreuten Wohnens, Beratungsstellen, psychiatrischer Institutsambulanzen, Tageskliniken und Tagesstätten sowie besondere Arbeitsangebote wie Werkstätten wurden ausgebaut. Auf wissenschaftlicher Ebene war dieser institutionelle Umbruch von einem Paradigmenwechsel begleitet, welcher sich seit den 1970er Jahren durchsetzen konnte und verstärkt die »biopsychosozialen« Krankheitsursachen in den Blick nahm (vgl. Ehrenberg 2008, S. 139). Die neu etablierten sozialpsychiatrischen Institutionen verfolgten einen rehabilitativen Ansatz, der den Patient_innen – welche im Sprachgebrauch nun oftmals als Klient_innen tituliert wurden, um ihre Mündigkeit zu unterstreichen – den (Wieder‑)Einstieg in das berufliche und soziale Leben erleichtern sollten. Die Eingliederung in den beruflichen wie gesellschaftlichen Alltag zu erleichtern ist auch die selbsterklärte Absicht der hier untersuchten Tagesstätte und ihres Trägers. Indem der Tagesablauf der Klient_innen von den Angeboten der Tagesstätte strukturiert wird, sollen die Besucher_innen sich an ein geregeltes Leben gewöhnen und Möglichkeiten der sozialen Teilhabe aufgezeigt bekommen.

Die nachfolgende Ergebnisdarstellung der empirischen Untersuchung konzentriert sich auf die Bedeutung der Arbeit (2) und der Sozialbeziehungen (3) in der Tagesstätte. Damit folgt sie sowohl der Aufgabenstellung der Institution als auch der Relevanzstruktur der ausgewerteten Feldnotizen und Interviews. Notwendigerweise bleiben hierbei wichtige Aspekte der Untersuchung wie etwa die Funktion von Medikamenten im Alltag der Tagesstätte oder die subjektiven Krankheitstheorien der Klient_innen unberücksichtigt.[4] Auch werde ich mich einer genauen Beschreibung des institutionellen Rahmens enthalten. Ziel ist es, einen Problemzusammenhang, welcher m. E. zeit meiner Untersuchung alltagsbestimmend in der Tagesstätte war, in hinreichender Gründlichkeit darzulegen: die in der Tagesstätte szenisch vermittelte scheinbare Authentizität des Beziehungsbündnisses zwischen Mitarbeiter_innen[5] und Klient_innen und ihre Decouvrierung durch den »Einfall der Professionalität«.

2. Arbeit in der Tagesstätte

Die überwiegende Mehrheit der rund 30 Klient_innen, welche die Tagesstätte regelmäßig besuchten, rechnete sich wenig Chancen auf dem Ersten Arbeitsmarkt aus und längst nicht alle strebten einen Arbeitsplatz auf dem Zweiten an. Vergangene Misserfolge, Frühberentungen oder ein Gefühl der Insuffizienz führten teilweise zu einer resignativen Stimmung bezüglich der beruflichen Rehabilitation. So berichtete ein Klient, er würde zwar gerne wieder berufstätig sein, allerdings habe er errechnet, dass ein Minijob mit einer signifikanten Minderung seiner Arbeitslosenbezüge einhergehen würde. Aus finanziellen Erwägungen habe er sich demnach gegen die Belastung einer Lohnarbeit entschieden. Ein anderer Klient erzählte davon, nach seinem ersten Klinikaufenthalt wieder seinen vorherigen Beruf zu ergreifen. Er sei jedoch vor allem eine Belastung für seine Mitarbeiter gewesen und hoffe nun, dass sein Antrag auf Frühberentung verlängert werde. Weiter gab es einen hochqualifizierten Klienten, der in einem naturwissenschaftlichen Fach promoviert und nun mit den Schwierigkeiten einer großen Lücke im Lebenslauf zu kämpfen hatte. Eine Arbeit auf dem Zweiten Arbeitsmarkt zu ergreifen kam für ihn aber aufgrund seiner hervorragenden Ausbildung nicht in Betracht. Wieder ein anderer Klient erhoffte sich eine Anstellung im Bereich der Gebäudesicherung, die schweren Symptome seiner Schizophrenie sowie die Nebenwirkung seiner pharmakologischen Behandlung ließen jedoch eine Anstellung nach seinen Erwartungen unwahrscheinlich werden. Einige Klient_innen arbeiteten in Minijobs, zumeist um ihre staatliche Grundsicherung aufzustocken. So übten eine Klientin als Reinigungskraft und ein Klient in einem Getränkemarkt eine geringfügige Beschäftigung aus. Eine weitere Klientin arbeitete einmal die Woche ehrenamtlich in einer wohltätigen Einrichtung. Die Tätigkeit helfe ihr dabei, soziale Beziehungen außerhalb der Tagesstätte zu knüpfen. Außerdem leistete ein Klient, nachdem er wegen wiederholtem Schwarzfahren gerichtlich belangt wurde, Sozialstunden auf einem Abenteuerspielplatz ab. Auch wenn ihm die Tätigkeit dort gefiel, führte sie zu einer merklichen körperlichen Belastung des Klienten. In dieser Zeit kam es häufiger vor, dass der Klient in der Tagesstätte einschlief oder andere Zeichen von Erschöpfung zeigte.

Trotz dieser eingeschränkten Berufsaussichten wurden Angebote der Tagesstätte, welche explizit der beruflichen Rehabilitation dienten, regelmäßig genutzt. In der Gruppe zum beruflichen Training, deren Leitung mit oftmals übertragen wurde, fanden sich im Durchschnitt wöchentlich etwa acht Klient_innen ein, von denen jedoch zumeist die Mehrzahl keinen Beruf (mehr) anstrebte. Die Gruppe hatte so häufig einen unausgesprochenen dilemmatischen Charakter: Anhand von Materialien wurde das richtige Auftreten bei einem Bewerbungsgespräch oder das Verhalten gegenüber negativem Feedback von Vorgesetzten erarbeitet, wobei es bei vielen Anwesenden unwahrscheinlich war, sich jemals (wieder) in einer dieser Situationen zu befinden. Zudem hatte ich selbst zum Zeitpunkt meines Aufenthalts selbst kaum Berufserfahrung, was jedoch – in einer für mich befremdlichen Weise – die Wahrnehmung meiner fachlichen Autorität kaum minderte.

Im Unterschied zur historischen Beobachtung Foucaults (1973 [1961]), ein transzendenter Arbeitsbegriff sei in der Psychiatrie historisch an die Korrektur willentlicher Verfehlung geknüpft (vgl. ebd., S. 89.), lag der Arbeitsauffassung der Institution Tagesstätte eher die Annahme zugrunde, die Klient_innen seien derzeit nicht befähigt eine Arbeit zu ergreifen: Es handele sich also mehr um ein Problem des Könnens, als des Wollens. Der Aufenthalt in der Tagesstätte sollte der Rekonvaleszenz von dieser Kondition dienen, die Klient_innen mit den praktischen Fähigkeiten ausstatten, eine Arbeit zu ergreifen. Demnach war der Arbeitsbegriff in der Tagesstätte weniger moralisch konnotiert als in den von Foucault beschriebenen psychiatrischen Anstalten zur Zeit der Klassik. Allerdings wurde das Problem, keine Arbeit ergreifen zu können ebenso tendenziell individualisiert, den beschränkten Möglichkeiten der einzelnen und nicht etwa strukturellen Missständen zugeschrieben. Diese Verlagerung ins Individuum ist wiederum durchaus anschlussfähig an moralisierende und eben pathologisierende Diskurse.

Vor dem Hintergrund mangelnder beruflichen Perspektiven einiger Klient_innen drängt sich die Frage auf, inwieweit die Tagesstätte ihrem Selbstanspruch nach beruflicher Rehabilitation gerecht wird. Hier wäre einerseits auf das Engagement der Mitarbeiter_Innen, insbesondere in ihrer Funktion als Bezugsbetreuerinnen, zu verweisen. In Einzelgesprächen, gemeinsamen Gängen zum Arbeitsamt oder der Unterstützung bei Bewerbungsschreiben bemühten sich die Mitarbeiter_innen, Klient_innen zu unterstützen, welche eine Lohnarbeit anstrebten. Andererseits stellt darüber hinaus die Alltagspraxis in der Tagesstätte einen bestimmten normativen Begriff von Arbeit selbst in Frage: Die angestrebte Rehabilitation in die Arbeitswelt reibt sich fortwährend an einem Arbeitsbegriff, welcher die Reproduktionssphäre von der Produktionssphäre abspaltet, also die »reproduktive« Haus- und Beziehungsarbeit von der »produktiven« Erwerbsarbeit trennt. Der Interessenschwerpunkt vieler KlientInnen schien eher auf ersterer zu liegen und damit »lebenspraktische« Tätigkeiten zu fokussieren, welche oftmals im Privaten beeinträchtigt waren. So war zum Beispiel die Bewältigung der eigenen Haushaltsführung ein wiederkehrendes Thema von Klient_innen. Dabei war das Scheitern der häuslichen Ordnung sowohl in Gesprächen in der Tagesstätte als auch in den biographischen Erzählungen während der Interviews oftmals ein Indikator für die Verschlechterung psychischer Symptome. Der Zusammenbruch des Haushalts zeigte für die Klient_innen vielmals den Zusammenbruch der geistigen Gesundheit an. Aussagen wie »ich habe nur noch herumgesessen«, »meine Wohnung ist total vermüllt« oder »ich konnte gerade noch die Post öffnen, mehr habe ich nicht mehr im Haushalt gemacht« wurden im Kontext der Tagesstätte zu Chiffren maligner Entwicklungen. Neben der Bedeutsamkeit dieses Themas für Klient_innen zentrierten sich auch die Aktivitäten in der Tagesstätte um Haushaltsarbeit: Das Mittagessen vorzubereiten verlangte eine Vielzahl von Arbeitsschritten, die von den Mitarbeiter_innen routiniert dirigiert und arbeitsteilig von Klient_innen ausgeführt wurden. Angefangen bei der morgendlichen Besorgung von Lebensmitteln im nahegelegenen Supermarkt, über die Zubereitung der Speisen, das Eindecken der Tische, die Essensausgabe und schließlich dem Abräumen und Abwasch des benutzten Geschirrs war eine Mehrzahl der Klient_innen täglich in den Prozess der Vorbereitung des gemeinsamen Mittagessens involviert. Bestand hinsichtlich der Arbeitsgruppen immer die Möglichkeit, dass eine ausfällt oder verschoben wird, war das Mittagessen und dessen Zubereitung ein zu immanenter Bestandteil des Alltags, als dass es hätte misslingen dürfen: Verspätete sich das Mittagessen etwa um 20 Minuten, wurde dies von Mitarbeiter_innen wie KlientInnen als problematisch aufgefasst.

Die Reproduktionsarbeit in der Tagesstätte erschöpfte sich jedoch nicht in der Zubereitung des Mittagessens. Zwischenmenschliche Beziehung, die alltäglichen Interaktionen wurden im Rahmen der Tagesstätte zur Arbeit »erhoben«, an deren Teilhabe das Recht auf Anerkennung geknüpft war. Es zu schaffen, in der Tagesstätte zu erscheinen und eventuell an Gesprächen mit anderen Klient_innen oder den Mitarbeiter_innen zu partizipieren, galt als eine Arbeitsleistung, die zum einen geringfügig finanziell über die Rückerstattung des Fahrtickets und zum anderen immateriell über symbolische Honorierung entlohnt wurde. Insbesondere den vielen Klient_innen, welchen es schwerfiel, den Besuch in der Tagesstätte zu routinieren, wurde bei ihrem Erscheinen regelmäßig Lob seitens der Mitarbeiter_innen zuteil. Damit etablierte sich in der Tagesstätte eine Anerkennungsökonomie, die sich von derjenigen, welche viele Klient_innen in ihrem familiären und privaten Umfeld erfuhren, grundlegend unterschied. Reproduktionsarbeit, zu der ebenso Haushalts- wie auch Beziehungsarbeit gehört, ist – obgleich notwendig zur Regeneration und Verstetigung von Arbeitskraft – mit weniger gesellschaftlicher Anerkennung verbunden als Produktionsarbeit.[6] So klagten beispielsweise einige Klient_innen darüber, ihr familiäres Umfeld könne nicht nachvollziehen, welche Leistung sie in der Tagesstätte vollbringen würden. Eine Klientin fieberte regelrecht dem Tag der offenen Tür entgegen, an welchem ihr Vater, der bisher einen Besuch der Tagesstätte kategorisch abgelehnt habe, endlich sehen könne, was sie den ganzen Tag über mache. Oftmals drückten Klient_innen Stolz aus, an dem Alltag der Tagesstätte regelmäßig zu partizipieren. Allerdings gab es auch Klienten, für die eine Teilnahme am Alltag nicht ausreichte, mit ihrer Arbeitsleistung zufrieden zu sein. So brachte etwa ein Klient während seines Interviews zur Aussprache: »[I]ch muss das was machen können, wo ich das Gefühl hab Mensch [...], klasse, heut hab ich wieder was geschafft.« Dieses Gefühl könne er mit dem derzeitigen Angebot der Tagesstätte nicht erlangen, ihm fehle die praktische (produktive) Betätigung.

Möglicherweise begünstigte unter anderem der Umstand, dass auch die Mitarbeiter_innen in der Reproduktionsarbeit, genauer im Care-Sektor berufstätig waren, ein kollegiales Klima. Die Strukturähnlichkeit ihrer fachlichen Arbeit wie die Überschneidung der Tätigkeiten in der Tagesstätte hob die Trennung zwischen angestellten Mitarbeiter_innen und Klient_innen teilweise auf. »Wir ziehen hier alle an einem Strang«, brachte ein Klient diese Wahrnehmung während unseres Interviews auf den Punkt. Die Mitarbeiter_innen leiteten beispielsweise die Küchenarbeit an, beteiligten sich jedoch auch praktisch an dieser, standen neben den Klient_innen beim Gemüse schneiden, gingen gemeinsam mit ihnen einkaufen und bewerteten zusammen das Ergebnis ihrer Kochkunst. Im arbeitsteiligen Prozess dieses Zusammenspiels wäre es für Dritte oft nicht ersichtlich, wer im Alltag der Tagesstätte die Funktion der Mitarbeiter_innen und wer die der Klient_innen einnahm. Konterkariert wurde diese scheinbare Hierarchielosigkeit regelmäßig von der objektiven Position, welche die Mitarbeiter_innen in der Tagesstätte und gesellschaftlich einnahmen: »Sie werden fürs Rauchen bezahlt«, war ein wiederkehrendes – nicht immer ganz von der Hand zu weisendes – Bonmot, welches in der »Rauchergruppe« kursierte. Zum Ausdruck gelangte damit der Umstand, dass die Mitarbeiter_innen oftmals die gleichen Tätigkeiten wie die Klient_innen ausführten, dabei jedoch einem gesellschaftlich relativ anerkannten und finanziell entlohnten Berufsfeld angehörten. Sprachlich drückte sich diese Distinktion etwa darin aus, dass Klient_innen und Mitarbeiter_innen sich gegenseitig siezten, jedoch untereinander duzten. Diese Regelung sei in psychiatrischen Institutionen gängig, erklärte mir eine Mitarbeiterin, sie helfe dabei, professionelle Distanz aufrechtzuerhalten. Räumlich wurde diese Trennung von den Büros markiert, welche nur der Arbeit der Angestellten vorbehalten waren.

Das Gefälle zwischen Klient_innen und professionellen Mitarbeiter_innen hinsichtlich der Positionierung ihrer Arbeit drückte sich ferner in dem Wunsch einiger Klient_innen aus, die Mitarbeiter_innen mögen autoritärer »durchgreifen«. Während der Zeit meines Feldzugangs wurde der Alltag von einem Konflikt um den Status quo der Tagesstätte begleitet: Einige Klienten bemängelten das aus ihrer Sicht unzureichende Angebot – insbesondere mangelnde größere Ausflüge – , hygienische Missstände sowie eine ungleiche Verteilung der Arbeitslast zwischen den Klient_innen. Die eigenverantwortliche Selbstorganisation der Klient_innen stoße in diesen Belangen an ihre Grenzen, die Mitarbeiter_innen, so wurde gefordert, sollten »klare Ansagen« machen.

Die beschriebene Problemkonstellation lässt sich in der schematischen Gegenüberstellung von Kollegialität und Hierarchie in Bezug auf Arbeit in der Tagesstätte verdichten. Größtenteils gehörte die Arbeit, welche von den Klient_innen verrichtet wurde, der Sphäre der Reproduktionsarbeit an, bildete damit eine Teilmenge der Aufgaben der Mitarbeiter_innen. Unter dieser oftmals von kooperativer Arbeitsteilung geprägten Strukturähnlichkeit der Arbeit bildete sich eine Stimmung, die von Kollegialität gekennzeichnet war. Dabei konkurrierte dieses kollegiale Klima mit der Position welche die Mitarbeiter_innen gesellschaftlich und in der Tagesstätte objektiv einnahmen, ihrem Status als Professionelle. Die Widersprüchlichkeit der Situation wurde von einem Klienten im Interview folgendermaßen benannt: »[H]ier wird kein Chef herausgekehrt oder kein Vorgesetzter, [...] weil im Endeffekt sind das ja, wenn wir jetzt im Betrieb wären, unsere Vorgesetzten.« Das Statusgefälle würde also nicht demonstrativ artikuliert, sondern bestünde lediglich strukturell in der quasibetrieblichen Organisation der Arbeit in der Tagesstätte.

3. Sozialbeziehungen in der Tagesstätte

Die Partizipation an gemeinschaftlichen Aktivitäten, das Verleben des Alltags in einer Gruppe, sollte die Klient_innen der Tagesstätte auf die (Wieder)Eingliederung in das gesellschaftliche Leben vorbereiten. Dabei stellte sich über den geteilten Alltag eine Nähe her, die von Klient_innen häufig als freundschaftlich bis familiär beschrieben wurde. Durchaus erinnerten die Unternehmungen – das gemeinsame Kochen, die Ausflüge, die Brett- und Kartenspiele – wie auch das Vertrauensverhältnis von Klient_innen und Mitarbeiter_innen an »klassische« Familienaktivitäten. Oftmals hatte es den Anschein, als vermittele sich in der Tagesstätte szenisch ein familiäres Beziehungsmodell, welches in den Biographien vieler der Klient_innen auf die ein oder andere Weise beschädigt wurde. So erzählte mir ein Klient während des Interviews, er habe in seiner Kindheit unter einem »stillen Sadisten« als Vater und einer beängstigenden Mutter gelitten, die ihn etwa in dem Glauben habe aufwachsen lassen, sie könne seine Gedanken lesen. Für einen anderen Klienten sei das Verlassen werden von der Ehefrau Anlass seiner psychischen Symptome gewesen. Wieder ein anderer bezeichnet seine Mutter als bedenklich überfürsorglich: noch während der Adoleszenz habe sie ihn regelmäßig gebadet. Eine Klientin schilderte, sie sei von ihrem damaligen Lebenspartner »psychisch missbraucht« worden und habe auf sein Drängen den Kontakt zu ihrer Familie zeitweilig abgebrochen, was insbesondere die Beziehung zu ihrer Mutter nachhaltig geschädigt habe. Weiter erzählte ein Klient davon, seine Familie habe ihn in die Kinder- und Jugendpsychiatrie einweisen lassen, wo er regelmäßig von dem Pflegepersonal schikaniert und missbraucht worden sei. Fälle von Kindeswohlgefährdung, Vernachlässigung und traumatischen Ereignissen im familiären Rahmen prägten jedes Gespräch, das ich mit Klient_innen über die Herkunft ihrer Symptome führte. Vor diesem Hintergrund mag es kaum überraschen, dass die Affirmation der Tagesstätte vielmals mit Begriffen aus dem Konnotationsraum von Familie und Nähe einherging. Über das Bezugsbetreuungsverhältnis hinaus beobachtete ich eine rege wechselseitige Anteilnahme an den Schicksalen der Klient_innen und Mitarbeiter_innen. Probleme und Themen der Lebensführung und zwischenmenschlicher Beziehungen waren steter Bestandteil der formlosen Gespräche in der Tagesstätte. Das Verhältnis der Klient_innen und Mitarbeiter_innen war von gegenseitiger Zuneigung geprägt, »private« Belange wie Urlaubsplanungen, Liebesbeziehungen oder Feierabendaktivitäten wurden freimütig diskutiert. Ein Klient beschreibt diese Intimität im Kontrast zur Klinik: »Im Krankenhaus äh gehen die nicht so auf einen zu, im Krankenhaus ist alles viel anonymer«.

Zu der Herstellung von Nähe in der Tagesstätte trug weiter meines Erachtens maßgeblich die Teilnahme der Mitarbeiter_innen an dem bei, was Goffman (1973 [1961]) als das Unterleben in psychiatrischen Institutionen charakterisiert, der Gesamtheit der Regelübertretungen, die den Insassen ihre Lage erträglicher macht, und ihnen ein Gefühl von Handlungsfähigkeit gibt. So beteiligten sich die Mitarbeiter_innen teilweise an der Zuschaustellung von Faulheit und Arbeitsunlust, der gegenseitigen Bespöttelung oder der Diskussion privaten Substanzkonsums. Bereits bei meinem Einstellungsgespräch wurde mir offenbart, dass Mitarbeiter_innen zwar eine Gebühr von zwei Euro für das Mittagessen entrichten müssten, es jedoch Möglichkeiten gäbe, diese Regelung heimlich zu umgehen. Auch wenn ich diese bestimmte Praxis nie beobachtet habe und überzeugt bin dass sie wohl nie zur Anwendung kam, wurde damit doch zu verstehen gegeben, dass die Richtlinien der Tagesstätte freizügig aufgefasst werden, keinen Gesetzescharakter haben, ihre Grenzen teilweise durchlässig sind. Dieser ungezwungene Umgang mit Regeln scheint konstitutiv für das Zusammenleben in der Tagesstätte und die Herstellung von Nähe zwischen MitarbeiterInnen und Klient_innen. Indem die Mitarbeiter_innen nicht als VertreterInnen Vertreter_innen einer apodiktischen Ordnung auftreten, wird die Abgrenzung zu den Klient_innen eingeebnet. Wenn zum Beispiel ein Scherz auf Kosten eines Klienten gemacht wurde, wirkte dies weniger herabsetzend, sondern machte im Gegenteil die Stichelnde dem Klienten gemein und vice versa: Die Mitarbeiter_innen traten mit den Klient_innen in Komplizenschaft.[7]

Dennoch verblieben die Regelübertretungen als solche im Bewusstsein. Das Wissen ums »eigentlich richtige« Verhalten blieb auch bei dessen Missachtung bestehen und wurde in bestimmten konflikthaften Situationen aktualisiert. So behandelten mehrere virulente Konflikte zu meiner Zeit in der Tagesstätte das Thema von Nähe- und Distanz. Verschiedene Klienten kritisierten einen wahrgenommenen Zusammenbruch des Vertrauensverhältnisses und forderten authentischere Beziehungen ein. Exemplarisch lässt sich das an einer Episode verdeutlichen: Wenige Wochen vor meinem Feldzugang machten Mitarbeiter_innen und Klient_innen an einem Samstagabend einen gemeinsamen Ausflug in eine Diskothek. Ein Klient erinnert sich an die Enttäuschung, die bei ihm ausgelöst wurde, als er erfuhr, dass dieser Abend für die Mitarbeiter_innen entlohnte Arbeitszeit war:

»[d]a hat sich Annika [eine Mitarbeiterin, d. A.] wohl etwas falsch ausgedrückt [...], hieß es halt nur jaa, des war alles Arbeitszeit für uns, ich mein, wir waren da bis nachts um zwei, es wurde auch ordentlich was getrunken, des als Arbeitszeit abzurechnen- boah, also echt, des war ‚n Samstag und dann zu sagen, ja privat würden wir mit Ihnen auch nie weggehen. [...] das hat vieles kaputt gemacht.«

Der Klient war davon ausgegangen, dass die Mitarbeiter_innen den Ausflug aus privatem Interesse unternommen hätten. Dieser Glaube wurde von der außergewöhnlich späten Zeit des Ausflugs wie dem »ordentlichen« Alkoholkonsum gestützt: offenbar Kennzeichen die für den Klienten nicht mit der Arbeit in der Tagesstätte in Einklang zu bringen sind. Mit der als brüsk empfundenen Zurückweisung, die Mitarbeiter_innen würden nicht privat mit den Klient_innen ausgehen, sieht der Klient das intime freundschaftliche Verhältnis beschädigt. Dabei störe ihn weniger die Distanz zu den Mitarbeiter_innen an sich, als vielmehr dass diese Distanzierung »plötzlich« eingekehrt sei: Er könne diesen Abstand, den die Mitarbeiter_innen einnahmen, zwar nachvollziehen, »aber dann hätte man das von Anfang an anders machen müssen« und nicht versuchen sollen das enge Verhältnis »auf einen Schlag [...] abzubrechen und das eigentlich dann – in Gänsefüßchen – richtig zu machen«. In seiner Erinnerung nimmt sich die Distanzierungsgeste als ein Verrat an der Freundschaft aus. Gleichzeitig weiß der Klient um das Reglement, welches die Professionalität den Mitarbeiter_innen abverlangt, wie es eben eigentlich »richtig gemacht« wird. Die vormalige Nähe charakterisiert der Klient folgendermaßen: »[N]ur aus dem Grund, weil es so familiär war und vor allem, weil es auch bis zu einem gewissen Punkt sehr privat wurde, ich mein die Frau Norah kennt glaube ich mein ganzes Leben [...], nur unter dieser Voraussetzung konnte ich Vertrauen aufbauen.« Benannt wird hier eine gelungene therapeutische Beziehung, die im Unterschied zur psychotherapeutischen Behandlung nicht auf professioneller Distanz, sondern auf der Inszenierung von Familialität beruht, welche für den Klienten notwendig gewesen sei, sich vertrauensvoll zu öffnen. Misstrauisch ist deshalb der Klient auch gegenüber der Aufnahme weiterer Klient_innen: »[G]erade das Kleine, das Familiäre, das war’s ja was es ausgemacht hat und das ist das was mir gefallen hat.« Eine Vergrößerung der Gruppe und damit eine Verschlechterung des Betreuungsverhältnisses würden ihm zufolge diesen Charakter sabotieren.

Der Klient fordert ein authentisches und intimes Vertrauensverhältnis ein, das nicht von dem Manko beruflicher Zweckmäßigkeit befleckt ist. Ein anderer Klient beschreibt diese Authentizitätsforderung in Bezug auf seine Mitklient_innen: Er schildert eine Szene, in der ein Klient eine frühere Äußerung ihm gegenüber vor dem Publikum der »Rauchergruppe« wiederholt und urteilt, »da muss er doch nicht so rumspielen, für mich ist das schon gelogen«. Gegenüber dieser als wenig authentisch empfundenen Szene betont er, »das Unverstellte, das hätte ich halt gern«.

Das Sozialleben in der Tagesstätte, welches dem Selbstanspruch der Institution nach rehabilitative Wirkung zeitigen soll, war vornehmlich durch eine Nähe charakterisiert, die freundschaftliche bis familiäre Formen annahm. Damit bot der Alltag der Tagesstätte ein »gelungenes« Modell der zwischenmenschlichen Beziehungen, welche in der biographischen Sozialisation der Klient_innen oftmals beschädigt waren. Die scheinbare Authentizität der freundschaftlich-familiären Beziehungen in der Tagesstätte wurde unter anderem hergestellt über die gemeinsame Teilnahme am Unterleben, der Gesamtheit kleinerer Regelübertretungen, welche die Distanz zwischen Klient_innen und Mitarbeiter_innen einebnete. In bestimmten Situationen wurde die dadurch hergestellte Nähe jedoch wieder aufgelöst, seitens der Mitarbeiter_innen eine Rolle eingenommen, die den Abstand zu den Klient_innen wieder vergrößerte. In der Selbsterfahrung äußerte sich dieser Zwiespalt etwa darin, dass ich nach einem abfälligen Scherz, den ein Klient und ich über einen anderen Klienten austauschten, glaubte »zu weit gegangen zu sein« und mir vornahm, den bespöttelten Klienten fortan in Schutz zu nehmen. Bei einem ähnlichen Fall lieh ich einem Klienten zwei Euro, die ich nicht zurückforderte, weil ich glaubte, dass – trotz der Geringfügigkeit des Betrags – monetäre Darlehen gegen die Gepflogenheiten der Tagesstätte verstoßen würden und ich den Vorfall schnell vergessen wollte. Ein anderes Mal bemühte ich mich darum, dass ein Ausflug, den ich mit den Klient_innen zu einem Konzert unternehmen wollte, als »offizielle Aktivität« deklariert wurde, da ich befürchtete, es könnte ansonsten den Anschein haben, ich würde mich privat mit Klient_innen abends treffen. In allen Fällen drohte ich gegen kein ausgesprochenes Regelwerk, keine betriebliche Anordnung zu verstoßen, sondern gegen eine Rollenerwartung, die vom szenischen Arrangement der Tagesstätte gleichzeitig evoziert wie auch sabotiert wurde. Diese Rollenerwartung war also weniger getragen von Anordnungen, die mir etwa in einer Einarbeitungszeit gegeben worden wären, sondern von einem Prozess der Professionalisierung, in den Vorstellungen professionellen Verhaltens sowie die Orientierung am beobachteten Interaktionsgeschehen zwischen Mitarbeiter_innen und Klient_innen. Sie verblieben damit auf einem latenten Niveau, das einerseits ermöglichte in relativ ungezwungen-freundschaftliche Beziehung zu den Klient_innen zu treten und andererseits sich in potentiell entgrenzenden Situationen aktualisierte und zwischen die Beziehungen schob.

4. Resümee: Der Einfall der Professionalität

In den beiden beschriebenen Aspekten der Tagesstätte – der beruflichen wie der sozialen Wiedereingliederung – stellte sich im gemeinsamen Alltag eine Nähe zwischen Klient_innen und Mitarbeiter_innen her, welche regelmäßig gestört wurde von dem was ich den Einfall der Professionalität nennen möchte. Der Begriff des Einfalls ist hier in der doppelten Wortbedeutung zu verstehen: einmal als aufkommende Idee, welche vermeintlich spontan in bestimmten Situationen zu Bewusstsein gelangt und in Bezug auf das Professionelle eine Rückbesinnung auf bestimmte Prinzipien des beruflichen Ethos beschreibt. Zum anderen ist der Einfall etwas eindringend Störendes, dass sich hier als ungebetenes Drittes zwischen eine scheinbar authentische Beziehung schiebt und sie nachträglich diskreditiert: Der Beziehung geht in der Rückschau unter dem Vorzeichen beruflicher Professionalität ihr intimer Charakter verlustig, sie wird tendenziell als Ausdruck instrumenteller Vernunft umgedeutet, die Freundschaft war nicht »echt«. Beide Wortbedeutungen verweisen auf etwas, das gewissermaßen von außen hereinbricht und nicht etwa aus dem inneren Zusammenhang einer Sache selbst erwächst.

Die Intimität der Beziehungen wird im Zuge des Einfalls des Professionellen als »Pseudointimität« decouvriert. Dabei ist zu beachten, dass die institutionellen Eigenheiten der Tagesstätte beide Beziehungstypen gleichzeitig evoziert, damit widersprüchliche Anforderungen an Mitarbeiter_innen und Klient_innen stellt. Vermittelt über das szenische Arrangement – die gemeinsame Teilhabe am Alltag einschließlich des Unterlebens sowie die Ähnlichkeit der Arbeitssphären von Klient_innen und Mitarbeiter_innen – wird strukturell eine zwischenmenschliche Nähe hergestellt, die von anderen Aspekten des selben Arrangements teilweise wieder aufgelöst wird. Dabei war der »Anschein« authentischer Beziehungen kein arbiträres Element der sozialpsychiatrischen Institution, das um des Frieden willens einfach entfernt werden könnte. Suggeriert auch beispielsweise der Klient im Nachspiel des Discobesuches, der Konflikt sei nicht eingekehrt, hätte man es von Anfang an »richtig« gemacht – konsequent an professioneller Distanz festgehalten –, so war es doch gerade die Nähe, welche ihm erlaubt habe sich zu öffnen. Das Helfende der Beziehungen in der Tagesstätte war unter anderem die mangelnde Distanziertheit und affektive Verbundenheit, welche in den Interviews vornehmlich im Kontrast zur psychiatrischen Klinik emphatisch affirmiert wurde. Auf die Frage, was ihm seiner Ansicht nach in der Tagesstätte hilft antwortet ein Klient: »[...] da hab ich irgendwie eine Aufgabe [...], dass ich morgens aufstehe, dass ich hierherkomme, dass ich nette Gespräche führe mit den Betreuern oder Betreuerinnen und den Mitpatienten oder Mitklienten [...] ich hab ach hier schon ein paar gefunden, mit denen ich schon ein freundschaftliches Verhältnis habe.« Ein anderer Klient äußert sich ähnlich: »[...] das war am Anfang wirklich auch, hat mir echt Spaß gemacht [...], ja das war wie eine Ersatzfamilie sag ich mal.« Weiter nennt ein anderer Klient die Atmosphäre in der Tagesstätte »menschlich« und betont sein »freundschaftlich[es]« Verhältnis zu einigen Mitklient_innen und seiner Bezugsbetreuerin. Eine interviewte Klientin charakterisiert die Beziehungen in der Tagesstätte als »herzlich«, sie fühle in der Tagesstätte »Lebensfreude« und »Geborgenheit«. In den Interviews und den Feldnotizen scheint die hier angedeutete Nähe als ein konstitutives Moment des Alltags der Tagesstätte auf, ihr Konfligieren mit Rollenerwartungen professioneller Distanziertheit bildet demnach eine Aporie, einen unauflösbaren Problemzusammenhang, der sich nicht wegdekretieren lässt – etwa indem man es von Anfang an »richtig« macht.

Die unterschiedlichen, oftmals widersprüchlichen Rollenerwartungen, welche an Professionelle in psychiatrischen Institutionen gestellt werden, scheinen in Kontexten außerhalb der sozialen Arbeit stärker diskutiert zu werden. So schlagen Jackson und Stevenson (2000) etwa vor, Krankenpfleger_innen in psychiatrischen Kliniken sollten abhängig von den Bedürfnissen ihrer Patient_innen zwischen dem »ordinary, pseudo-ordinary and professional me« changieren, also den Grad der Intimität und Vertrautheit situationsbedingt anpassen (vgl. ebd., S. 381, S. 386f.; vgl. auch Spiers/Wood 2010). Hem und Heggen (2003) kritisieren dieses Konzept als harmonistisch: Die Konfliktträchtigkeit der divergierenden Rollenerwartungen, gleichzeitig professionell und »menschlich«, intim und distanziert zu sein, werde unterschätzt (vgl. ebd., S. 106). Gegenüber der Betonung eines in sich diskrepanten professionellen Ideals halten es die Autorinnen für förderlich, die eigene Verletzbarkeit (i. O. vulnerability) und Abhängigkeit der Krankenpfleger_innen anzuerkennen. In ihrer ethnographischen und narrationsanalytischen Fallstudie setzt die untersuchte Krankenpflegerin »Professionalität« mit »Kontrolle« gleich und desavouiert die eigene Verletzbarkeit. In diesem Sinne kann auch der Einfall der Professionalität im Alltagsgeschehen der Tagesstätte als der Versuch einer Rückgewinnung von Kontrolle gewertet werden. Unsichere Situationen – wie sie etwa die als bedrohlich empfundene Entgrenzung zwischen Privat- und Arbeitsleben darstellt – konnten durch das Aufrichten einer professionellen Distanz wieder beherrschbar, ihre beunruhigende Dimension auf Kosten der bis dato als authentisch empfundenen Beziehung abgewehrt werden: Die Grenze wird neu gezogen.

Mit der beschriebenen Konfliktdynamik und ihrer strukturellen Bedingungen ist eines der wiederkehrenden Themen der Feldnotizen und Interviews benannt: Das Beziehungsbündnis unter falschem Vorzeichen, welches von dem Einfall der Professionalität als nicht-authentisches decouvriert wurde, war Grundlage einiger alltagsbestimmender Auseinandersetzungen in der Tagesstätte. Allerdings darf die Wirkmächtigkeit dieses Widerspruchs nicht überschätzt werden. Einige Klient_innen schienen kaum von diesem Konflikt berührt zu sein, brachten ihn zumindest nicht zur Aussprache, oder zeigten im Gegenteil Bestrebungen, Distanz aufrechtzuerhalten. Der Konflikt bezeichnet demnach treffender ein Problem der Professionalisierung, welche maßgeblich eher auf Improvisation denn auf einem fachlichen Kanon festgeschriebener Handlungsanweisungen gründet. Eine ähnliche Beobachtung macht Holli (2012), die in ihrer ethnographischen Arbeit über Ausflüge im Rahmen einer sozialpsychiatrischen Tagesstätte ein Changieren zwischen Struktur, Flexibilität und Routine feststellt. Innerhalb eines »strukturierenden Rahmens« sei den Professionellen abverlangt, »verschiedene Bedürfnisse der KlientInnen unterzubringen und zu koordinieren« (ebd., S. 56). Auch Kluthe (2012) stellt fest, die Care-Praxen seien »sowohl an der Einrichtung orientiert, als auch durch die Bedürfnisse der KlientInnen geprägt« (ebd., S. 39) und demnach auf Flexibilität angewiesen. Diese strukturelle Improvisiertheit des Alltags in der Tagesstätte führte einerseits in Bezug auf die oben beschriebene Nähe-Distanz-Problematik zu Unsicherheiten in der Beziehung zwischen Klient_innen und Mitarbeiter_innen, brachte jedoch andererseits auch Möglichkeiten kreativer Problembewältigungen mit sich. So berichtete mir eine Mitarbeiterin, sie sei mit einer Kollegin und einem Klienten, der stark unter seinen akustischen Halluzinationen litt, zu einer nahegelegenen Polizeiwache gegangen, um dort eine einstweilige Verfügung gegen die Stimmen ausstellen zu lassen. Ein vorab informierter Polizist erklärte den Fall für eindeutig und verfasste ein Dokument, welches es den Stimmen verbot, sich dem Klienten weiter zu nähern. Die Inszenierung sei von erheblichem Erfolg gewesen, etwa drei Monate lang sei der Klient von den Stimmen, welche ihn ansonsten täglich begleiten, verschont geblieben. Zur Zeit meiner Anwesenheit in der Tagesstätte war bereits ein Ritual verstetigt, in welchem der Klient die Stimmen symbolisch einer Mitarbeiterin aushändigte, die sie sogleich über den Zaun der Tagesstätte »warf« und lauthals zum Verschwinden aufforderte. Dieser symbolische Ausschluss der Stimmen – ich selbst veränderte mit dem Klienten dieses Ritual, indem wir die Stimmen in einen Spind einschlossen – zeitigte jedes Mal sofortige Wirkung und führte zu einer beträchtlichen Reduktion des akuten Leidensdrucks. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass die Tagesstätte oftmals als Ort des Probehandelns fungierte, der spielerischen Improvisation über individuelle Konflikt- und Problemlagen. Der von Kluthe (2012) ausgemachten Doppelcharakter sozialpsychiatrischer Einrichtungen, als »Schutz- und Spielraum« (vgl. ebd., S. 39) fand sich in meinen Feldnotizen und den Interviewaussagen der Klient_innen bestätigt. Allerdings gilt angesichts der oben angesprochenen Konfliktdynamik nach den beängstigenden Dimensionen des Interaktionsspiels zu fragen und diese reflektierend zur Sprache zu bringen, damit ihr Aufkommen weniger als Einfall denn als konstitutives aber zu bewältigendes Element der Beziehungsarbeit erfahren wird.

In den eingangs angeführten methodologischen Überlegungen wurde mit Reckwitz (2008) eine praxeologisch-kulturwissenschaftliche Perspektive vorgeschlagen, welche den Niederschlag von diskursiv strukturiertem Wissen im beforschten Alltag zentriert. Vor diesem Hintergrund lässt sich zunächst feststellen, dass die Klient_innen der Tagesstätte zum Zeitpunkt ihres erstmaligen Besuchs meist bereits einen Prozess der Psychiatrisierung durchlaufen hatten. Als Übergangsinstitution ist die Tagesstätte der klinischen Psychiatrie nachgeschaltet, die Klient_innen wurden demnach vorher in der Psychiatrie sozialisiert, brachten psychiatrisches Wissen – wie etwa Krankheitstheorien oder bestimmte Interaktionsmodelle – in den Alltag der Tagesstätte ein. Im Anschluss an Foucault (2005) wäre demnach davon auszugehen, dass die von ihm beschriebenen Disziplinartechniken den Subjekten der Psychiatrie teilweise bereits eingeschrieben waren. Vor diesem theoretischen Hintergrund lässt sich die Sozialpsychiatrie als weiterer Moment der Totalisierung des psychiatrischen Zugriffs verstehen: Es gibt für die Klient_innen kein außerhalb der Institution mehr, die Sektorialisierung der Versorgung umfasst nun tendenziell auch die letzten Residuen des Alltags, welcher einer mehr oder minder genauen zeitlichen Ordnung unterworfen wird. Dabei ist der Zwang – und das ist das eigentümliche der von Foucault beschriebenen Disziplinarmacht – in dieser institutionellen Ordnung kaum mehr sichtbar. Die Sozialpsychiatrie tritt denen, die aus dem Berufs- wie Sozialleben rausgefallen sind, als logische Folge ihrer misslichen Lage entgegen, welcher nicht etwa gesellschaftliche Strukturen wie der Zwang produktiver Erwerbsarbeit sondern vielmehr die pathologische Konstitution des Subjekts ursächlich seien. Das Leben wiederaufzunehmen bedeutet hier zunächst einen Rückzug ins Familiäre, welches über eine disziplinierenden Regulation des Alltags die einzelnen wieder in ein Netz von Verbindlichkeiten und Pflichten einhegen soll (vgl. z. B. ebd., S. 129). Die Klient_innen finden sich wieder in einer Situation ähnlich der einer Grundschülerin, welche erlernen muss morgens aufzustehen und für die Dauer eines Arbeitstages den von der Schule vorgegebenen Zeitplan einzuhalten. Die Verinnerlichung dieser strukturellen Infantilisierung drückt sich etwa in dem mehrmals von Klient_innen artikulierte Ansuchen nach mehr Vormundschaft durch die Mitarbeiter_innen aus. In diesem Sinne ließe sich die historische Transformation der Psychiatrie in Übereinstimmung mit Foucaults gesellschaftstheoretischen Überlegungen als Fortsetzung einer Funktion der Refamilialisierung des psychiatrischen Subjekts beschreiben. Gesellschaftsfähigkeit (wieder)herzustellen bedeutet hier die Verinnerlichung einer Handlungsbereitschaft, die nicht autoritär dekretiert wird, sondern sich über das Erlernen eines Pflichtgefühls gegen eine Gruppe »intimer« Interaktionspartner_innen einstellt. Die Refamilialisierung konvergiert dabei durchaus mit in der Tagesstätte aufgehobenen Möglichkeitsräumen antipsychiatrischer Provenienz: Depathologisierung und kooperative Arbeitsteilung sind den Prinzipien der Tagesstätte ebenso eigen wie demokratische Mitbestimmung. Diesen Werten ist die normative Aufforderung zur Eigenverantwortlichkeit eigen, welche gemeinhin im postfordistischen Produktionsprozess als gelungenes Ergebnis familiärer Sozialisation gilt. Die Internalisierung von Eigenverantwortlichkeit gibt dem Subjekt dabei nicht nur Handlungsspielraum, sondern kann auch unter Ausblendung struktureller Einschränkungen zu Gefühlen der Überforderung und Insuffizienz führen.

Das Entgrenzende des institutionellen Arrangements der sozialpsychiatrischen Tagesstätte scheint im Alltag wiederholt bedrohlich in der Angst auf, die Beziehungen seien nicht authentisch oder umgekehrt professionelle Distanz nicht mehr herstellbar. In dieser Konfliktkonstellation zeigt sich gleichsam die Prekarität der Disziplinierung: Sie ist auf eine ständige Aktualisierung angewiesen, die angesichts der Sogkraft des geteilten Alltags den Akteur_innen als fremdartig gegenübertritt, als Professionalität einfällt. Bereits frühe ethnographische Studien haben die Einebnung formaler Disziplin im alltäglichen Leben von Institutionen beschrieben. So diskutiert etwa Homans (1946) zwischenmenschliche Konflikte, welche die militärische Ordnung auf einem kleinen Kriegsschiff schleichend untergraben können. Diese Brüchigkeit sozialer Ordnungen scheint mir auch in der Institution der sozialpsychiatrischen Tagesstätte verdichtet. Die Pseudointimität, welche vom Einfall der Professionalität als solche decouvriert wird, bringt meines Erachtens den widersprüchlichen Charakter der Institution auf den Begriff: Als Trabant der klinischen Psychiatrie markiert sie einen Übergangsraum, in welchem Beziehungen noch nicht echt sind, aber auch nicht mehr vollständig in technischer Rationalität aufgehen.

Literatur

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Zaretsky, Eli (2009[2004]): Freuds Jahrhundert. Die Geschichte der Psychoanalyse. München: dtv.

Endnoten:

[1]

Die gesellschaftliche Wirkmächtigkeit der Psychoanalyse wird u. a. von Eli Zaretsky in Freuds Jahrhundert (2009) diskutiert. Eine aktuelle Auseinandersetzung zur Popularisierung des psychoanalytischen Diskurses bietet Illouz (2011).

[2>]

Große Bekanntheit in diesem Zusammenhang erlangten etwa die soziologischen Arbeiten Harold Garfinkels (1984 [1967]). Garfinkel entwickelte eine Forschungsmethode, die das selbstverständliche Wissen, welches in Alltagsinteraktionen vorausgesetzt wird, sichtbar zu machen, indem die Forschenden sich im Feld radikal unwissend Verhalten. Die in diesen »Krisenexperimenten« ausgelösten Irritationen sollen Aufschluss über die impliziten Regeln von Alltagsinteraktionen geben.

[3]

Um die Anonymität der Klient_innen und Mitarbeiter_innen der Tagesstätte zu wahren werden im Folgenden sämtliche Angaben pseudonymisiert, die Rückschlüsse auf konkrete Personen zulassen.

[4]

Vgl. zu anderen ethnographisch gewonnenen Aspekten der Sozialpsychiatrie etwa Klausner und Niewöhner (Hrsg., 2012) oder im englischsprachigen Raum Estroff (1981).

[5]

5 Wenn ich im Folgenden von »Mitarbeiter_innen« spreche, inkludiert das – so nicht anders ausgewiesen – gemäß meiner Selbst- und Fremdpositionierung im Feld auch mich. Die Einsichten, welche ich über die Institution erlangt zu haben glaube, beruhen zum Großteil auf der reflexiven Auseinandersetzung mit meiner eigenen Professionalisierung. Demnach muss auch einschränkend zu dieser Arbeit angemerkt werden, dass die Beobachtungen von diesem Standpunkt aus erfolgten: Auch wenn die Klient_innen im Weiteren wörtlich zitiert werden, sind diese Aussagen doch einem Interviewzusammenhang entnommen, dessen Rahmen ich aus der Perspektive eines mindestens halbprofessionellen Mitarbeiters bestimmte.

[6]

Vgl. aus anerkennungstheoretischer Perspektive etwa Krebs’ (2002) Erläuterungen zur Familienarbeit (ebd., S. 72–75). Weiter ist die gesellschaftliche Trennung von Reproduktions- und Produktionsarbeit, damit auch die des Privaten und Öffentlichen, nicht außerhalb ihrer vergeschlechtlichten Kategorien zu denken. Die Abspaltung der Reproduktionssphäre ging historisch auch einher mit dem Ausschluss von Frauen aus dem gesellschaftlichen Leben (vgl. hierzu kritisch Scholz 2011). Koppetsch und Burkart (1999) belegen eindrucksvoll die Persistenz und leibliche Verankerung solcher Arbeitsteilung in ihrer Studie über das Zusammenleben »progressiver« Paare.

[7]

7 Bezüglich der Bedeutung des »Raucherraums« für dieses Unterleben vgl. Skorpen et al. (2008).

Über den Autor

Tom David Uhlig

Tom David Uhlig hat in Frankfurt u. a. Psychologie studiert, ist Mitglied des AK kritische Psychologie und der Forschungswerkstatt Tiefenhermeneutik sowie Mitherausgeber der Freien Assoziation. Zeitschrift für psychoanalytische Sozialpsychologie. Er veröffentlichte mit Charlotte Busch und Martin Gehrlein Schiefheilungen. Zeitgenössische Betrachtungen über Antisemitismus (2016, VS) und mit dem AK kritische Psychologie Perspektiven kritischer Psychologie und qualitativer Forschung. Zur Unberechenbarkeit des Subjekts (2016, VS). Derzeit arbeitet er für die Bildungsstätte Anne Frank und die International Psychoanalytic University Berlin.

E-Mail: tom.d.uhlig@gmail.com