Humanistische Suchtarbeit in Bedrängnis

Daniel Sanin

Zusammenfassung

Anhand konkreter Probleme, vor die sich die Drogenhilfe in Wien angesichts einer Finanzierungsumstellung im Rahmen des New Public Management gestellt sieht, wird eine Bedingungs‑/Bedeutungsanalyse im Sinne der Kritischen Psychologie versucht. Anhand der kritischen Analyse der vorfindlichen Bedingungen, Bedeutungen und Denkformen wird nach den Beschränkungen und Möglichkeiten einer humanistischen Suchtarbeit gefragt. Gleichzeitig werden auch die Grenzen der humanistischen Suchtarbeit selbst aufgezeigt.

Schüsselwörter: Drogenhilfe, New Public Management, humanistische Suchtarbeit

Summary

Humanistic Drug Counseling in Distress

Starting from concrete problems that practitioners in the Viennese drug field are facing due to neoliberal changes in the funding system, a critical-psychological analysis of the conditions and meanings is unfolded. The constraints and possibilities of a humanistic drug work under the concrete conditions are explored. Finally, the boundaries of a humanistic approach itself are brought into question.

Keywords: Drug aid system, New Public Management, humanistic Drug Counseling

Einleitung

Der vorliegende Text stellt eine an der Kritischen Psychologie (Holzkamp 1985; Markard 2009; Meretz 2012) orientierte problembezogene Bedingungs‑/Bedeutungsanalyse dar. Er basiert somit auf den eigenen Erfahrungen und Beobachtungen in einer ambulanten Wiener Einrichtung aus dem mittelschwelligen Drogenhilfebereich bzw. den sich dort zeigenden konkreten Problemen und versucht, die konkreten Bedingungen der Suchthilfe sowie ihre Veränderungen zu reflektieren im Hinblick auf Behinderungen und Möglichkeiten der Handlungsfähigkeit.

Anlass ist die Finanzierungsumstellung der Drogenhilfe, die 2015 implementiert wurde. Die fortschreitende Durchkapitalisierung aller Lebensbereiche, zusammengefasst unter dem Terminus »Neoliberalismus«, hat hier einen weiteren Bereich sich untergeordnet: Die Suchthilfe in Wien unterliegt nun dem Regime des »New Public Management« (AGNPM 2012; Bröckling 2000).

Diese Umstellung hat bei den Vereinen viel Unmut ausgelöst. Gleichwohl gab es von keiner Seite öffentlichen oder irgendwie organisierten Protest. Der Unmut entlud und entlädt sich in einzelnen Sitzungen, in Tür- und Angelgesprächen oder im privaten Kontext. Die Veränderungen werden wohl als übermächtig wahrgenommen, als schlecht, aber alternativlos. Die vorherrschende Haltung ist: Wir arbeiten weiter im Dienst der Klient_innen, wenn auch unter erschwerten Bedingungen. Es offenbart sich hier ein grundsätzliches Problem: das fehlende politische Bewusstsein der humanistischen Suchtarbeit.

Ich möchte meine Analyse mit der Kritik vorherrschender Bedeutungsangebote und Denkformen beginnen, dann die konkreten Bedingungen bzw. ihre Veränderungen skizzieren, unter welchen Suchtarbeit stattfindet und abschließend die Begrenzungen der humanistischen sowie die Potentiale und Möglichkeiten einer kritischen Suchtarbeit beleuchten.

Das Suchtdispositiv

Beginnen wir mit den im Suchtbereich vorherrschenden Bedingungen und Denkformen, welche für die Menschen, die sich im Kontext ihrer alltäglichen Lebensführung (vgl. Bader & Weber 2016) darin bewegen – sei es hinsichtlich der Suche nach Hilfe wie auch der Lohnarbeit – Angebote darstellen, die Realität, wie sie sich ihnen darbietet, zu strukturieren und ihre Handeln daran und darin auszurichten.

Sind Süchtige schwach? Sind sie Opfer? Krank? Alle diese Diskurse – den moralischen, den bedingungszentrierten, den pathologischen – sind parallel wirksam im Suchtdispositiv (siehe Sanin 2015). Das Suchtdispositiv definiere ich als einen Komplex aus Praktiken, Diskursen, Begriffen, Instrumenten, Institutionen und Positionen, die im gesellschaftlichen Gewebe identifizierbar, sichtbar und wirkungsmächtig sind:

Alle Elemente dieses Komplexes beziehen sich aufeinander und bestärken sich in ihrer Wirkmächtigkeit. Durch eine funktionierende Praxis wird Realität geschaffen (vgl. Berger & Luckmann 1980)

Eine Institution, in der sich die drei eingangs erwähnten Diskurse finden und auf die ich mich im Folgenden konzentrieren möchte, ist die Drogenhilfe. Ziel der Drogenhilfe laut Drogenkonzept der Stadt Wien ist es, »Suchtkranke mit allen heute zur Verfügung stehenden Mitteln zu behandeln, so wie dies auch bei anderen Erkrankungen selbstverständlich ist. Dort, wo eine Heilung nicht, noch nicht oder nur teilweise möglich ist, ist es das Ziel, die zusätzlichen Erkrankungen und Schäden, die durch Drogenkonsum entstehen, möglichst gering zu halten.« (SDW 2013, S.17)

Der pathologische Diskurs

In diesem strategischen Ziel der Stadt Wien ist somit der pathologische Diskurs vorherrschend: Sucht ist eine Krankheit, vergleichbar mit anderen Erkrankungen und Ziel ist die Heilung und wo das nicht möglich ist, die Schadensminimierung. Durch die Formulierung »mit allen Mitteln« wird zudem Aktualität, Modernität, Wissenschaftlichkeit suggeriert: wir sind am letzten Stand, »state of the art«, und folgen der »best practice«.

Wie sieht sie nun aus, diese Krankheit? : sie »stellt eine schwere körperliche, seelische und soziale Beeinträchtigung dar« (S. 15). »Zwischen Suchtkrankheit, sozialer Desintegration und Verelendung bestehen enge Zusammenhänge, wobei Sucht oft das Symptom einer tiefer gehenden Störung ist.« (S. 15). Das bedeutet somit, dass diese »schwere körperliche, seelische und soziale Beeinträchtigung« geheilt werden soll.

Das aktuelle Modell der Drogenpolitik fußt auf drei bis vier Säulen: Repression (Sicherheit), Prävention (Vorbeugung) und Behandlung. Harm Reduction (Schadensminimierung) wird teilweise als 4. Säule ins Treffen geführt. Darunter sind niedrigschwellige Angebote zu verstehen, die zum Ziel haben, eine prinzipielle Anbindung an eine basale gesundheitliche Versorgung zu gewährleisten, um eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu vermeiden. Das sind dann beispielsweise Spritzentausch, Wundversorgung, Heroinausgabe, Konsumräume, Substitutionsbehandlung u. ä. m. Diese Maßnahmen dienen nicht der eigentlichen »Heilung« der »Suchterkrankung« sondern sollen (fürs erste) eine Verschlechterung verhindern. In der Behandlung selbst wird neben niedrigschwelliger Suchtarbeit (wo hauptsächlich Maßnahmen der Harm Reduction anzusiedeln sind, z. B. Streetwork, Tageszentren, Notschlafstellen usw.), mittelschwelligen (ambulante Beratungs- und Behandlungszentren) und hochschwelligen (stationäre Einrichtungen, Psychotherapie) Angeboten unterschieden.

Wenden wir uns nun dem prävalenten Menschenbild zu, das in der Suchthilfe anzutreffen ist. Ich definiere es als das humanistisch-pathologisierende, da sich in ihm eine akzeptierende und verstehende Zuwendung zur Person mit der Grundannahme einer vorliegenden psychischen Störung bzw. Erkrankung vereint. Dieses humanistische Menschenbild konnte sich in der Suchtarbeit erst mit der HIV/AIDS-Krise in den 1980er zu etablieren beginnen. Diese Erkrankung verschob die hochriskant Konsumierenden vom karitativ-moralischen Betreuungsterrain aufs medizinische. Durch den unermüdlichen Einsatz und das Lobbying von Expert_innen und Betroffenen ist es gelungen, »Sucht« in der Drogenpolitik als Krankheit zu platzieren (vgl. z. B. Hari 2015, S.419ff.). In der medizinischen Forschung gab es zwar schon länger den Blick auf Drogenkonsument_innen als Kranke, in der Gesellschaft und ihren Verwaltungsorganen allerdings blieb der moralische dominant. Durch diesen pathologischen Blick war es möglich, die teilweise durchaus extremen Handlungen mancher Drogenkonsument_innen (in selbst-, wie auch fremdschädigendem Sinne) weg von der moralischen Schwäche, fehlendem Willen, schlechtem Charakter etc. hin zu einer krankheitsbedingten Dynamik zu verschieben.

Die Klient_innen der Drogenhilfe brauchten somit nicht moralische Verurteilung, bestrafende Ausgrenzung oder Korrekturmaßnahmen aus dem Bereich der »schwarzen Pädagogik« (vgl. besonders drastisch Vandreier 2012, S.21) sondern Verständnis für ihre psychischen Probleme und konkrete medizinische, sozialarbeiterische und psychologische Hilfestellungen. Gleichwenig wie mensch jemandem mit einem Beinbruch sagt, er solle sich nicht so haben und gefälligst gehen, ging es nun darum, die richtige Behandlung für die suchtkranke Person zu finden, die für diese auch passt und von ihr angenommen werden kann.

Die paradigmatische Verschiebung fand somit von einer harten, disziplinierenden hin zu einer weichen, verstehenden Haltung statt. Es ist wichtig, diese Haltung als zentrale Säule der Identität der akzeptierenden Suchtarbeiter_innen zu verstehen. Die sogenannte akzeptierende Drogenhilfe versteht sich als expliziten Gegenentwurf zur (damals, zur Zeit des Beginns des Paradigmenwechsels dominanten) repressiv-unterdrückenden Drogenhilfe. Es ging darum, den Mensch in den Blickpunkt zu rücken, nicht das Problem (Stöver 2000, S.38).

Die Situation in Wien

Für Wien lässt sich sagen, dass die Harm Reduction von der Pionierarbeit im Regelbetrieb angekommen ist. Das bedeutet, dass die Zeit der Innovation vorüber ist und die etablierten Vereine und Institutionen sich den vorhandenen Markt aufteilen bzw. auch in Konkurrenz zueinander stehen. Diese Konkurrenz hat sich durch die 2015 eingeführte Umstellung der verwaltenden Organisation, der Sucht- und Drogenkoordination Wien (SDW), einer hundertprozentigen Tochter der Stadt Wien, auf das sogenannte New Public Management (oder auch Total Quality Management; vgl. Bröckling 2000, S. 135ff.) spürbar verschärft.

Wo vorher jede Einrichtung ein Budget zur autonomen Verfügung hatte, geht es nun um einzelne Fälle, die auch pro Einrichtung einzeln verrechnet werden. Das erste Opfer dieser Umstellung war die anonyme Drogenberatung, die es de facto nicht mehr gibt. Um eine Beratung in Anspruch nehmen zu können, die ein einmaliges Informationsgespräch übersteigt, muss die ratsuchende Person Ausweis und Meldezettel vorweisen und einen Antrag auf Behandlung unterzeichnen. Dem Antrag folgt nach dem zweiten persönlichen Kontakt ein Maßnahmenplan, der mit Informationen zu familiärem, sozialem, beruflichem und gesundheitlichem Bereich, sowie mit ausführlichen Informationen zu konsumierten Substanzen an das Institut für Suchtdiagnostik (ISD), einer Abteilung der SDW, geschickt wird. Zentraler Bestandteil dieses Maßnahmenplans ist die sogenannte multidimensionale Diagnostik, ein Instrument, mit dem Verläufe der »Suchterkrankung« sichtbar werden sollen. Diese multidimensionale Diagnostik weist starke Parallelen zum 5 Säulen Modell von Petzold (Klumpp 2006, S.309) auf und umfasst die Dimensionen Wohnen, Finanzen, soziale Beziehungen, psychische und physische Gesundheit sowie – logischerweise – Konsum. Die multidimensionale Diagnostik wird vom betreuenden Personal hinsichtlich der eingeschätzten Problemlageintensität befüllt. Die multidimensionale Diagnostik sollte – so ist es vom Geldgeber gewünscht – immer aktuell gehalten werden. Obligatorische Aktualisierungszeitpunkte sind jedenfalls Beginn der Behandlung, Maßnahmenplanänderung oder -verlängerung, sowie spätestens das Quartalsende.

Die »Module« – so werden nun die Behandlungszeiträume genannt – sind in unterschiedliche Intensitäten unterteilt, von zwei Kontakten pro Woche bis zu ein Mal pro Monat. Je nach Intensität variiert die Dauer: je intensiver, desto kürzer das Modul. Sollten intensive Module zu oft hintereinander beantragt werden, ist das gesondert zu begründen.

Die Bedrohung

Warum nun ist diese Finanzierungsumstellung interessant bzw. wie ist ihre Zusammenhang mit der humanistischen Grundhaltung, die ja – wie ich mit dem Titel dieses Beitrages meine – in Bedrängnis ist? Zum einen kann das Total Quality Management als Teil einer »neoliberalen« Umstrukturierung des Wohlfahrtsstaates definiert werden (AGNPM 2012, S.4f.). Das bringt insofern einen Paradigmenwechsel mit sich, da nun das Gesundheits- und Sozialsystem nach wirtschaftlichen Managementkriterien geführt wird und dessen Instrumente und Begriffe übernommen werden. Es werden strategische und Wirkungsziele definiert, Benchmarks gesetzt, Patient‑/Klient_innen werden zu Kund_innen, der therapeutische/medizinische Prozess zur Dienstleistung usw.

Es gibt eine Seite dieses Prozesses, die sich strukturell auf die Klient_innen auswirkt, nämlich wenn bestimmte Maßnahmen ab einem bestimmten Punkt (z. B. zu viele Abbrüche oder Rückfälle) nicht mehr bewilligt werden. Diesen Fall hat es in Wien noch nicht gegeben, allerdings sind wir erst am Beginn des Prozesses.

Auf der Seite der Berater‑/Behandler_innen gibt es die direkte Auswirkung, dass die Dokumentations- und Nachweispflicht hinsichtlich der Arbeitsleistung um ein Vielfaches gestiegen ist. Da ja nur pro erfolgter Dienstleistung am »Fall« abgerechnet werden kann bzw. das die »Kernleistung« darstellt, muss auch jede Handlung »am« Klienten/«an der« Klientin nachweisbar und dokumentiert sein.

Es obliegt somit den einzelnen Mitarbeiter_innen, das Geld für den Betrieb einzutreiben, zum einen, indem die nötigen Dokumente für die Identitäts- und Residenzfeststellung verlangt werden, damit diese eingescannt und ins System hochgeladen werden können, des Weiteren den Antrag auf Behandlung unterzeichnen zu lassen, damit dieser samt festgestellter Identität und Wohnsitz ans ISD weitergeschickt werden kann. Erst damit wird die/der Klient_in zum »Fall« auf der Finanzierungsebene. In Folge muss die/der Mitarbeiter_in die Daten der multidimensionalen Diagnostik einholen und »pflegen«. Nur »gute« und vollständige Daten können verschickt und somit verrechnet werden. Wenn nun eine hilfesuchende Person gerade (scheinbar) chaotisch diverse Substanzen konsumiert, evtl. obdachlos ist und zu den Gesprächen teilweise beeinträchtigt kommt – beispielsweise unter Einfluss von Benzodiazepinen, die das Erinnerungsvermögen trüben – zwischen Wohnungslosenhilfe, Arbeitsmarktservice, Sozialamt und Bewährungshilfe eh schon mit überfordernden Terminen vollgestopft ist, dann kann es schon passieren, dass es lange dauert, bis die nötigen Papiere zusammenkommen. Ob diese Person dann eine »Leistung« bekommt, hängt dann nur noch von der Kompliz_innenschaft der Betreuer_innen ab, indem sie sich gegen das geldgebende System, den eigenen Betrieb und letztlich gegen den eigenen Arbeitsplatz stellen, ob die formale Unmöglichkeit (durch nicht abgesicherte Finanzierung) übersehen wird oder ob es zwar auffällt, die Hausleitung aber noch einmal Kulanz walten lässt.

Der Perspektivenwechsel sollte nun klar ersichtlich sein: der erste Blick ist nicht mehr ein humanistisch-helfender sondern ein bürokratisch-finanzieller. An erster Stelle muss mich als Mitarbeiter_in interessieren, ob dieser »Kunde« Geld bringt – erst dann bekommt er meine Dienstleistung. Die datenzentrierte Finanzierungslogik schiebt sich somit zwischen meine humanistische Grundhaltung und die Herangehensweise an die Klientin/den Klienten. Vor dieser Umstellung war die Herangehensweise klar: Jemand kommt und ich kann offen in ein Abklärungsgespräch gehen und mich voll inhaltlich auf die Person einlassen. Mittlerweile brauche ich eine gedankliche oder tatsächliche Checkliste, ob alle relevanten Dokumente vorhanden sind und die zentralen Informationen abgefragt wurden.

Die humanistische Haltung

Es muss hervorgehoben werden, dass die humanistisch-pathologisierende Haltung zwar eine Verbesserung zur disziplinierend-repressiven darstellt, aber nicht mit einer subjektwissenschaftlichen Sicht, wie sie beispielsweise von der Kritischen Psychologie vertreten wird, darstellt. Die Kritische Psychologie geht davon aus, dass der Mensch immer begründet handelt. Das heißt nicht, dass einer/einem die eigenen Gründe immer klar sind, im Gegenteil, oft sind diese verdrängt oder auch in Gewohnheitshandlungen »automatisiert« aufgehoben. Bei der humanistisch-pathologisierenden Haltung kann ich jedoch wahlweise Handlungsgründe annehmen oder auch nicht. Wenn ich z. B. davon ausgehe, dass bei der Klientin eine psychische Krankheit oder eine Suchterkrankung vorliegt, erübrigt sich die Suche nach tieferliegenden Gründen. Die Pathologisierung – also das Ersetzen der Analyse des »Prämissen-Begründungs-Handlungszusammenhangs« durch die Annahme einer handlungssetzenden Instanz, in diesem Fall einer Krankheit – schneidet somit den Prozess einer intersubjektiven Verständigung ab: Es ist mir völlig klar, warum Du so handelst, nämlich, weil Du krank bist (auch wenn Dir das selber vielleicht nicht klar ist – was auch zu Deiner Krankheit passt) (vgl. Markard 2009, S.189).

Den gleichen Effekt des Abschneidens finden wir beim bedingungszentrierten Ansatz. Es handelt sich hierbei sozusagen um den soziologischen Ansatz: die Bedingungen prägen den Menschen, er ist Produkt der gesellschaftlichen/sozialen/kulturellen Umstände. Für das klassische Bild der süchtigen Person, bzw. noch klarer des »Junkies«, wäre das z. B. desintegriertes/dysfunktionales Elternhaus, evtl. »problematisches« Viertel (Armut, Bildungsferne, Kriminalität), schlechte Erfahrungen in der Schule/gescheiterte Schulkarriere, missglückter Einstieg ins Berufsleben, »falscher« Freundeskreis, evtl. Traumatisierungen, Stigmatisierungen etc. Die Person wird hier tendenziell implizit und/oder explizit als passiv angesehen, sie ist ein reaktives Produkt der Bedingungen. Mit reaktiv meine ich hier, dass jede Person sich in den Reaktionen auf diese Umstände unterscheidet.

Dieser theoretischen Grundannahme der Helfer_innen entspricht auf Handlungsebene das Konzept der »Parteilichkeit«. Damit ist hier gemeint, dass die Helfenden zu Unterstützer_innen und Fürsprecher_innen der »Opfer« werden.

Das Potential einer Kritischen Sozialarbeit

Die Kritische Psychologie bezieht die strukturellen Bedingungen ebenfalls mit ein, die Analyse selbiger ist der erste Schritt bei einer Problemanalyse. Da es sich bei der Kritischen Psychologie um eine marxistische Subjektwissenschaft handelt, steht die kritische Analyse der gesellschaftlichen Gegebenheiten am Anfang (Markard 2009, S.268; Meretz 2012, S.129). Wichtiger Aspekt in der kritisch-psychologischen Analyse ist die Miteinbeziehung der eigenen gesellschaftlichen Position in die Kritik. Mittels des Konzeptes der »alltäglichen Lebensführung« (Holzkamp 2016) ist die eigene tägliche Praxis in der Gesellschaft analysierbar und zur Diskussion gestellt. Ausgehend von konkreten Problemen, mit denen ich mich in meinem konkreten täglichen Leben herumschlage, wird die Frage gestellt, wo (in welchen Situationen, bei welchen Handlungen) ich mich in den herrschenden Bedingungen verstrickt/einrichte, weil ich sie unangetastet lasse und nur in ihnen, also restriktiv, handle und wo ich im Gegensatz dazu versuche, die Bedingungen selbst zu verändern, in eine gerechtere und partizipativere, also verallgemeinerte Richtung (vgl. Meretz 2012, S.98ff. sowie Markard 2009, S.180ff.).

Dort, wo humanistische Suchtarbeit die eigene Eingebundenheit in gesellschaftliche Bedingungen und Missstände »vergisst«, macht sie sich mitschuldig an der Erhaltung des schlechten Status Quo. Sie wird so zu einem bloßen Element der Reproduktion des falschen Ganzen.

Nichtsdestotrotz macht es für Menschen, die wegen drogenbezogenen Problemen Hilfe suchen, einen großen Unterschied, ob sie zu einer mitfühlenden, anteilnehmenden Person in Beratung gehen oder zu einer, die eine_n im aktuellen Zustand (implizit und oder explizit) verachtet und »Hilfe« nur anbietet wegen der Hoffnung, dass aus diesem elenden Geschöpf doch noch ein »Mitglied der Gesellschaft« werden kann.

Nun ist es nicht so, dass diese alte, repressive Haltung im Hintergrund wartet, um im geeigneten Augenblick ausreichender Schwächung der humanistischen Position das Ruder zurückzuerobern – das Krankheitskonzept ist mittlerweile zu tief verankert im medizinischen und Verwaltungsapparat (Schneider 2001).

Erinnern wir uns an Foucaults Analyse des Übergangs von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft (Foucault 2006): Es ist heute keine Frage mehr, »den Süchtigen« zu brechen und durch Arbeitsdisziplin wieder aufzubauen, wie das bis in die 1970er Jahre noch die Regel war (vgl. Vandreier 2012, S.21). Wir leben in Zeiten des unternehmerischen Selbst (vgl. Bröckling 2000), der Kompetenz (Gelhard 2012; Sanin 2011), der Förderung (Hilfe zur Selbsthilfe). Wenn dann alles getan ist und das Subjekt immer noch am selben Punkt ist, hat es in der »Arbeit an sich selbst« versagt. Von der Finanzierungslogik her ist es dann nur konsequent, alle weiteren Förderungen einzustellen und sich damit abzufinden, dass das Subjekt kein »Wachstumspotential« aufweist. Das könnte konkret bedeuten, dass der Status Quo erhalten bleibt, die Person z. B. weiterhin Substitution bekommt, ihr aber mangels günstiger Prognose keine Entzugstherapie mehr finanziert wird (was, wie gesagt, bislang in Wien noch nicht vorkam).

Eigentlich wäre es gerade ein guter Zeitpunkt für alle im Suchthilfesystem Arbeitenden, sich der eigenen Verstricktheit in das gesellschaftliche Suchtdispositiv und gleichermaßen der Parallelität des Zugriffs kontrollierender Logiken auf sie selbst wie auf die Klient_innen bewusst zu werden und Momente und Orte des solidarischen Handelns zu etablieren. Bereits existierende Plattformen und Netzwerke, wie z. B. der Verein österreichischer Drogenfachleute, das Wiener Drogenvernetzungsteam oder die Initiative Drogenkonsumraum, bieten aktuell keinen unterstützenden Rahmen, um den Unmut in eine verändernde Praxis zu transformieren. Der Verein österreichischer Drogenfachleute ist ein loser, interdisziplinärer Zusammenschluss diverser Praktiker_innen aus dem breiten Feld der Drogenarbeit, der sich einem humanistischen und solidarischen Menschenbild verpflichtet fühlt, gelegentlich Stellungnahmen verfasst und Weiterbildungen organisiert (vgl. http://www.oevdf.at/leitbild/; 1.9.16). Das Drogenvernetzungsteam ist ein regelmäßig stattfindendes Vernetzungstreffen von Praktiker_innen aus der Wiener Drogenhilfe mit dem hauptsächlichen Ziel des Austausches praxisrelevanter Informationen. Dadurch, dass die Stadt Wien den gesamten Bereich der Harm Reduction an sich gerissen hat, sitzen in diesen Treffen Vertreter_innen von Einrichtungen, die der SDW angehören. Das mag einen Austausch über die Möglichkeiten, sich gegen die Politik der SDW und der Stadt Wien zu wehren, erschweren. Die Initiative Drogenkonsumraum schließlich ist ein Zusammenschluss anonymer Aktivist_innen, die sich eine zeitlang für die Errichtung von Konsumräumen in Wien eingesetzt hat, inzwischen aber nicht mehr spürbar aktiv ist.

Die Reflexion der eigenen Verstricktheit in die Verhältnisse, unter denen mensch leidet, ist eine Herausforderung. Liebgewonnene Gewissheiten müssen hinterfragt und evtl. aufgeben werden und eine aktive Kritik an der eigenen Arbeit kann Probleme und Konflikte mit den Kolleg_innen und dem Arbeitgeber zur Folge haben. Das ist es, was eine Erweiterung der eigenen Handlungsfähigkeit zu einem Risiko macht: Durch den Versuch, die Verfügung über die Bedingungen, unter denen ich handle, zu erweitern, kann zur Folge haben, dass ich durch den Widerstand oder die Ablehnung, die mir dabei entgegengebracht wird, auch noch die Bedingungsverfügung verliere, die ich bis dato hatte. Daher ist es zentral, dass ich mich über meine Handlungsgründe mit anderen verständige, damit deutlich werden kann, wo und wie gemeinsames Handeln möglich und sinnvoll ist.

Trotzdem könnte die humanistische Suchtarbeit nur durch den Schwenk zur Reflexion der eigenen Eingebundenheit in die (schlechten) Verhältnisse sich retten und ihr wahres Potential entfalten, indem sie von der humanistischen eben zur kritischen Suchtarbeit wird.

Literatur

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Bröckling, Ulrich (2000): Totale Mobilmachung. Menschenführung im Qualitäts- und Selbstmanagement. In Ders., Krassmann, Susanne & Lemke, Thomas (Hrsg.). Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt/M. (Suhrkamp), S. 131-167

Foucault, Michel (2006): Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Frankfurt/M. (Suhrkamp).

Gelhard, Andreas (2012): Kritik der Kompetenz. Zürich (Diaphanes).

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Meretz, Stefan (2012): Die ‚Grundlegung‘ lesen. Einführung in das Standardwerk und ihre Veränderungen von Klaus Holzkamp. Norderstaed (Books on Demand).

Sanin, Daniel (2011): Suchtprävention als Selbstdiziplinierung: Auf der Suche nach den Subjekten. In Weber, Klaus (Hrsg.): Sucht. Texte Kritische Psychologie I. Hamburg (Argument), S. 155-180

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Stöver, Heino (2000): Fachliche Innovationen und drogenpolitische Bewegungen: »Was wir wollten, was wir wurden.« In akzept e. V. (Hrsg.). Gesellschaft mit Drogen – Akzeptanz im Wandel. Dokumentationsband zum 6. Internationalen akzept Drogenkongress. Berlin (VWB), S. 35-47

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Vandreier, Christoph (2012): Drogenkonsum als begründete Handlung. Berlin (VWB).

Über den Autor

Daniel Sanin

Daniel Sanin, geb.1971, klinischer und Gesundheitspsychologe, als Psychologe in einem Wiener Drogenhilfeverein angestellt. Schwerpunkte: Drogenpolitik, Suchtberatung, Suchtprävention.

E-Mail: mag.danielsanin@gmail.com