Kunstwerke können in ihrer Abstraktheit Erwartungshaltungen und Vorurteile gegenüber bestimmten Personengruppen besonders gut widerspiegeln. Oft prägen unterschwellige Ängste und Wunschvorstellungen die zugrundeliegenden Erwartungshaltungen. Besonders in Kriminalfilmen zeigt sich eine seltsame Doppelung in den Ansprüchen gegenüber Psycholog_innen: Sie sollen sowohl gleichzeitig das Vergangene rekonstruieren bzw. das Rätsel lösen als auch den Täter entlarven bzw. künftige Opfer schützen oder retten. Die in den Werken angelegten Charaktere lassen deshalb Rückschlüsse auf die Grundspannungen im oft unreflektierten Bild von der Aufgabe und der Leistungsfähigkeit von Psycholog_innen zu. Eine Untersuchung der verschiedensten Figuren aus Fernsehen und Filmen (von Dr. Eddie »Fitz« Fitzgerald über Dr. Hannibal Lecter bis zu Dr. Helen Hudson) führt in die Problematik ein. Eine Untersuchung der Figur der Dr. Vera Bergman im Tatort Heimatfront überprüft die Ergebnisse und führt zu allgemeineren Aussagen. Theoretische Grundlagen der Untersuchung bilden vor allem erzähltheoretische Ansätze, die Gegenübertragungsanalyse als Instrument der Literaturwissenschaft im Sinne von Carl Pietzcker sowie die Theorie Melvin Lerners »Belief in a just World«.
Schüsselwörter: Erlösung, belief in a just world, Gegenübertragung, Kunstwerke als Spiegel, Lebensgeschichten, Serienmörder, Überforderung
Redemption through reconstruction and solving riddles
What is the reason why psychologists in crime-movies are often portrayed as almighty and shady saviors? And what does that mean?
Works of art can due to their abstractness mirror expectations toward certain groups. Often, subliminal fears and conceptions of wishes shape these expectations. Especially in crime movies, a curious doubling in the underlying demands on psychologists appears: At the same time, they should reconstruct what has happened, should solve the problem, as well as to convict the perpetrator and save and protect future victims. The characters lead to conclusions on the basic tensions apparent in the often unconsidered picture of the task and the efficiency of the work of psychologists. The examination of several characters in television-series and films (from Dr. Eddie »Fitz« Fitzgerald and Dr. Hannibal Lecter to Dr. Helen Hudson) introduces the topic. A close-reading of the character Dr. Vera Bergman in the German Tatort Heimatfront (homefront) reviews the results and leads to more general conclusions. As a theoretical base, I choose narratological accounts, countertransference-analysis as defined in literary theory by Carl Pietzcker and Melvin Lerner's »Belief in a just World«.
Keywords: belief in a just world, countertransference, excessive demands, life-stories, redemption, serial-killers, works of art as mirrors
Jeder Mensch hat eine eigene Lebensgeschichte, die er auch meist zu formulieren versucht. Lebensgeschichten können aber schlecht oder gar nicht erzählbar sein. Bei der rückblickenden Rekonstruktion oder Formulierung einer Lebensgeschichte sollen deshalb oft Psycholog_innen helfen. Welche Erwartungen werden nun dabei an Psycholog_innen herangetragen? Und was geschieht, wenn sie diesen Erwartungen nicht gerecht werden oder gar nicht gerecht werden können?
Versteht man Kunstwerke (auch) als Spiegel und Ausformulierung solcher Erwartungen und Ängste, so kann die Untersuchung der Inszenierung von Psycholog_innen in Extremsituationen (wie etwa bei der Aufklärung eines Verbrechens oder eines Mordes) dabei helfen, unreflektierte oder nicht ausgesprochene Vorannahmen auf den Charakter und auf die Erfolgsaussichten solcher Hilfe offenzulegen, um die im wahrsten Sinne des Wortes Vor-Urteile über die Rolle und die Möglichkeiten von Psycholog_innen besser zu verstehen.
Schaut man sich in der Fernseh- und Kinolandschaft auch nur ein wenig um, so fällt schnell auf, welch seltsamen Status Psycholog_innen in Kriminalfilmen oder -serien haben. Sind sie nicht direkt an der Aufklärung eines Falles beteiligt, sind also nur Nebenfigur, wirken sie meist nicht besonders auffällig (wie etwa in der Fernsehserie »Monk« Dr. Charles Kruger, der zu keinem Zeitpunkt die Fassung verliert und seinen äußerst fordernden Patienten Adrian Monk geduldig und professionell begleitet und unterstützt).
Werden Psycholg_innen jedoch zur Hauptfigur eines Films oder einer Serie, bietet sich meist ein völlig anderes Bild. Einige Beispielfälle sollen dies als Einstieg in die Problematik erläutern:
1. Die zwischen 1993 und 1995 in England ausgestrahlte und im Anschluss in das deutsche Fernsehprogramm übernommene Fernsehserie Für alle Fälle Fitz war ein Straßenfeger. Die in Manchester spielende Serie um den Kriminalpsychologen Dr. Eddie »Fitz« Fitzgerald drehte sich um komplizierte Mordfälle, die von der Polizei nur durch die Mithilfe bzw. die unkonventionellen Methoden von Fitz aufgeklärt werden konnten. Der agiert dabei als Cracker (so der englische Originaltitel), d. h. als Profiler, der den ansonsten unlösbaren Fall aufbricht, indem er sich in die Psyche des Täters hineinversetzt: Versagt er, kommen die Täter ungeschoren davon, d. h. alle Verantwortung liegt letztlich allein bei ihm.
Die englische Titelformulierung ist nicht übersetzbar, da es keinen entsprechenden Begriff im Deutschen gibt. Die eigenständige deutsche Version des Titels wurde doppeldeutig angelegt: Fitz löst alle Fälle, auf ihn ist aber auch immer bzw. in jedem Fall Verlass. Dabei ist er keineswegs als leuchtend-positiver Charakter oder sympathische Identifikationsfigur angelegt: Er trinkt, ist Kettenraucher, süchtig nach jeder Form von Glücksspiel, adipös und verbittert-sexistisch (in einer der ersten Folgen trennt sich seine Frau von ihm). Doch gerade diese zwielichtige Anlage scheint die Figur des rätsellösenden Psychologen für das Publikum glaubhaft gemacht und ihm nahegebracht zu haben (Robbie Coltrane, der später als Riese Hagrid in den Harry-Potter-Verfilmungen international bekannt wurde, feierte hier seinen Durchbruch).
2. Von 2002 bis 2008 lief im englischen Fernsehen Blood in the Wire, in der deutschen Fassung Hautnah. Die Methode Hill. Die Serie fußt auf Charakteren, die die Krimiautorin Val McDermid entwickelt hatte. Hauptfigur ist der klinische Psychologe Dr. Anthony »Tony« Valentine Hill, der zusätzlich neben seiner Arbeit für die Polizei an der Universität unterrichtet (auch hier gelang dem Hauptdarsteller, in diesem Falle Robson Green, mit der Rolle sein internationaler Durchbruch). Für Dr. Hill existiert eine Grenze zwischen Privat- und Berufsleben (wie bei den meisten Psycholog_innen im Film) nicht. Er ist jedoch in der Lage, indem er sich seiner dunklen Seiten erinnert, sich mit jedem zu identifizieren: Er ist quasi über-empathisch, was der deutsche Titel der Serie Hautnah wiederzugeben versucht. Dies geht so weit, dass er in der Episode Synchronicity von 2006 einen Scharfschützen, der sich ohne System wahllos irgendwelche zivilen Opfer aussucht, nur deshalb entlarven kann, weil er selbst wegen eines Hirntumors sich immer absurder verhält und immer abwegigere Theorien entwickelt: Erst seine Krankheit erlaubt es ihm, dem völlig unberechenbar handelnden Mörder durch die eigene krankheitsbedingte Irrationalität nahezukommen.
Da es sich meist um Serienverbrechen handelt, besteht Hills Aufgabe für die Polizei darin, unter Zeitdruck ohne viele Anhaltspunkte oder Beweise nur durch sein Einfühlungsvermögen und seine Intuitionen den Täter einzukreisen und am Ende zu entlarven, oft auch deshalb, um neuerliche Opfer zu verhindern bzw. ein noch lebendes Opfer, das sich in der Gewalt des Killers befindet, zu retten. Dabei kann er sich so unaufgeregt wie unvoreingenommen und gleichzeitig zugewandt sowohl in Opfer als auch Täter hineinversetzen (und das ist wohl ohne Beispiel): In der Episode Redemption von 2005 etwa beruhigt er eine Täterin, von der sich jeder andere mit Entsetzen abwendet. Die schläfert Kinder ein (von ihr diesen gegenüber als liebevolle Schutzgeste vor der Welt verstanden), bahrt sie in einer leeren Halle auf und lässt sie dort verwesen. Hill verspricht ihr nun, sich um »ihre Jungs« zu kümmern, denn die Frau ist völlig verzweifelt, nachdem ein schwerbewaffnetes Sondereinsatzkommando ihre Halle gestürmt hat. Nur kurze Zeit später begegnet der Psychologe vor der Halle dem letzten Opfer der Frau, einem Jungen, der in eine Decke gewickelt allein sitzt, und bemerkt zu ihm, er habe nichts falsch gemacht, trage keine Schuld. Der Junge hebt daraufhin kurz den Kopf, nimmt zum ersten Mal wieder bewusst Kontakt mit der Außenwelt auf und atmet etwas befreiter durch.
Diese Empathiefähigkeit ist erstaunlich. Doch hat Hill entsprechend seiner Über-Zugewandtheit Schwierigkeiten, sich von den Fällen auch wieder zu distanzieren: Er lebt letztlich nur für seine Arbeit, ist selbst ein hochproblematischer Charakter, letztlich unfähig zu echter Kommunikation, Videospiel-süchtig und am liebsten allein.
3. Auch im bundesdeutschen Fernsehalltag wurde eine Serie um einen Psychologen oder Psychiater entwickelt und ausgestrahlt: Von 2002 bis 2013 lief die Serie Bloch um den gleichnamigen Psychiater. Der deckte seinen Patienten auf unkonventionelle Weise deren oft unklare Lebensgeschichte auf und verhalf ihnen zu ihrem Recht. Interessant ist dabei des Schauspielers Dieter Pfaffs Selbstverständnis in Bezug auf seine Rolle als »Bloch«. Im Interview bemerkt er (Interview o. S.):
Zur Ausbildung eines Schauspielers gehören viele Übungen, die aus der Psychotherapie kommen. Ich wollte selbst mal Therapeut werden. Diesem alten Berufswunsch entstammt auch das Interesse für die Figur Bloch. Die Beschäftigung mit Psychologie hat sich durch mein Leben gezogen. Trotzdem bin ich natürlich kein Fachmann. Ich bereite mich nur sorgfältig auf jede Rolle vor ― so wie es der Beruf des Schauspielers verlangt. Dabei lernt man immer etwas. Wenn mich dabei ein Berufsbild so sehr interessiert wie das des Psychologen, ist der Job natürlich umso schöner.
Die einzelnen Episoden hätten immer einen speziellen Charakter: Ein Film zeige in der Regel »das Rätsel, das es zu entwirren gilt«. Die wirkliche Therapie beginne aber »erst nach dem Film«. Auf die Frage, ob er Angst habe, »dass aufgrund der Dramaturgie beim Zuschauer die Idee entstehen könnte, Psychotherapie bestünde aus der Aufdeckung eines Rätsels und einer damit einhergehenden Spontanheilung«, antwortete er, er sei der Meinung,
dass Bloch das auch in fast jedem Film deutlich macht ― er zeigt dem Patienten eine Perspektive auf, nicht mehr. Eine Therapie dauert lange, sie besteht aus sehr viel Arbeit, sie tut weh, sie kann quälend sein. Doch es geht darum, dass aus unerträglichen Schmerzen irgendwann ein Schmerz wird, mit dem man umgehen kann.
Zumindest auf den zweiten Blick befremdlich an dieser Aussage ist, dass Bloch also allem Anschein nach von Außen und vor Beginn einer Therapie dem Patienten Empfehlungen für die Zukunft geben kann, also früh zumindest einen großen Teil der Problematik und der Lebensgeschichte überblickt und nur noch eine Marschrichtung vorgeben muss: Die Lösung erfolgt über ihn. Die auf den ersten Blick so warmherzig-joviale Figur erweist sich auch in anderen Zusammenhängen als direktiv, indem sie sich als höchste moralische Instanz versteht. So bemerkte Bloch in einer Folge empört, ein Suizid eines Patienten wäre ein Ding der Unmöglichkeit, der ihn an seiner Tätigkeit als Therapeuten zweifeln lasse, unabhängig davon, um welchen Patienten mit welcher Geschichte es sich handelte.
4. Eine seltsame Sonderstellung nimmt Robert Goren aus der amerikanischen Serie Criminal Intent ein. Goren ist kein gelernter Psychologe mit Doktortitel (wie die hier aufgeführten Figuren und ein Großteil der Psycholog_innen in anderen Filmen), sondern ein Savant und Polizist, der mit einem unglaublichen Gedächtnis und seltsamen Denkkombinationen vertrackte Fälle löst. Charakteristisch an dieser vielschichtigen Figur ist die Tatsache, dass er die eigentlichen Beweggründe und die Reaktionsweisen der Verdächtigen meist besser versteht als diese selbst und durch einen Bluff, eine erfundene Geschichte oder eine Provokation, die ohne ein genaues Erahnen der dann auch immer wie vorhergesehen reagierenden Verdächtigen bzw. Opfer ins Leere gehen würde, die Verdächtigen verunsichert und auf diese Weise in ein Geständnis hineinzwingt. Dies geschieht oft durch Druck ― sei es verbal durch Schreien, durch bewusstes Überschreiten von Intimgrenzen (oft sitzt er beim Verhör dem Verdächtigen quasi auf dem Schoß) oder plötzliche Wutausbrüche (wie Schlagen auf den Tisch und gleichzeitiges Anschreien). In solchen Szenen zeigt sich die emotionale Kälte und Distanziertheit der Figur bei gleichzeitig allergrößter Einfühlsamkeit, die nur selten von echtem Mitgefühl durchbrochen wird (viele Episoden enden mit einem zynischen Schlusssatz des detective).
5. Einen Extremfall in dieser Beispielreihe stellt Dr. Hannibal Lecter aus der Reihe von Romanen von Thomas Harris dar, der in den Verfilmungen mit Anthony Hopkins als Dr. Lecter bzw. »Hannibal the Canibal« wohl Eingang in das kollektive Gedächtnis gefunden hat und deshalb hier sehr viel ausführlicher behandelt werden soll.
Zu Beginn des ersten Bandes der der Reihe ist Dr. Lecter praktizierender Psychiater. Er tötet einen Flötisten, dessen amateurhaftes Spiel im Profi-Orchester ihn peinigt, und serviert dessen Leber den von ihm zu sich nach Hause geladenen Honoratioren der Stadt. Lecter wird später inhaftiert und tötet dabei fast den ihn überführenden FBI-Agenten. Dieser wird ihn nach seiner Genesung später umwerben und konsultieren müssen, um mit seiner Hilfe einen schwierigen Fall aufklären zu können (so im ersten Band bzw. in dessen Verfilmung Red Dragon).
Im berühmtesten (und zuerst mit Hopkins verfilmten) zweiten Teil der Trilogie The Silence of the Lambs spielt der Therapeut mit der angehenden FBI-Agentin Clarice Starling ein Quid-pro-quo-Spiel: Sie erzählt ihm von ihren leidvollen Erfahrungen aus ihrer Kindheit. So hatte sie das Schlachten von Osterlämmern auf einer Farm mitangesehen, hatte eines der Lämmer retten wollen, war gescheitert und wacht immer noch nachts mit Albträumen auf, in denen sie das Schreien der Lämmer hört. Dr. Lecter offenbart ihr jeweils im Gegenzug für ein erzähltes intimes Detail aus ihrer privaten Geschichte ein neues Detail, das ihr helfen könnte, einen Serienmörder zu fassen, der früher einmal einen von Lecters Patienten umgebracht hatte (dieser Serienmörder hat inzwischen die Tochter einer Senatorin entführt, und die Zeit wird knapp).
Dr. Lecter ist zu Beginn von The Silence of the Lambs im Hochsicherheitstrakt einer psychiatrischen Anstalt untergebracht, die geleitet wird von Dr. Chilton. Seine Zelle ähnelt dabei mit seinen roh behauenen Steinen jenem Ort, an dem Buffalo Bill sein nächstes Opfer gefangen hält. Der Leiter der Anstalt sieht in Lecter nun nicht den Patienten, sondern ausschließlich eine Chance, seine eigene wissenschaftliche Reputation zu verbessern (wieder einmal ist ein Psychiater im Film nicht am Wohl seiner Patienten interessiert, sondern benutzt sie für seine privaten Ambitionen): »So gut wie nie erwischt man einen [Serienkiller] lebend. Vom Standpunkt der Forschung aus ist Lecter unser wichtigster Aktivposten« (Film min. 7:48).
Zum einen ist Dr. Lecter nun ein äußerst kultivierter Mann, zeichnet in seiner Zelle ohne Vorlage hochdetaillierte Stadtansichten von Venedig oder Bilder von Starling, letztere mit einem Lamm auf dem Schoß, in Mona-Lisa-Pose und drei brennenden Kreuzen im Hintergrund auf einem Hügel ― wohlgemerkt bevor die junge Agentin ihm von den titelgebenden Lämmern erzählt hat. Er hört in der Zelle Musik (etwa die Goldbergvariationen, in Phrasierung und Anlage angelehnt an die epochemachende Interpretation von Glenn Gould aus dem Jahr 1982), liest leidenschaftlich, ist Wein- und Speisenkenner und ein vorzüglicher Koch.
Zum anderen hat er eine geradezu erschreckende Macht über Menschen. Dies wird schnell deutlich, als Starling ihn zum ersten Mal im Hochsicherheitstrakt besucht: Dr. Lecters Zellennachbar Miggs onaniert, während Starling vor der Glasscheibe von Dr. Lecters Zelle steht, und wirf ihr, als sie den Trakt verlassen will, sein Sperma ins Gesicht. Beim nächsten Besuch ist die Zelle neben Dr. Lecter leer: Der hat es allein durch Worte vermocht, den Zellennachbarn in den Suizid zu treiben.
Der Täter Dr. Lecter soll nun zum Retter der Senatorinnentochter werden bzw. dem FBI helfen. Er stimmt zu: »Ich biete ihnen ein psychologisches Profil von Buffalo Bill«, wie der Spitzname des Entführers und Serienkillers lautet. Der häutet seine Opfer teilweise und hinterlässt am Ort der Entführung zerschlitzte Kleidung. Die sei »zu einer ebenso schrecklichen wie vertrauten Visitenkarte geworden«, wie im Film ein Nachrichtensprecher ausführt.
Letztlich ist der Film (und der Roman) aufgebaut wie eine Therapie durch den allwissenden Therapeuten Dr. Hannibal Lecter an bzw. mit der Patientin Clarice Starling, sozusagen ein moderner Bildungsroman: Im gemeinsamen Gespräch bzw. im Quid-pro-quo-Spiel arbeiten sie die eigentlichen Motive von Starling heraus, den Fall der entführten Senatorinnentochter zu lösen und Anerkennung beim FBI zu finden: Sie will nämlich eigentlich die Lämmer in ihren Albträumen zum Schweigen bringen (daher der Titel, Silcence of the Lambs), indem sie als nun Erwachsene ihr kindliches Versagen beim Rettungsversuch des einen Lammes jetzt durch die Rettung eines Menschen wiedergutmacht.
Parallel bzw. damit verschlungen läuft über das Quid-pro-quo-Spiel die Entlarvung des Buffalo Bill. Alle Informationen seien dabei Lecters genauen Studium (Lecters Namen könnte man vom lat. »legere« bzw. dem Partizip »lectum«, also von »lesen« bzw. »gelesen«, ableiten) des Falles entwachsen: »Ich habe die Ermittlungsakten gelesen. Sie auch? Was Sie brauchen, um ihn zu finden, steht alles auf diesen Seiten« (min 54:31):
Billy ist kein richtiger Transsexueller. Aber er glaubt es und versucht es zu sein. […] Suchen Sie nach schweren Verhaltensstörungen in der Kindheit in Verbindung mit Gewalt. Unser Billy ist nicht als Verbrecher geboren worden. Er wurde durch jahrelange systematische Misshandlung dazu gemacht. Billy hasst die eigene Identität, verstehen Sie? Und er denkt, dass mache ihn zu einem Transsexuellen. Aber seine pathologische Veranlagung ist tausendmal grausamer und erschreckender.
Die Anlage der Figur des ebenso gebildeten wie intelligenten Doktors ist dabei unglaubwürdig. Stefan Harbort hat in jahrelanger Recherche Informationen über die damals als solche weder statistisch noch auf andere Art erfassten bundesdeutschen Serienmörder untersucht (Harbort 2015, S. 32 f.):
Es gibt kein äußerlich erkennbares Merkmal, dass auf jeden Serienmörder zutrifft, wohl aber eine Reihe von Persönlichkeits- und Verhaltensmerkmalen, die bei drei von vier Tätern vorliegen: Der typische Serientäter ist demnach […] männlich, zwischen 18 und 39 Jahren alt, ledig oder geschieden, kinderlos und von unterdurchschnittlicher bis durchschnittlicher Intelligenz (Durschnitts-IQ: 99,8). Er verfügt über ein geringes Bildungsniveau, hat die Sonder- oder Hauptschule besucht, ist, als Arbeiter oder Handwerker, berufstätig oder arbeitslos. Darüber hinaus stammt er aus defizitären Familienverhältnissen, gilt als sozialer Außenseiter und ist vorbestraft bzw. polizeibekannt.
Im Vorwort zu Harborts Buch bemerkt der Direktor des Zentrums für Ermittlungspsychologie der Universität Liverpool, David Canter, dass allzu oft und allzu leicht vorläufige Überlegungen des FBI direkt in Bücher und Filme umgesetzt worden wären:
In jedem anderen Kontext wären die Ergebnisse dermaßen schlecht durchgeführter Studien nicht veröffentlicht worden. Doch die Gier der Massenmedien und Hollywoods nach allem, was mit der Bösartigkeit des Serienmords zu tun hat, hat dazu geführt, dass [diese Verkürzung] ein so breites Publikum gefunden hat.
Serienmörder wiesen aber auf den ersten Blick gar keine wesentlichen Unterschiede gegenüber jenen Tätern auf, »die nur einmal töten« (ebd., S. 8).
Liest man nun die Schilderungen der oft tristen Lebensverläufe der deutschen Serienmörder bei Harbort, wird deutlich, dass es sich bei ihnen kaum um hyperintelligente Strategen handelt, die ihre Morde bis ins Detail planen und damit beschäftigt sind, eine eigene Handschrift zu entwickeln, ihre Umwelt zu manipulieren bzw. bewusst die Polizei oder ihren persönlichen Ermittler herauszufordern. Lecter ist also das überreizte Gegenbild zur Realität ― und wirkt in der Doppelung seiner Rolle als Psychiater und Serienkiller noch bedrohlicher (Autor Thomas Harris gestand, dass er sich vor seiner eigenen Schöpfung fürchte).
Besonders deutlich wird diese Bedrohlichkeit in einer Schlüsselszene: Dr. Lecter wurde nach Washington verlegt und in einen eigens für ihn aufgestellten, riesigen Käfig in den Fest-Saal eines Hotels gesperrt. Aus eigenem Antrieb besucht ihn Starling. Obwohl die Zeit drängt, zwingt Dr. Lecter sie in das gewohnte Quid-pro-quo-Spiel, und sie erzählt zum ersten Mal von der Schlachtung der Lämmer.
Der Einsatz der Kamera und die Positionierungen der Figuren sind in dieser Szene besonders genau aufeinander abgestimmt: Wird am Anfang der Käfig aus der Entfernung mit seinen engen Gitterstäben gezeigt (durch die Dr. Lecters Kopf niemals hindurchpassen könnte), so nähert sich der Blick gleichbleibend ruhig immer mehr Lecters Kopf an. Dies geschieht nicht als subjektive Kamera, die ja dann Starlings subjektiven Blickwinkel auf Lecter widergeben müsste, jenen hüpfenden, suchenden, unsteten Blick von Starling, während sie sich gehetzt vor dem Gitter auf- und ab bewegt. Es liegt hier also keine klare Fokalisierung auf den Blickwinkel einer Person vor, es sieht der Zuschauer nicht »die Welt durch die Augen der agierenden Figur«, wird nicht jede »Kopfbewegung« in »Kamerabewegung« umgesetzt und ist »die optische Perspektive des Betrachters« nicht »identisch mit der des Akteurs« (Mahne 2007, S. 98).
In dieser Szene wird vielmehr eine von Alfred Hitchcock zum ersten Mal in seinem Meisterwerk Vertigo anwendete, um Schwindelgefühle des Protagonisten optisch umzusetzen), nämlich eine sogenannte optische Kamerafahrt: Die Kamera wird von Hitchcock nicht bewegt, und doch entsteht für den Zuschauer der Eindruck, als wäre sie bewegt worden.
Die technischen Details sind hier wichtig, um die Wirkung der Szene vor allem auf den Zuschauer besser verstehen zu können: Bei »einer Objektverschiebung vom großen zum kleinen Blickwinkel scheint sich die Kamera dem entfernt liegenden Objekt zu nähern«. Die gleichzeitige »Verengung oder Erweiterung des Bildausschnitts führt zu einer Größenänderung des Bildausschnitts und einer veränderten Tiefenwahrnehmung«. Ein Gegenstand oder Körper scheint so »auf den Betrachter zuzukommen«, obwohl die Kamera tatsächlich nicht bewegt wird (Koebner 2011, S. 792f.). Wird nun gezoomt und die Kamera zusätzlich bzw. gleichzeitig gegenläufig gefahren, verändert sich der Bildausschnitt noch stärker.
Dies geschieht in der Szene und hat Konsequenzen: Anfangs wird Dr. Lecters Gesicht noch von den Gitterstäben teilweise verdeckt. Im Heranfahren und Zoomen der Kamera jedoch wird sein Gesicht immer größer und verschwinden die Gitterstäbe seitlich: Er schaut mit geöffneten Augen ohne zu zwinkern direkt in die Kamera bzw. direkt (und das ist wichtig:) dem Zuschauer in die Augen. Dr. Chilton hatte dabei Starling vor ihrem ersten Besuch bei Lecter gewarnt, diesem nichts Persönliches zu erzählen, denn sie wolle doch nicht Lecter in ihrem Kopf ― doch nun hat nicht nur sie schon lange, sondern auch der Zuschauer Dr. Lecter in seinem Kopf.
Das Ganze wird durch das plötzliche Auftauchen eben jenes Dr. Chilton mit einigen Polizisten unterbrochen. Die Störung der intimen Szene holt den Kannibalen aus der Trance-artigen, symbiotischen Versenkung zurück (seine Reaktion wirkt wie eine Enttäuschung nach einem coitus interruptus). Starling wird nun von den Polizisten weggeführt, reißt sich aber von diesen los und rennt zurück zu Dr. Lecters Gitterstäben, um von diesem ihre Unterlagen zurückzubekommen. Der reicht ihr durch die Gitter ihre Mappe und berührt mit ausgestrecktem Zeigefinger ihren Zeigefinger ― eine Anspielung auf Leonardo da Vincis Deckenmalereien in der Sixtinischen Kapelle bzw. an Die Erschaffung Adams, die Gottvater zeigt, wie er kurz davor ist, Adam durch eine Berührung Leben bzw. Seele einzuhauchen: Der Psychiater erscheint hier also als allwissender und allmächtiger Vater und Beschützer (er wird sich in Kürze blutig befreien und am Ende Starling versichern, dass sie immer vor ihm sicher sein werde). Buchstäblich haucht er ihr (neues) Leben ein, denn die junge Frau wird aufgrund ihrer Notizen und seiner Hinweise den Fall lösen und (vermutlich) die Lämmer zum Schweigen bringen, und Lecter wird entkommen und in Freiheit leben.
Doch was soll hier die Kombination aus Kannibalismus und Psychoanalyse? Es bleibt letztlich nur ein Schluss, wie Ingo Stöckmann in seinem kurzen Aufsatz über die Figur provakant zusammenfasst: »Alle Psychologie ist Kannibalismus« (Stöckmann 2000, S. 178). Es gehe um Lecters, es gehe um
die Struktur des eigenen Begehrens, in dem Psychologie und Kannibalismus ein analoges Verhältnis gewinnen. Denn wie der Kannibale in die glatte Körperoberfläche seiner Opfer beißt, um die Organe zu verschlingen und sich einverleiben zu können, so bricht auch der Analytiker das Außen der Person auf, um an ihr Innerstes zu gelangen.
So werde der Psychiater »zu einem Automat der Entschlüsselung und Decodierung«, und zwar (ebd., S. 179)
eines geheimen, verschwiegenen, auf der Oberfläche jedenfalls nicht sichtbaren und verständlichen Wissens ― eines Wissens, das so lange unbewusst bleibt, wie es nicht durch die aufarbeitende Erzählung des Bewusstseins hindurchgegangen ist.
Stöckmann versteht dabei die Szene zwischen Lecter im und Starling vor dem Käfig fälschlich als mit subjektiver Kamera gedreht und damit als Umsetzung der intimen Beziehung zwischen den beiden, »so dass sich alles Trennende zwischen Starling und Lecter auflöst« (ebda., S. 179). Doch es ist alles viel schlimmer: Kannibalisierend reißt hier der Therapeut die Grenze zum Zuschauer, also gegenüber jedem, der den Fehler begeht, sich auf ihn einzulassen, ein.
6. Ein schwächerer, aber dennoch hochinteressanter Fall ist der Film copycat: In diesem Film, der oft mit The Silence of the Lambs verglichen wurde, hilft die Psychologin Dr. Helen Hudson nicht nur bei der Lösung des anstehenden Falles, sondern ist letzten Endes durch ihr Wissen um Serienkiller (auch) der Auslöser für diesen Fall bzw. eine Serie von Morden, ist ihr Wissen letztlich nicht nur hilfreich, sondern auch tödlich: Peter Foley hatte einen Vortrag von ihr gehört, in dem sie berühmte Serienmörder aufzählte (sie selbst bemerkte später, sie sei inzwischen so etwas wie ein Maskottchen der Serienmörder, denn sie bekommt ständig Briefe und Geschenke, am Ende entpuppt sich der folgende Anschlag auf ihr Leben sogar als von einem inhaftierenden Serienmörder inszeniert). Und Foley begeht nun in genau der vorgegebenen Reihenfolge Morde, die sich bis in das Detail an seinen berühmten Vorbildern orientieren.
Interessant an diesem Fall ist aber besonders, dass Dr. Hudson nach einer traumatischen Erfahrung völlig alleingelassen wurde: Sie lebt zurückgezogen in ihrer Wohnung und traut sich buchstäblich nicht mehr aus der Wohnungstür bzw. bekommt sofort Panikattacken, denn nach dem besagten Vortrag war sie von einem verurteilten, aber geflohenen Serienmörder in der Damentoilette abgepasst und dort fast erhängt worden Und auch diese Szene spielt der Copykiller nach ― der Showdown im Film geschieht exakt an diesem Ort als Reinszenierung ihrer traumatisierenden Urszene: Dr. Hudson wird von ihren Ängsten in einer Tour-de-force-Konfrontationstherapie am Endpunkt der durch ihr Wissen angestoßenen Mordserie geheilt: Letztlich wird der Serienkiller zu ihrem Therapeuten, so seltsam das klingen mag.
Bedrückend bleibt, dass Dr. Hudson aber wie gesagt vorher völlig alleingelassen wurde und (dies immerhin als erfahrene Psychologin) auch jegliche Hilfe abwehrte: Psycholog_innen müssen mit ihren Problemen anscheinend immer allein fertigwerden. Noch bedrückender als die Tatsache an sich ist, dass dies an keiner Stelle im Film problematisiert wird.
Der Tatort Heimatfront wurde am 23. Januar 2011 zum ersten Mal im Deutschen Fernsehen ausgestrahlt. Er handelt letztlich von den Schwierigkeiten vierer Soldaten, die von ihrem Einsatz aus Afghanistan zurückgekehrt sind. Bei einer Kunstperformance wird eine junge Frau, Victoria Schneider, aus großer Entfernung erschossen. Die während der Performance auf beigestellten Bildschirmen ablaufenden Videos von schreienden Soldaten sind, wie sich später herausstellt, von Frau Schneider von der anscheinend fest bei der Bundeswehr angestellten Psychologin Dr. Vera Bergmann gestohlen worden: Es handelt sich bei den Aufnahmen um vertrauliche Aufzeichnungen aus Therapiesitzungen. Die Psychologin wird deswegen von den beiden ermittelnden Kommissaren Kappl und Deininger zur Rede gestellt. Sie verschanzt sich jedoch hinter ihrer Schweigepflicht. Am Schluss, als einer der vier Soldaten als Täter immer verdächtiger geworden ist, gibt sie eine abschließende Einschätzung, jener könne tatsächlich der Täter sein: »Theoretisch würde ich sagen, dass könnte zu ihm passen«. Der Soldat sei
ein Mensch, der die Schuld für sein Leiden gern bei anderen sucht und sich gerne retten lassen möchte … Von seiner Mutter oder z. B. von Feldwebel Weitershagen [seinem Vorgesetzten und einem der vier Soldaten]. Oder von Victoria Schneider [der ermordeten jungen Frau, die die Bänder entwendet und mit ihm ein Verhältnis hatte].
Wer ist also schuld an der Traumatisierung und vor allem an der Eskalation der Lage? Nicht der Kriegseinsatz oder die traumatische Erfahrung, sondern persönliche Veranlagung, und vor allem nicht seine betreuende Psychologin.
Die Handlung soll hier nicht weiter interessieren: Bezeichnend ist die Anlage der Figur der Psychologin Dr. Bergmann. Als die beiden Kommissare Kappl und Deininger im Flur darauf warten, in das Büro bzw. den Behandlungsraum gerufen zu werden, hört man Schreie aus dem Behandlungszimmer. Deininger fasst zusammen, was er über Traumatherapie weiß: »Du erzählst immer und immer wieder, was passiert ist, bis du dich daran gewöhnt hast« (min 21,16) Als die beiden bei der Psychologin eintreten, mustert die Frau den Polizisten Deininger: Ob sie ihn kenne? Der wehrt ab, sie sagt ihm aber auf den Kopf zu, ihn vor Jahren wegen Gewaltexzessen im Dienst therapiert zu haben. Deiningers Kollege wird hellhörig und macht später mehrfach darüber seine Scherze: Hier spielt also Schweigepflicht keine Rolle.
Als die beiden sie bitten, ihnen den Begriff »Trauma« näher zu erklären, verschanzt sie sich hinter Jargon und Floskeln:
Wollen sie wissen, was ein Psychotrauma ist? Ein Psychotrauma ist eine seelische Wunde, die auf seelische Inzidenzien zurückgeht, bei denen im Zustand extremer Angst die seelischen Kompensationsmöglichkeiten des Individuums überfordert waren und dauerhaft bleiben. […] Ziel der Therapie ist die kontrollierte Verarbeitung eines Traumas: die Symptome im Alltag zu kontrollieren oder sogar aufzulösen. […] Neben den normalen Methoden der Gesprächstherapie setzen wir hier sehr stark auf VRET, Virtual Reality Exposure Therapy. Das ist eine Methode, die die Amerikaner während des Irak-Kriegs entwickelt haben. Dabei soll der Patient das Trauma so authentisch wie möglich erleben.
Auffällig ist im Tatort die bewusste Verwendung von Fachvokabular als Überlegenheits- und Distanzierungsgeste. aber auch die häufige Verwendung des Begriffs »Kontrolle« sowie die Benennung des Ziels der Therapie, nämlich das Trauma aufzulösen (darin zeigt sich auch der Anspruch, letztlich jedes Trauma auflösen zu können). Verwunderlich ist aber vor allem der Ton der Psychologin: Falls sie auf ähnliche Art und Weise Psychodekuation mit ihren Patienten betreibt, dürften diese vermutlich eher verschreckt als ermutigt werden. Später bemerkt sie ähnlich direktiv, sie habe die Soldaten »nach ihrer Rückkehr aus Afghanistan psychologsich untersucht und einer mehrwöchigen Traumatherapie unterzogen [sic!]« (min 37,29).
Selten war ich so wütend wie nach der Erstausstrahlung des Tatort und der anschließenden Talk-Runde bei Anne Will: Doch woran mochte das eigentlich liegen? Ich hatte noch nicht die Vereinfachungen und Schnitzer im Plot näher untersucht (vgl. dazu Fricke 2013) oder die Stereotypie in der Charakterzeichnung aller Figuren mir deutlich gemacht. Öl ins Feuer goss zwar eine Formulierung des damaligen Ministers für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklungshilfe, Dirk Niebel (damals FDP, inzwischen für Waffenfirmen tätig). Frau Will fragte, ob dieser
Einsatz, der zu einem Krieg wurde, […] den Soldaten nicht gut genug erklärt worden [sei]. Erklären Sie sich damit manches Trauma, weil Soldaten gar nicht darauf vorbereitet waren, was ihnen geschah, und sie nicht mehr wussten, warum sie dort sind?
Die einzige denkbare Antwort wäre ein klares »Ja« als Eingeständnis des Versagens der deutschen Politik gewesen. Doch Niebel blockte ab: »Nein, ich erkläre mir viele Traumata durch die Härte der Kampfeinsätze. Wir dürfen nicht vergessen, dass unsere Soldaten täglich im Gefecht stehen und dass sie schlimme Erlebnisse haben« (min. 28 f.). Wills Frage richtete sich aber doch auf Vor- und Nachbereitung, also auf die Zeit vor und nach den Kampfeinsätzen (im Sinne etwa von Hans Keilsons sequentieller Traumatisierung, die besonders das Verhalten gegenüber dem Traumatisierten nach der Traumatisierung als Teil der Traumatisierung selbst versteht), nicht aber auf die Kampfeinsätze selbst. Von der in der Talk-Runde beteiligten Oberstabsärztin Dr. Heike Groos kam auch hier keine Intervention.
Doch erklärte dies wie gesagt nicht meine so heftige Reaktion. Ein hilfreicher Ansatz zur Klärung könnte aus der Literaturwissenschaft kommen: Der Literaturwissenschaftler Carl Pietzcker übertrug die Gegenübertragungsanalyse auf die Untersuchung von Texten (dabei wird der Begriff »Text« in der neueren Literaturwissenschaft viel weiter gefasst als von Pietzcker, meint also auch Filme). Wer einen Text interpretiere, bilde mit ihm eine Szene (Pietzcker 1992, S. 11 f.):
Stimmungen, Wünsche, Ängste und Phantasien, die den Lesenden durch den Text, die Figuren oder die Sprache geweckt werden, malen mit am Bild des Textes, das sie zunächst für ihn selbst halten. Die Gründe ihrer Faszination oder Abwehr kennen sie allermeist nicht. […] Wenn wir mit jemandem oder etwas eine Beziehung eingehen, so stellen wir mit ihm auch eine zuvor innere Szene her, die möglicherweise auf eine inzwischen unbewusste unserer Kindheit zurückgeht. Dies nennt die Psychoanalyse Übertragung: Übertragung einer inneren oder phantasmatischen Szene auf eine äußere.
In jedem Text sei eine Wirkungsabsicht angelegt, die auf eine Übertragung zielt. Letztlich werde dann im Lesen jeder Text zu einem Übergangsobjekt (ebd. S. 23):
Den Lesenden steht der Text […] in der ihm eigenen Ordnung wie ein deutlich umgrenzter Gegenstand gegenüber; zugleich aber erschaffen sie ihn sich erst im Raum ihres Bewusstseins. Dennoch verhalten sie sich zu ihm wie zu etwas, das von ihnen getrennt ist.
Bei der Interpretation sei es nun wichtig, sich seiner Gegenübertragungen bewusst zu werden, denn wer »in nicht reflektierter Gegenübertragung interpretiert, folgt auch nichtreflektiert seinen Abwehrmechanismen«. Diese sind für den Interpreten »Momente früherer Szenen und schützen ihn davor, sich der Szenarien bewusst zu werden, in denen er sich beim Interpretieren gerade bewegt« (ebd. S. 32).
Pietzcker empfiehlt nun, seine Erstreaktionen möglichst ungefiltert zu notieren. Das habe ich nachträglich zu tun versucht. Hier einige Punkte:
Ich kann die düster-grau-blaue Grundanlage von Heimatfront nicht ertragen.
Ich mag es nicht, wenn auf Schreie hinter verschlossenen Türen niemand reagiert.
Ich kann es nicht leiden, wenn Kommissare Fehler machen, gleichzeitig aber moralisierend aburteilen.
Voyeuristisch ausgestellte Pathetik vor einem Suizid ist mir peinlich (von Weitershagen am Schluss: »Sagen Sie meiner Frau, dass es mir leid tut. Sagen sie ihr, dass ich sie liebe, auch wenn es manchmal nicht danach ausschaut. Und sagen Sie ihr, dass ich nicht feige war!«, min 124, 30).
Besonders die Figur der Psychologin ist für mich unerträglich: Sie ist besserwisserisch, unempathisch, verkrampft-distanziert (was sie anscheinend als professionelles Verhalten wertet) und humorlos (sie lacht im ganzen Film nicht ein einziges Mal). Ich assoziierte während der Abfassung dieser Arbeit mehrfach auf Mildred Ratchet, die menschenverachtende Krankenschwester aus One flew over the Cuckoo's Nest. Ihr Büro ist in kalten Farben gehalten, keine Pflanzen, keine Bilder lockern auf. Die Stühle sind hart, man soll sich anscheinend bei ihr unwohl fühlen. Sie geht hier wie bei jedem anderen Fall nach einem festen Schema bzw. Stundenplan vor. Ihre Videoaufzeichnungen mit exakt derselben Kameraperspektive wirken voyeuristisch, fast pornographisch. Die Tatsache, dass die Videoaufnahmen der Therapiestunden gestohlen werden konnten und in das Internet eingestellt wurden, beunruhigt sie anscheinend wenig: Sie bemüht sich zu keiner Zeit um Wiedergutmachung oder versucht, sich wenigstens bei den Betroffenen zu entschuldigen.
Und es macht mich fassungslos, dass in beiden an die Ausstrahlung des Tatorts anschließenden Talkshows bei Anne Will und Günter Jauch niemand diese Stereotypen angesprochen hat und ich mit meiner Wut und Enttäuschung alleinblieb. Etwa die von Will eingeladene Oberstabsärztin Groos sah anscheinend kein Problem in der Stereotypisierung ihrer Profession: Zu Beginn der Talk-Runde hatte sie bemerkt, sie fände den Film »sehr gut gemacht«, aber eine festangestellte Psychologin in der Bundeswehr sei »leider« unrealistisch.
Was bedeutet das, wenn ich versuche, mich von diesen punktuellen, reflexartigen Aussagen wegzubewegen? Alle meine Punkte weisen in eine Richtung: Der Film scheint so angelegt zu sein, als ob die Soldaten unbedingt verzweifeln müssen und sich unbedingt mindestens einer von ihnen selbst töten muss. Um es noch genauer zufassen: Es soll anscheinend die Chancenlosigkeit und ausweglose psychische Versehrtheit deutscher in ihre Heimat zurückgekommener Soldaten aufgezeigt werden (die Front geht nahtlos in der Heimat weiter, wie man den Titel Heimatfront wohl verstehen muss): Außer Alkoholismus und Suizid scheint es für sie keine Lösung zu geben (oder geben zu dürfen).
Und das hat Auswirkungen auf die gesamte Anlage des Films, entsprechend wird nämlich auch die Figur der Psychologin instrumentalisiert. Klischees werden mobilisiert und in ihrer Widersprüchlichkeit zusammengezwungen: Eine Therapie muss wehtun und besteht darin, immer und immer wieder ungeschützt die Vergangenheit zu rekapitulieren. Psycholog_innen sind allein dafür verantwortlich, dass eine solche Therapie gelingt, haben einen Status wie ein Chefarzt in Weiß (schließlich trägt auch die Psychologin in Heimatfront einen Doktortitel), sind jedoch als Menschen kalt und manipulierend. Psycholog_innen brauchen selbst keine Hilfe (mir ist wie gesagt in den Filmen und Serien keine Figur begegnet, die Supervision nimmt oder klare Grenzen zwischen Privatleben und Profession zu ziehen in der Lage wäre, um etwa sekundärer Traumatisierung oder einem Burnout vorzubeugen). Auch wird im Tatort die stereotype Angst vor einem Bekanntwerden der Tatsache, dass man eine Therapie in Anspruch nimmt, oder der Befürchtung, dass Therapien sowieso grundsätzlich nicht helfen, kritiklos bestätigt: Man würde durch Inanspruchnahme einer Therapie von der eigenen Umwelt nur als Verrückter abgestempelt und solle deshalb seine Probleme lieber mit sich allein ausmachen. Einer der Soldaten erzählt unwidersprochen, er habe die erschossene Victoria Schneider »auf so 'nem Psychoseminar kennengelernt, das ich machen musste«. Das Seminar sei nichts Besonderes gewesen: »Es ist jetzt nicht, weil ich einen Schaden hab' oder so. Wir müssen das alle machen. Is' Routine« (min 28 f.). Später bemerkte dessen Mutter, sie habe ihren Sohn für eine Therapie angemeldet, nicht aber der sich selbst.
An zwei Punkten lässt sich besonders gut diese verheerende Grundausrichtung des Tatorts zeigen, nämlich zum einen an der Verdrehung des VRET-Therapieansatzes, der in sein genaues Gegenteil verkehrt wird, sowie zum anderen in der Ausgestaltung der Therapie als quasi unbegleitete Konfrontation.
Zum einen sind alle tatsächlich Informationen im Tatort in Bezug auf VRET sachlich falsch. VRET wurde nicht im Irak-Krieg, sondern für Vietnamsoldaten entwickelt. Vorgeführt werden auch dem Patienten nicht Filmsequenzen, die an realen Schauplätzen gedreht wurden. Vielmehr kann durch eine 3D-Computersimulation, die in einen Helm projiziert wird, ähnlich einem Flugsimulator nach ausführlicher Vorbereitung und Psychoedukation der Patient sich dem Geschehen vorsichtig annähern. Entsprechend kann die Intensität von Farben und Geräuschen nach Rücksprache mit dem Patienten erhöht oder auch wieder gemindert werden. Es geht also nicht darum, dass traumatische Erleben so genau wie möglich nachzuerleben oder auch nur nachzuerzählen, sondern um eine möglichst vorsichtige Annäherung an entsprechende Stimuli, damit der Patient im Sinne einer sehr kleinschrittigen exposure therapy wie z. B. bei Phobien mit diesen Stimuli immer besser umzugehen lernt. Es gehe um »repeatedly confronting the feared stimulus in a graded manner […] gradually progressed through sequences at the rate determined collaboratively by the therapist and patient« (Gerardi et al. 2010, S. 298 und S. 305). Die Behandlung beinhalte dabei »elements of psychoeducation, relaxation and cognitive processing of the exposure« (ebd., S. 303). VRET erlaube »in the virtual environment […] the participant to experience a sense of presence in an immersive, computer-generated, three-dimensional, interactive environment that minimizes avoidance behavior and facilitates emotional involvement« (ebd, S. 298). Die erste Sitzung, so empfehlen Rizzo et al., solle ausschließlich der Psychoedukation dienen. In der ersten Sitzung mit Helm könne der Patient dann angstfrei in der 3D-simulierten Gegend herumschlendern. Erst später werde er langsam möglicherweise traumatisierenden Stimuli wie Schreien oder Gefechtslärm ausgesetzt. Waffenattrappen spielen bewusst keine Rolle (die Gewehre auf dem Tisch im Behandlungszimmer im Tatort Heimatfront können leicht als Trigger wirken), den in VRET sei es gar nicht vorgesehen, eine Waffe abzufeuern. Die Entwickler seien der festen Überzeugung, dass »there is no option for firing a weapon within the VR scenarios«, den sie gingen davon aus, »that principles of exposure therapy are incompatible with their cathartic acting out of a revenge fantasy that a responsive weapon might encourage« (Rizzo et al. 2009, S. 385). In eine solche Rache-Phantasie scheint der Film die Soldaten aber unausweichlich hineinzwingen zu wollen.
Zum anderen wird auch eine frühe und heftige Trauma-Exposition ohne vorherige Psychoedukation nicht als problematisch empfunden, sondern geradezu verordnet. Eine Therapie kann und soll anscheinend sogar gegen den Willen des Patienten erzwungen werden können. Alle »erfahrenen Trauma-Therapeutinnen warnen aber vor unvorbereiteten Trauma-Expositionen, die meist nur Retraumatisierungen sind, aber keine Reaktionsschritte« (Sachsse 2004b, S. 265). Auf diese Weise werde nämlich gerade das »Erleben auf zwei Ebenen gleichzeitig« ignoriert, nämlich das Erleben auf der »Ebene des Wieder-(Erlebens) und Durchleidens einerseits und der Ebene des möglichst nicht wertenden Betrachtens ('So war es') andererseits«. Für den Therapieerfolg sei, so Sachsse, es aber gerade nicht wünschenswert, »dass während einer Traumasynthese die Verstandesebene ausfällt, weil dies meist durch Affektüberflutung, Ich-Fragmentierung und Entgrenzung geschieht« (ebd., S. 266). Doch die Therapie in der Bundeswehrkaserne scheint auf solches geradezu angelegt zu sein.
Was hilft dies Psycholog_innen in Bezug auf ihre prekäre Situation?
Es ist auffällig, wie sehr Psycholog_innen in allen beschriebenen Fällen von Außen mit großem Wissen und z. T. seltsamsten Fähigkeiten unter großem Zeitdruck oder in einem von Außen vorgegeben Rahmen an Täter bzw. Patienten alleinverantwortlich bzw. alleingelassen herangehen.
Im Falle der Profiler oder Cracker liegt das in der Natur der Sache: Bezeichnend ist jedoch, wie aus der Tatsache, dass der Film eine in sich geschlossene Geschichte als Erzählung mit einer eindeutigen Lösung bieten muss, diese Distanziertheit gegenüber den Täter_innen und den Patient_innen prägend wird. Nicht die langsame, nachhaltige psychische Gesundung oder Stärkung eines Menschen steht im Vordergrund. Der Psychologe als alleswissender Helfer wird vielmehr zu einer allmächtigen Rettungsfantasie: Nur er kann helfen ― und das muss möglichst schnell und endgültig geschehen.
Doch wie soll er helfen können? Anscheinend ist dies nur durch Einfühlung möglich, die aber nicht eine professionelle Technik ist, die erlernt, verfeinert und angewendet werden kann, um Patienten möglichst gut zu helfen, sondern auf der persönlichen verschrobenen Persönlichkeit und den idiosynkratischen Fähigkeiten der Psycholog_innen beruht. Einfühlung wird dabei oft missverstanden als Im-Hirn-des-Patienten-Sein und kann Extremfall sogar kannibalistisch wirken.
Woran mag das liegen? Es ist auffällig, wie den meisten der Psycholog_innen die Fähigkeit zugesprochen wird, aufgrund minimalster Informationen ein noch so kompliziertes Geschehen vollständig zu rekonstruieren. Dies erinnert an die Freudsche These, dass zumindest prinzipiell jede verdrängte Erinnerung an reales Geschehen der Vergessenheit entrissen werden kann ― nämlich durch die Hilfe des Therapeuten. Dabei wird das Gedächtnis als verlässlicher Speicher verstanden, in dem Erinnerungen ohne Verlust und den realen Geschehnissen entsprechend wie eine unveränderliche Fotografie abgespeichert werden. Wird etwas vergessen, wurde die Erinnerung nur verräumt bzw. ist nicht mehr direkt zugänglich. Die Erfahrung, dass aber immer zumindest einiges im Gedächtnis gefunden werden kann, legte die Vermutung nahe, "dass alles nur darauf wartet, gefunden zu werden». Man müsse immer so etwas wie «Originalaufzeichnungen finden können, und wenn man auf so ein Original stößt, müsste man es als solches erkennen können" (Kortre 1998, S. 46).
Freud führt dies etwa in seinem Das Unbehagen in der Kultur aus: Im Zusammenhaag mit dem allgemeinen »Problem der Erhaltung im Psychischen« habe er den Irrtum überwunden, »dass das uns geläufige Vergessen eine Zerstörung der Gedächtnisspur, also eine Vernichtung« bedeutete. Vielmehr neige er jetzt zu der Meinung, »dass im Seelenleben nichts, was einmal gebildet wurde, untergehen kann, dass alles irgendwie erhalten bleibt und unter geeigneten Umständen […] wieder zum Vorschein gebracht werden kann« (2000 XI, S. 201).
Auch in dem späten Aufsatz zu Konstruktionen in der Analyse, der diese These leicht relativiert, besteht er weiterhin darauf, dass es »nur eine Frage der psychoanalytischen Technik« sei, »ob es gelingen wird, das Verborgene« bzw. jede »psychische Bildung« wieder vollständig zum Vorschein zu bringen" (2000, Zusatzband Schriften zur Behandlungstechnik, S. 398). Genau aus diesem Grund versteht Freud sich als Archäologe, der Verschüttetes wieder sichtbar werden lässt bzw. freilegt. Und dieses Freilegen geschieht wie gesagt zumindest unter der unverzichtbaren Anleitung bzw. Hilfestellung des Therapeuten: Er hilft, das Rätsel zu lösen und eine geschlossene, überzeugende Geschichte zu präsentieren.
Was aber ist überhaupt eine solche Geschichte, eine Lebensgeschichte? Wie und warum erzählen Menschen ihre eigene Lebensgeschichte? Jeder Mensch ist ein animal poeta, muss (sich) erzählen (so auch der literaturwissenschaftliche Ansatz der Biopoetik, den besonders Karl Eibl vertritt, vgl. Eibl 2004, passim). Jeder Mensch versucht, seiner von Zufallen regierten Lebensgeschichte im Ruckblick eine kausale, einleuchtende Ordnung zu geben, eine ansprechende und überzeugende Geschichte als privaten Lebensmythos zu formen, um die eigene Existenz zu rechtfertigen. Sechs Kategorien machen eine gute Lebensgeschichte aus: 1. Kohärenz, 2. Offenheit für die Integration zukünftiger Erlebnisse, 3. Glaubwürdigkeit, 4. die Differenzierung der Erzählung, 5. ihre Fähigkeit, in ihr widerstreitende Kräfte in Harmonie zu bringen, sowie 6. die Möglichkeit zu generativer Integration, d. h. die Möglichkeit, das Individuum in eine (auch zukünftige) Gemeinschaft einzubinden (vgl. McAdams 1993, S. 32).
Sollte dies nicht möglich sein (etwa durch unerwartete Einbrüche und Katastrophen, Disparates, Nichterzählbares), kann ein tiefes Bedürfnis nach erschöpfender Erklärung eben dieser Einbrüche und nach Rekonstruktion entstehen. In solchen Fällen sollen Psycholog_innen bei der Erstellung einer entsprechenden Geschichte behilflich sein.
Versucht man, sich eine Gesellschaft ohne Erzählen vorzustellen, wird schnell deutlich, was in den vergangenen Jahren zusehends in den Blick gekommen ist – dass ein enger Zusammenhang zwischen Erzählen und Menschsein besteht (Brooks 1984, S. xi):
Die Erzählung ist eine der allgemeinen Kategorien und Methoden des Verstehens, die wir in unserer Auseinandersetzung mit der Realität nutzen, insbesondere in unserer Auseinandersetzung mit dem Problem der Zeitlichkeit, mit der menschlichen Zeitgebundenheit.
Erzählungen, so die Erzähltheoretiker Tilmann Köppe und Tom Kindt, seien nun »Sinneinheiten, die sich hervorragend zur Strukturierung der uns umgebenden Wirklichkeit eignen« (Köppe & Kindt 2014, S. 61). Eine Handlung in der Erzählung zu begründen, bedeutet, »die Handlung als sinnvoll zu erkennen«. Und dies sei »genau dann der Fall, wenn wir die Elemente des Handlungsverlaufs, d. h. unsere Ausgangslage, Absichten, Handlungsfolgen usw., als eine Erzählung repräsentieren können« (ebd., S. 62). Solche Erzählungen zeichneten sich durch »eine gewisse Abgeschlossenheit«, durch »Anfang, Mitte und Ende« aus, wobei »das Ende bestimmt ist als das, nach dem ›nichts anderes mehr eintritt‹« (ebd., S. 100). Erzählungen hätten entsprechend »eine teleologische Struktur«, sie liefen »auf einen bestimmten Endpunkt« zu (ebd., S. 67).
Dieses tiefe Bedürfnis nach vollständiger Rekonstruierbarkeit, eindeutiger Lösung und völliger Heilung ist ebenso erstaunlich wie letztlich typisch für uns Menschen. Melvin Lerner hat solche Absolutheitsansprüche (etwa in der Zuschreibung von Schuld und Verantwortlichkeit in Bezug auf Opfer) untersucht (Lerner 1980, S.vii):
We do not believe that such things happen in our world: there is a pattern to events which conveys not only a sense of orderliness or predictability, but also the compelling experience of appropriateness expressed in the typically implicit judgment, ›Yes, that is the way it should be‹.
Menschen orientieren sich in ihrer Umwelt, indem sie sich ein Bild von ihr machen als einer »manageable and predictable world« (S. 9). Nur so könne man z. B. Projekte langfristig zu verfolgen. Eine gerechte Welt sei deshalb eine solche, »in which people get what they deserve«. Begegnet uns nun aber ein Opfer schrecklicher Geschehnisse, tendieren wir allzu leicht dazu, die Schuld erst einmal beim Opfer zu suchen, den »under certain circumstances, people who become aware of that person's fate will construe events, including the personal attitudes of the victim, so that the victim appears to ›deserve‹ the suffering.« (ebd., S. 12).
Es geht also auch hier um eindeutige, endgültige Ergebnisse, die uns unser durch das Geschehen aus den Angeln gehobene Weltbild wieder geraderücken sollen. Auf solches kann nicht lange gewartet werden, der alte Zustand darf nicht nur schrittweise und langsam wiedererreicht werden. Und völlig undenkbar wäre es, dass die Erreichung dieses Zustands von der eigenen Aktivität oder dem eigenen Einsatz abhängen könnte (und damit der Zustand relativ zu einem selbst wäre bzw. mit Pech gar nicht wieder erreicht werden könnte). Kurz: Eine Therapie muss (so könnte man übertragend vermuten) schnell und sicher absolute Befreiung von Außen bringen.
Und noch ein weiteres Problem tut sich auf: Wie gesagt, werden Therapeuten in den Krimis nicht als gutausgebildete, aber im Prinzip normale Leute wie Du und ich, sondern als verschrobene, oft hochbegabte Charaktere dargestellt, die oft selbst großes Leid erfahren haben und nur aufgrund dieser Erfahrung und ihrer Über-Begabung den Fall lösen können. Damit wird aber die Gegenübertragungsproblematik der Therapiesituation ad absurdum geführt: Nur deshalb, weil der Therapeut unprofessionell projiziert (und die Reaktionen des Patienten ihn letztlich also nicht interessieren), kann er die eine einzige (und anscheinend auch genau in dieser Form gefragte) Lösung abliefern.
Die damit verbundenen Allmachts- und Rettungsphantasien mit Bezug auf die Psycholog_innen erinnern an die älteren Vorstellungen von Therapeuten als überlegener, viel- bzw. allwissenderer Helferfigur, die als einzige der Garant für Lösungen ist. Inzwischen wird die Rolle des Therapeuten oft anders verstanden: Er ist nicht mehr für die lückenlose Rekonstruktion einer Geschichte zuständig, nicht mehr der einzige Garant für Heilung, sondern eher ein begleitender Trainer.
Alte und neue Sichtweise stehen sich dabei unvermittelbar gegenüber, zum einen die Überzeugung, der Patient sei »innerseelisch ein hilfloses Kind, das sich in der und durch die therapeutische Beziehung [...] langsam entwickelt und nachreift«, zum anderen die These, wir Menschen verfügten »über innere Selbstheilungskräfte«, jeder Mensch »könne sich nur selbst helfen, ein Therapeut kann allenfalls Hilfe zur Selbsthilfe geben« (Sachsse 2004a, S. 185).
Diese grundsätzliche Infragestellung der Allmacht des Psychotherapeuten in neuer Sichtweise sperrt sich gegen jede absolut gesetzte, von einem einzigen Interpreten des Rätsels als Cracker rekonstruierte, angeblich einzige wahre Sichtweise. Genau solch eine Rolle soll aber der Profiler spielen, der so schnell wie möglich aufgrund seiner außerordentlichen Fähigkeiten eine vor Gericht bzw. für eine Anklage belastbare Lösung herbeizaubern soll.
Und genau an dieser Stelle liegt meiner Meinung nach das Problem: Psycholog_innen müssen aktiv gegen diese Stereotypen vorgehen. Sie müssen zeigen, wie persönlich fordernd ihr Beruf ist, wie schwierig es ist, Beruf und Privatleben voneinander zu trennen, wie wichtig es ist, sich selbst zu schützen und dabei begleitet zu werden, und wie wenig sie Göttern in Weiß gleichen. Kurz: Psycholog_innen müssen sich anders verhalten als die übervorsichtig-freundliche Oberstabsärztin Groos in der Anne-Will-Show.
Das ist zugegeben eine Herkulesaufgabe. Anders dürfte es jedoch schwierig werden, die prekären Umstände in der Ausbildungsphase und Berufsausübung von Psycholog_innen überhaupt namhaft zu machen bzw. bei wem auch immer Gehör zu finden.
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Anne Will: Im Krieg gescheitert – zu Hause ausgedient – lassen wir unsere Soldaten im Stich? DVD (gegen eine Gebühr zur Verfügung gestellt von der Will Media GmbH). Sendung vom 23. Januar 2013.