»Kriegspsychologisches«: Publikationen und Engagements von Psychologen mit Bezug zum Ersten Weltkrieg

Susanne Guski-Leinwand

Zusammenfassung

Der Erste Weltkrieg stellte für viele eine bis dahin vergleichsweise ungekannte Herausforderung dar. Viele meldeten sich als Kriegsfreiwillige, obwohl sie aus Alters- oder Konfessionsgründen keinen Kriegsdienst hätten leisten müssten. Unter diesen Kriegsfreiwilligen waren auch zahlreiche Akademiker aus unterschiedlichen Disziplinen, die ihr Vaterland im Krieg unterstützen wollten. Einige von ihnen rechneten sich der Psychologie zu und wurden deshalb von Mitgliedern des Kriegsministeriums als Gesprächspartner und Berater wertgeschätzt. Aus diesen zunächst informellen Kontakten entstanden über die vier Kriegsjahre unterschiedliche Arbeiten zu einer Kriegspsychologie, die später unter eine Form der »Situationspsychologie« eingeordnet wurde (Dorsch 1963). Im vorliegenden Artikel werden ausgewählte Arbeiten zur Kriegspsychologie mit jeweils kurzem biografischem Abriss ihrer Autoren vorgestellt. Abschließend wird eine wissenschaftshistorische Einordnung dieser Arbeiten gegeben.

Schüsselwörter: Kriegspsychologie, Ekstase, Völkerpsychologie, Völkercharakterologie, Nationalpsychologie, Psychographie, Seelenkunde, Glied, Ganzheit, doublespeak

Summary

Publications and Involvement of psychologists relating to the First World War

The First World War meant a comparatively unknown challenge for many people up to that time. A lot of men reported for duty in war although their seniority or religion protected them towards the duty. Under these volunteers were a number of academics of various disciplines, who wanted to fight for their homeland as armed forces. Some of these rated themselves before among psychology and were esteemed as discussion partners and counselors of the German war ministry. Casual conversations with members of the war ministry lead over the four years of war to a collection of works about warpsychology, which were later classified as a kind of »situation psychology« (Dorsch 1963). This article discusses selected works towards warpsychology and gives a short outline of biographical informations about the authors. Finally a classification of these works related to the history of science is given.

Keywords: warpsychology, ecstasis, people psychology, people characterology, national psychology, psychography, psychics, file, totality, doublespeak

Einführung

Akademiker verschiedener Ausbildung, die sich der Psychologie zurechneten[1], befassten sich mit dem Kriegsgeschehen und dem Kriegserleben. Dabei zielte das psychologische Interesse darauf, einerseits von einer völkerpsychologischen Warte Erkenntnisse über die Dynamik zwischen den sich bekämpfenden und verbündenden Nationen zu erhalten sowie andererseits das Erleben und Verhalten des Individuums zu erheben, das sich in den Dienst von Gewalt und Vernichtung gestellt sah oder freiwillig gestellt hatte. Zu beiden Aspekten sollen im vorliegenden Artikel abrissartig die Publikationen von Magnus Hirschfeld (1868–1935), Max Dessoir (1867–1947), Paul Plaut (1894–1960) sowie Felix Krueger (1874–1948) vorgestellt werden. Die Arbeiten der beiden erstgenannten Akademiker Hirschfeld und Dessoir stammen aus den ersten Kriegsjahren, die Arbeit von Plaut verlief bis zum Ende des Krieges. Kruegers Artikel erschien 1917. Aus den verschiedenen Beiträgen lassen sich veränderte Haltungen gegenüber dem Krieg mit Blick auf die Not des Einzelnen bzw. der Überforderung der Führenden bereits früh ablesen. Alle hier Aufgeführten publizierten über den Krieg bzw. das Kriegsgeschehen mit unterschiedlicher Intention und unterschiedlichen Standpunkten oder methodischen Vorgehensweisen. Diese werden im Folgenden nach und nach vorgestellt.

Einordnung der Motive und Entstehungsbedingungen der hier vorgestellten Beiträge

Die hier vorgenommene Auswahl der Publikationen berücksichtigt zunächst zwei frühe Arbeiten, die unter den Begriffen des Kriegspsychologischen bzw. der Kriegspsychologie erschienen sind (z. B. die Publikationen von Magnus Hirschfeld bzw. von Max Dessoir), als auch kriegsüberdauernde Arbeiten, die gegen Ende des Ersten Weltkrieges bzw. umständehalber erst nach dem Ersten Weltkrieg publiziert wurden (z. B. die Publikation von Felix Krueger bzw. die Untersuchung von Paul Plaut). Drei von den hier ausgewählten vier Autoren waren jüdischer Herkunft: Magnus Hirschfeld, Max Dessoir, Paul Plaut. Zum Zeitpunkt ihrer Publikationen gingen sie im akademischen Kontext unterschiedlichen psychologischen Tätigkeiten nach. Felix Krueger war nicht jüdisch. Er hatte zum Zeitpunkt seines freiwilligen Kriegsdienstes eine Professur an der Universität Halle und wurde 1917, dem Jahr seiner Kriegspublikation, als Nachfolger auf den philosophischen Lehrstuhl von Wilhelm Wundt an die Universität Leipzig berufen.

Nach dem Ersten Weltkrieg wandten sich die jüdischen Psychologen weitgehend von der Kriegsthematik und dem politischen Geschehen ab. Ihr Engagement erscheint inhaltlich als ein episodisches Interesse, das der hohen Aktualität des täglichen Lebens geschuldet gewesen sein mag. Felix Krueger hingegen verfolgte seine frühen Ansätze einer ins politische Feld weisenden Psychologie auch nach dem Ersten Weltkrieg. Die Motive für die Beiträge bzw. für das Engagement der in diesem Artikel vorgestellten Psychologen liegen nicht immer auf der Hand, sie lassen sich auch nur in Teilen rekonstruieren. Auf der einen Seite spricht für das Interesse an dieser Thematik, dass Publikationen von Kriegsteilnehmern selbst, wie jener von Erich Everth[2] (1915; 1916): Er hatte sich mit dem Seelenleben des Soldaten aus eigener Betroffenheit beschäftigt und darüber publiziert. Seine Publikation wurde wegen der Aktualität und hinsichtlich der Beschreibung aus der Innensicht als wissenschaftliche Bedingungen von psychologischer Seite gewürdigt (Lewin 1917a). Everth selbst erwartete sich Aufschluss über das Kriegserleben durch die psychologisch geschulten Kriegsteilnehmer.

Andere Arbeiten entstanden aus persönlichen Kontakten zu Mitgliedern aus Bereichen des Kriegsministeriums: Max Dessoir hatte darüber in seinem Buch der Erinnerung (1947) Auskunft gegeben: Aus zunächst persönlichen Reflexions- und Beratungsgesprächen, zu denen Dessoir von einem Mitglied der Kriegsakademie in eigener Not aufgesucht worden war, zog der Inhalt der Beratung über das Sanitätswesen Kreise bis in die Oberste Heeresführung, das Kriegsministerium, hinein, so dass Dessoir schließlich sogar Generalfeldmarschall von Hindenburg in einer Gesprächsrunde gegenüber saß. Als Frontkämpfer war Dessoir in quasi »seelsorgerischer Mission« eingesetzt. Aus seinen Beobachtungen und den ihm anvertrauten Inhalten entstand seine Publikation. Auch die Psyche der Heeresführer rückte in das öffentliche Interesse: z. B. mit der Publikation Psychologie großer Heerführer erstmalig erschienen 1916 (Ziehen 1916).

Aus psychologischer Sicht stellt sich die Frage nach dem Motiv des Wissenschaftlers auf der Metaebene als wissenschaftspsychologische Frage: Nur von wenigen Kriegsfreiwilligen oder Frontkämpfern liegen Aussagen zum Selbstverständnis kriegspsychologischer Tätigkeit vor wie bei Max Dessoir. Im Sinne einer Wissenschaftsforschung (vgl. Guski-Leinwand 2010) zeigt sich, dass auch kriegerisches Geschehen selbst zu einer Einflussgröße von Wissenschaft werden kann, wenn sich gar ein eigener Terminus Kriegspsychologie bildet. Da sich die Urheber der im folgenden vorzustellenden Beiträge nicht mehr befragen lassen, bzw. sie selbst kaum Zeugnis über ihre Motivation bezüglich ihrer Publikationen in dieser Zeit hinterlassen haben, kann hier nicht erschöpfend Auskunft über ihre Motivation gegeben werden. So sollen im Folgenden die hier ausgewählten kriegspsychologischen Beiträge aus Deutschland kurz vorgestellt und um biografische Inhalte ihrer Urheber ergänzt werden.

Kriegspsychologische Schriften und ihre Urheber

Publikationen über das Soldatentum bzw. das Geschehen des Ersten Weltkrieges gab es etwa ab dem zweiten Kriegsjahr 1916 national wie auch international. Im deutschsprachigen Bereich erschienen unterschiedliche Berichte in breit aufgelegten Monatsschriften wie z. B. Nord und Süd oder Deutschlands Erneuerung, welche im Ersten Weltkrieg gegründet wurde. Schriften mit psychologischem Bezug zum Kriegsgeschehen erschienen vereinzelt in diesen Monatsschriften oder wurden als Monografien aufgelegt. Einzelne Aufsätze erschienen auch in internationalen Fachzeitschriften der Psychologie (z. B. Bird 1917). Durch den Ersten Weltkrieg gab es für Psychologen einen neuen Aspekt des Lebens (und Sterbens) zu beobachten bzw. zu beschreiben: Das Leben des aktiv dienenden Soldaten sowie Attributionen über Völker als sogenannte Völkercharakterologie, welche unter diesem Aspekt zu einem veränderten Ansatz der Völkerpsychologie führte (Guski-Leinwand 2009). Vor Beginn des Ersten Weltkrieges ist diese Thematik in Publikationen von Psychologen nicht zu finden.[3]

Magnus Hirschfelds Schriften Warum hassen uns die Völker und Kriegspsychologisches

Die wohl früheste Schrift im deutschsprachigen Raum, die auch den Terminus Kriegspsychologie bzw. »Kriegspsychologisches« geprägt hat, stammte von Magnus Hirschfeld.[4]

Dieser ging eine Publikation voran, die sich als ein völkerpsychologischer Beitrag verstehen lässt. Bereits im ersten Kriegsjahr 1914 hatte Hirschfeld diese verfasst und wohl gleich zu Beginn des Jahres 1915 unter dem Titel Warum hassen uns die Völker? erscheinen lassen. Hier sah Hirschfeld dem Kriegsheer im Felde ein Friedensheer zur Seite stehen, das aus Forschern, Technikern und Arbeitern bestand. Der Wissenschaftssinn und der Ordnungssinn waren es, welche Hirschfeld als beneidenswertes Charakteristikum für die Deutschen ausmachte und aus diesen die Stärken der Deutschen ableitete. Den damals gegnerischen, ja feindlichen Nationen wurden anhand einzelner ihrer Repräsentanten solche Fähigkeiten abgesprochen. Was völkerpsychologisch wirkte, waren nach Hirschfelds Ansicht »induzierte Affekte«, die über einseitige und suggestive Berichterstattung in den Medien hervorgerufen wurden und die Nationen sehr unterschiedlich zu Deutschland eingestellt sein ließen. Das Heer und das gesamte Kriegsgeschehen betrachtete er als Organismus, der einer Inkubationszeit unterlag, nachdem er jeweils von Seuchenträgern wie den Presseorganen oder einzelnen Rädelsführern infiziert worden war und schließlich ein entsprechendes Verhalten ausprägte. Hier übertrug Hirschfeld die medizinische Sichtweise vom vitalen Organismus im menschlichen Körper auf ein corporatives Gebilde, was sicher metaphorisch verstehbar, wissenschaftlich jedoch nicht haltbar war und ist. Aus psychologischer Sicht wurde Hirschfelds Arbeit auch methodisch kritisiert, da sie über den Status der Erklärung nicht hinausgreift, um die zu Grunde gelegten psychischen Tatsachen zu überprüfen (Lewin 1917b).

Mit dieser Publikation widmete Hirschfeld sich der Annäherung an die Außenperspektive und versuchte aus den Schwächen der gegnerischen Nationen etwas über deren Motivation zur Kriegsführung heraus zu lesen. Gleichzeitig lotete er auch aus, was innerlich die im Kriegsheer und jene im Friedensheer Tätige einte. In dieser Publikation lässt sich noch die nationale Überzeugung einer Kriegsüberlegenheit herauslesen, die gemäß einer Sentenz aus einem Gedicht von Emanuel Geibel (»Deutschlands Beruf«, 1861) der Überzeugung folgte: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen. Dieses Zitat sollen später sowohl Bismarck als auch Kaiser Wilhelm II. oft verwendet haben.

Abb. 1: Cover der Publikation »Kriegspsychologisches« von Magnus Hirschfeld (1914)/Reprofoto: Guski-Leinwand

Eine weitere Publikation Magnus Hirschfelds ist heute fast vergessen, lieferte aber bereits mitten im Ersten Weltkrieg sehr anschauliche Ergebnisse über die Innenperspektive: Hirschfelds Publikation Kriegspsychologisches von 1916 gab Beobachtungen und Inhalte aus Gesprächen mit Kriegsteilnehmern wieder, um auf dieser Basis zu Aussagen über die Bereitschaft und Motivation von Menschen zu machen, welche weit über die Grenzen ihrer physischen und psychischen Belastbarkeit gingen und sich dem Kriegsgeschehen auch unter Erschöpfung, Hunger und Schlafentzug dauerhaft stellten. Die Begleitumstände, die sowohl im Gehorsam als auch in der Unterwerfung unter den Gruppendruck liegen, wurden detailliert dargestellt. Auch spirituell-religiöse Zuschreibungen an den Krieg als ein reinigendes oder gar heilsames Ereignis wurden dargestellt.[5]

Aus dieser Publikation Hirschfelds lässt sich sein psychologisches Interesse ebenso nachlesen wie schon in der Studie von 1916. In beiden Studien fragte Hirschfeld nach den Motiven und auch den Attribuierungen, die diese verschiedenen Formen von Gewalt beförderten bzw. bedeuten konnten.[6] Beides – die Erforschung von Motivation bzw. das Attributionsverhalten – sind Fragestellungen innerhalb der Psychologie.

Das kriegspsychologische Interesse Hirschfelds im Ersten Weltkrieg lässt sich möglicherweise aus seiner soziobiografischen Prägung ableiten: Sein Vater, Hermann Hirschfeld, war im deutsch-französischen Krieg zum Sanitätsrat ernannt worden und könnte dem Sohn seine Erfahrungen und Beobachtungen nahe gebracht haben. Besonders aber dürften Hirschfelds eigene Tätigkeit als Lazarettarzt im Ersten Weltkrieg und die Gespräche mit den Verwundeten als Grundlage für seine Studie gegolten haben. Damit erschloss er jenen Anteil an der Kriegsbereitschaft des Einzelnen, der später in der Psychologie als intrinsische Motivation bezeichnet worden wäre. Der möglichen extrinsischen Motivation für die Kriegsbeteiligung hatte Hirschfeld bereits in seiner voran gegangenen Publikation von 1915 Warum hassen uns die Völker? versucht heraus zu arbeiten.

Seine eigene Motivation und Fragestellung zu seiner Studie 1916 legte Hirschfeld mit folgenden Worten offen: »Es ist nötig, auf diese psychischen Vorgänge im einzelnen etwas näher einzugehen; denn will der Mensch nicht nur den Feind, sondern, was schwerer ist, den Krieg überwinden, dann muß man auch wissen, was am Krieg den Menschen triebhaft lockt.« (Hirschfeld 1916, S. 12). Diese Annahme der (Ver‑)Lockung des Krieges registrierte Kurt Lewin in einer kurzen Rezension als »das dämonisch Lockende am Kriege« (Lewin 1917c), ohne jedoch weiter darauf einzugehen. Lewins Rezension wirkt eher beschreibend denn bewertend.

Bei Hirschfeld selbst lässt sich passagenweise eine pazifistische Haltung ausmachen: »Nicht wer schuld ist, sondern was schuld ist, muß man ergründen, sollen der Zukunft Ausbrüche und Zusammenbrüche ähnlicher Art erspart bleiben.« (Hirschfeld 1916, S. 7). Ähnlich wie Theodor Ziehen (1916) richtete Hirschfeld seine Ergebnisse auf eine Friedensorientierung aus. Dabei unterschied er die »objektiven Missetätern« (Hirschfeld 1916, S. 7) Unwissenheit, Leichtgläubigkeit, Unduldsamkeit und Furcht, welche eine vermittelnde Wirkung gegenüber sogenannten »Denkkeime(n)« (Hirschfeld 1916, S. 8) in einschlägigen Presseberichten und »Lobredner(n) des Krieges« (Hirschfeld 1916, S. 3) hatten von der individuellen Beschränktheit, die Gutes wolle und Böses schaffe (Hirschfeld 1916, S. 7). Diese Ereignisse im Gesamten sah er als Ursache für ein »Massengehirn«, aus dem »völkische Unduldsamkeit als wucherndes Unkraut erwuchs« (Hirschfeld 1916, S. 8). All dies summierte er als »Affekte«, die in Wirklichkeit »Defekte« waren und zu entsprechenden »Effekten« führten, die eine äußere Notwendigkeit eines Krieges herbeiführten und schließlich »die innere Notwendigkeit, an ihm teilzunehmen« nach sich zogen (Hirschfeld 1916, S. 10).

Für die direkt beteiligten Individuen als Soldaten nannte er die »Liebe zum Vaterland« als starke seelische Hingabe, gepaart mit der »Märtyrerlust« als ihrer Entsprechung auf körperlicher Seite. Heute würden wir bei dem von Hirschfeld identifizierten Wunsch des Dabei-sein-wollens vielleicht von sozialer Teilhabe sprechen. Aber er nannte auch die Kriegsbegeisterung, die auch friedlich gesinnte Menschen ergriffen hatte. Als Kern der Motivation des in den Krieg Ziehenden war es aber besonders jenes Dabei, das Hirschfeld genauer untersuchen wollte. Er wollte ergründen, »worin das Berückende, Magnetische, Dämonische des Krieges besteht (…). Da gelangen wir wieder zu dem Begriff, den wir in der Einleitung als Ekstase bezeichneten und den man auch als Rausch- oder Drangzustand bezeichnen kann.« (Hirschfeld 1916, S. 11). Wenngleich Ekstase wie eine objektive Größe oder Variable klingen mag, machte Hirschfeld jedoch darauf aufmerksam, das dem keineswegs so war: »Es ist weder eine einfache, noch einheitliche Seelenverfassung« (Hirschfeld, 1916, S. 12).

Hirschfeld benannte aus der reinen Annahme heraus verschiedene Rauschzustände wie z. B. den »Gemeinschaftsrausch und Verbrüderungsrausch« und des »als Teil eines Ganzen« gelten zu wollen, welche treibende Kräfte im bzw. für den Krieg bei den Einzelnen gewesen sein sollen. In diesem Zusammenhang nannte Hirschfeld schließlich noch den »Kampfesrausch und die Siegestrunkenheit, Blut- und Zerstörungstaumel« sowie »Eroberungs- und Beuterausch« (Hirschfeld 1916, S. 20f.). Kurt Lewin hatte das der Publikation zu Grunde liegende Verfahren kritisisiert: »M.‘s Schrift enthält Gedanken über psychologische und allgemeine Ursachen und Wirkungen des Krieges, ohne allerdings auf eine genauere Beweisführung einzugehen.« (Lewin 1917c). Unter dieser Kritik wird allzu deutlich, dass Hirschfelds Publikation eher als eine Dokumentation mit spezifischen Deutungen eingeordnet wurde und nicht als eine basiswissenschaftliche Arbeit zur Kriegspsychologie. Zu Hirschfelds Publikation erschienen verschiedene Rezensionen in unterschiedlichen Fachzeitschriften: Hirschfelds Arbeit Kriegspsychologisches wurde beispielsweise in der Frankfurter Universitäts-Zeitung gewürdigt, da sie »von einem tiefen Eindringen in das menschliche Seelenleben« zeugte (Parten 1916, S. 124). Im Kontext der Militärforschung wurde sie als »gründlich, umsichtig und allseitig« eingeschätzt (Allgemeine Schweizerische Militärzeitung 1916, S. 290). Eine weitere Rezension unterstellte als Motiv der Schrift das »Streben nach Objektivität, die Gesinnung in der Hoffnung auf Versöhnung und Verbrüderung der Völker« (Marcuse 1916).

Dennoch erscheint unter dem Nachdenken über Rauschzustände die Arbeit von Hirschfeld als wertvoll: Als das Verbindende aller dieser Rauschzustände als Teile der Ekstase identifizierte Hirschfeld – der auch als Gerichtsgutachter für Deserteure u. a. tätig war – den Tatendrang und Tatenrausch, was wiederum auch mit dem oben schon genannten Leidens- und Leistungsrausch zu korrespondieren vermag. Hirschfelds Klassifizierung der verschiedenen Rauschzustände wird einerseits mit seinem sprachwissenschaftlichen Studium zusammenhängen, andererseits wird er als Arzt in den Gesprächen mit den Verwundeten bzw. Soldaten wohl aber auch den ekstatischen Charakter und den multiperspektivischen Zusammenhang der Darstellungen vernommen bzw. als solche einzuordnen gewusst haben. Damit ist Hirschfelds Arbeit bis heute als eine pionierhafte Arbeit einzuordnen. Denn Ekstase war zuvor nur selten im Zusammenhang mit Kriegsgeschehen diskutiert oder untersucht worden (Buber 1908) und auch bis heute fehlt hier noch ein einheitlicher wissenschaftlicher Zugang.[7]

Max Dessoirs Kriegspsychologisches Betrachtungen

Als weitere Publikation, die ebenfalls in den ersten Jahren des Ersten Weltkrieges entstand, ist jene von Max Dessoir[8] zu nennen: Sie war unter dem Titel Kriegspsychologische Betrachtungen Mitte 1916 erschienen und durch eigene Erfahrungen an der Ostfront im Herbst 1915 intendiert, wo er als Frontkämpfer diente, aber auch für Mitglieder des Kriegsministeriums ein geschätzter Gesprächspartner und Berater war, wie weiter oben bereits dargelegt. In seinen Kriegspsychologischen Betrachtungen kommen sowohl Aspekte wie auch der sich verändernde Verlauf individueller Erlebens- und Verhaltensweisen wie auch soziale bzw. völkerpsychologische Denkweisen zum Tragen. Wie eingangs schon kurz skizziert, beschrieb Max Dessoir die nachlassende Kriegsbegeisterung schon für den Zeitraum weniger Monate nach Kriegsbeginn und argumentierte, dass der Aufschwung zur weiteren Kriegsbereitschaft aus der Volksseele stammen müsse.

Dessoir arbeitete heraus, dass sich Spannung und Erregung im Krieg erhielten, doch interindividuell verschiedene Befindlichkeiten zu beobachten seien. Die allgemeine psychologische Verfassung des Heeres beschrieb er als eine nur leidlich gleichmäßige. Dessoirs Darstellungen lassen sich gleichsam auf einer Metaebene verfolgen und zeigen seinen Blick aus einer professionelle(re)n Distanz, welche die Ereignisse und das Beobachtbare sehr präzise und nüchtern darstellte. Damit gab Dessoir eine Darstellung auf phänomenologischer Basis, indem er beschreibend darlegte und weitestgehend auf Wertungen oder Urteile verzichtete.

Der Vorgang der »Umpflanzung«, als welchen er die örtlich veränderten Bedingungen des Soldaten bezeichnete, hatten verschiedene physiologische Auswirkungen, welche zu einer außerordentlichen Erregung der Seele beitrugen, aber auch zu Zermürbung und schließlich Abmagerung und Schlafmangel führen konnten, obwohl ein sogenannter Wille zur Gesundheit die physische Widerstandskraft lange hochhalten konnte. Auf psychisch-spiritueller Ebene beschrieb Dessoir, wie der Beginn des Krieges von einem öffentlichen Vater-Unser-Gebet rund um das Bismarckdenkmal in Berlin eingeleitet war und als Element der Frömmigkeit im Krieg bei vielen erhalten blieb. Der Krieg ermöglichte religiöse Ergriffenheit nach Dessoirs Ansicht. Er ging sogar soweit zu behaupten, die Sprache des Krieges ließe die Sprache der Ewigkeit vernehmen. Im Hinblick auf das Soziale beschrieb Dessoir jedoch auch Gruppendruck, der einzelne Bedürfnisse unterjochte und ferner, dass das Fachmenschentum zu Gunsten einer Sphäre der Gemeinschaft gelockert worden sei, Solidarität jedoch eher im kleineren Verbund unter den Soldaten zu spüren war als im Gemeinschaftskörper. Da jedoch »alle Schichten im Rock des Königs« vereint waren, sah er darin auch eine gute Voraussetzung für die kommenden Gemeinschaftsleistungen beim Aufbau bzw. der Restitution der eroberten Gebiete. Ein nationales Gesamtbewusstsein sollte dabei vermittelnd wirken. Nach seinen sehr anschaulichen Darstellungen wagte Dessoir jedoch auch spekulative Aussagen, die der ansonsten phänomenologisch ausgerichteten Arbeitsweise entgegenstanden: Vorschläge zu einem »psychologischen Abbau des Krieges« gehören hierzu, wurden jedoch von Fachrezensenten wie Kurt Lewin wertgeschätzt (Lewin 1917d). Auch die Herausarbeitung der Wirkung von Gruppengefügen auf den Einzelnen lassen Dessoirs Arbeit insofern als eine relevante kriegspsychologische Arbeit erscheinen, als er hier Grundgedanken zu der von Lewin später so benannten »dynamic of the group« formulierte (Lewin 1939). Kritisch bemerkt wurde jedoch über Dessoirs Arbeit, dass er von einer Zweckungebundenheit bei den Kriegsteilnehmern ausging, ja beinahe eine gewisse Selbstlosigkeit unterstellte. Lewin bezweifelte, dass die im Kriegsdienst tätigen keine Ambitionen in Bezug auf ihre eigene Stellung bzw. auf künftige Positionen innerhalb des Heeres gehabt hätten. Er hielt diesen Aspekt für bedeutsam und unterstellte, dass überdauernde Zweckabsichten wie Auszeichnungen und Beförderungen durchaus als Motivlage bei den Kriegsdienstleistenden gewesen sei.

So idealisierte Dessoir den Krieg als einen »Entwicklungskrieg«, der den Keim einer später der Menschheit winkenden »Interhumanität« in sich tragen sollte. Im Vertrauen auf den Genius des deutschen Volkes sollte seiner Ansicht nach ein segensreiches Ende des Krieges erwartbar sein. So erscheinen Dessoirs kriegspsychologische Betrachtungen stark propagandistisch und wenig distanziert zu dem tatsächlichen Kriegsgeschehen. Es lässt sich wegen fehlender Archivalien aus der Zeit des Ersten Weltkrieges nicht nachforschen, ob für eine Publikation wie jene von Dessoir ein Auftrag seitens des Kriegsministeriums bestanden hat, um in dessen Ziel und Vorhaben gleichsam propagandistisch zu publizieren. Nur von Felix Krueger (auf den weiter unten noch eingegangen wird) ist bekannt, dass er sich – neben anderen Philosophie-Professoren – in den Dienst des Kriegsministeriums gestellt hatte.

Dessoirs Arbeit wurde von anderen Fachrezensenten der Psychologie besonders hinsichtlich »scharfsinniger Analyse, der eine eine verfeinerte Einfühlungsgabe entgegenkommt« wertgeschätzt (Bobertag 1918). Wie Lewin würdigten auch andere Rezensenten Dessoirs Entwürfe zu einem »psychologischen Abbau des Krieges« und die Attributionen eines »Volkscharakters« (Kutzner, 1917). Seine Darlegungen aus eigenem unmittelbarem Erlebnis an der Ostfront wurden als »wertvoll« (Priegel 1916) bzw. »besonders wertvoll« eingestuft und als »bestens zu empfehlen« für diejenigen, die »ein tieferes Eindringen in die Psychologie des Krieges« wünschten (Dobrick 1916).

Paul Plauts Psychographie des Kriegers und Prinzipien und Methoden der Kriegspsychologie

Als dritte hier vorzustellende Publikation im Sinne einer Kriegspsychologie ist jene von Paul Plaut[9] (1920; 1928) zu nennen: Paul Plaut betrachtete seine bis 1918 durchgeführte Studie, die 1920 als Beitrag Psychographie des Kriegers in den Beiheften zur Zeitschrift für angewandte Psychologie erschien, als eine Art Aufklärungsbeitrag für einen Bereich, der Kriegspsychologie genannt wurde und den Plaut als einen Zwischenbereich von »Normalpsychologischem« und »Psychopathologischem« definierte.

In seiner Studie griff er auf die von Otto Lipmann und William Stern[10] ausgearbeitete Methode der Psychographie[11] zurück, einer Fragebogen gestützten Erhebungsweise, welche auch Aussagen und Darstellungen in Feldpostbriefen hinzuzog. Mittels dieser Methode wurden verschiedene Aspekte sowie Erlebens-, Verarbeitungs- und Verhaltensweisen der Soldaten in ihren spezifischen Situationen erhoben. Der Fragebogen selbst wurde im Institut für angewandte Psychologie und Sammelforschung bei Otto Lipmann entwickelt. Aufgrund der Kriegszensur kam jedoch dieser Fragebogen nur zu einem geringen – nicht näher bezifferten Teil – zum Einsatz, wie Plaut in seiner Publikation 1928 »Prinzipien und Methoden der Kriegspsychologie« bemerkte. Radikal gestrichen wurde schließlich die Kategorie »Verhalten gegenüber anderen Soldaten« und konnte theoretisch auch das Verhältnis Vorgesetzter zu Untergebenem thematisieren. Möglicherweise war über diese Kategorie auch der an anderen Stellen beschriebene Antisemitismus im Heer erfassbar, der durch die Zählung der Juden im Heer durch das preußische Kriegsministerium hervorgerufen war. Diese Zählung gilt als »Skandal« (Benz, 2004, S. 109) und wird von Historikern als »die größte Ungeheuerlichkeit« bezeichnet, »deren sich eine Behörde je schuldig gemacht hat« (Matthäus 1988, zit. in Benz 2004, S. 109)[12]. Einzelne Aspekte dieser Statistik waren in der völkischen Monatsschrift Deutschlands Erneuerung abgedruckt und propagandistisch gegen Juden konnotiert worden.

Paul Plauts Ansatz beschrieb daher das Kriegsgeschehen aus Soldatensicht sehr nahe an Realität und Front-Alltag und durchbrach damit jegliche Denkmuster und Kriegspropaganda hergebrachter Art. Seine Studie betrachtete das Individuum in seinen Nöten und Anforderungen im Kriegsdienst und gegenüber dem Verhalten im Frieden.

Die Ergebnisse seiner Untersuchung zeigten ein dem soldatischen Ideal oft entgegengesetztes Verhalten, das in den Grundzügen überliefert wurde als »Jeder ist sich selbst der Nächste. (…) Der Egoismus ist im Kriege zu besonderer Blüte gelangt. (…) Der Kampf um die Quartiere kommt in seiner Heftigkeit oft gleich nach dem im Graben. (…) Völliges Aufgehen im Kameradschaftsverband, völliges Teilen aller Interessen gibt es nicht und ist auch nicht denkbar.« (zit. in Ulrich 1996, S. 107).

Da es Plaut in seiner Studie darum ging, die treibenden Kräfte des Krieges zu ermitteln und im Sinne einer psychohistorischen Aufarbeitung zur Verfügung zu stellen, um eine Kriegspsychologie in Abgrenzung zu einer psychotechnischen Ausrichtung der Psychologie für den Militärdienst zu etablieren, stellte er die von ihm verwendete Methode der Psychographie in einer späteren separaten Publikation dar. Diese erschien 1928 unter dem Titel Prinzipien und Methoden der Kriegspsychologie in Emil Abderhaldens Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Dieser Publikation ist im Anhang ein modifizierter Fragebogen mit Begleitschreiben des ungarischen Psychologen und selbst im Kriegsdienst stehenden Rittmeisters Stefan von Maday beigefügt. Aus diesem geht hervor, dass die »Seelenkunde« als die Grundlage galt, auf welcher alle politische, wirtschaftliche und Geschichtsforschung aufgebaut werden soll« (Plaut 1928, S. 686).

Seine Methode übertrug Plaut jedoch bereits zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses zweiten kriegspsychologischen Artikels auf andere Aspekte der Psychologie, so der Kunstpsychologie und ihren Prinzipien sowie der Frage nach den Wirkmechanismen wissenschaftlicher oder künstlerischer Produktivität aller Art, womit er sich eine größere Beachtung verschaffte als mit den kriegspsychologischen Arbeiten. Methodisch jedoch waren seine Arbeiten stets psychographisch, d. h. über Fragebögen, angelegt, ließen jedoch auch Raum zu freien Mitteilungen und Assoziationen der Befragten.

Kriegspsychologische Beiträge als Beiträge zu einer Nationalpsychologie und einer umgedeuteten Völkerpsychologie

Von den drei oben vorgestellten Beiträgen zur Kriegspsychologie weicht der hier als vierter vorgestellte Beitrag von Felix Krueger[13] ab, da er Kritik an der innenpolitischen Dynamik bezweckte: Krueger betitelte seinen Beitrag mit Deutschlands seelische Haltung im vierten Jahre des Weltkrieges. Der Beitrag erschien ganzseitig in der großformatigen Illustrirten Zeitung (No. 3875, S. 480). In seinem Artikel richtete Krueger den Blick auf die Entsagungen des Soldaten als Individuum bzw. vom Heer als Gemeinschaft hin zu einem psychisierten Staatsgebilde, das sich in manchem Parteilager als wankend zeigte. Anders als in Hirschfelds Publikation Kriegspsychologisches stand hier zwar auch das deutsche Volk im Fokus der Auseinandersetzung, doch stehen weniger Aspekte von Versöhnung oder Verbrüderung im Vordergrund als vielmehr die Reaktionen auf außenpolitisch bedeutsame Aspekte und innenpolitische Lage.

Felix Kruegers Artikel Deutschlands seelische Haltung im vierten Jahre des Weltkrieges

Von allen hier vorgestellten psychologischen Beiträgen, die in der Zeit des Ersten Weltkrieges über kriegspsychologische Aspekte handelten oder sich den im Kriegsdienst Stehenden widmeten, war der Autor Krueger der Einzige, der auch nach dem Ersten Weltkrieg noch politisch aktiv blieb bzw. nach eigenen Angaben die nationalsozialistische Führung bereits Jahre vor der Machtübernahme beriet und somit die »Seelenkunde«, wie er sie häufig nannte, im Sinne der Darstellung des Rittmeisters von Maday (wie oben bei Plaut vorgestellt) positionierte als eine Grundlagenwissenschaft, welche in ihrer politischen, wirtschaftlichen und historischen Relevanz betont wurde. Alle anderen hier dargestellten Autoren wählten andere Schwerpunkte für ihre Tätigkeiten nach dem Ersten Weltkrieg.

Abb. 2: Artikel von Felix Krueger, Illustrirte Zeitung, 1917, Nr. 3875, Kriegsnr. 166, S. 480/Reprofoto: Guski-Leinwand

In seinem Beitrag in der Illustrirten Zeitung von 1917 beschwor Krueger gemäß seines sozialgenetischen Entwicklungssansatzes, dass »geistige Kräfte, (…) seelische Wirkungszusammenhänge sind (…), die auch die gewaltsamen Entscheidungen der Menschheitsgeschichte im Grunde bestimmen«. Diese seelischen Wirkungszusammenhänge nannte er in den Folgejahren »Struktur« (Krueger 1924). Ebenso nahm er eine Umdeutung des völkerpsychologischen Ansatzes vor und deutete seit 1921 vieles in seinem außeruniversitären Engagement in Richtung nationaler Argumentation.

In seinem Beitrag von 1917 bot Krueger ein neues bzw. anderes Verständnis von Volksseele im Sinne eines Volkscharakters an, das auch noch nach dem Ersten Weltkrieg in seinen weiteren Publikationen Bestand hatte (Krueger 1922/1924) und sich durch Umdeutungen auf nationalisierte Darstellungen auszeichnete. Diesen Begriff einer Charakterologie der Völker hatte er bereits in seiner Publikation Über Entwicklungspsychologie im Jahr 1915 zu Grunde gelegt und gegen genau diese Umdeutung bzw. Erweiterung der Völkerpsychologie war Wilhelm Wundt noch 1916 schriftlich angegangen. Für Wundt gehörte eine charakterologische Argumentation oder Denkweise über Völker nicht in den Bereich der Psychologie bzw. Völkerpsychologie. Nach dem Tode Wundts jedoch etablierte sich dieser Terminus in die dann bis ca. 1944 fortgeschriebene Völkerpsychologie als einer »differentiellen Völkerpsychologie«. Deutschsprachige Autoren und Psychologen wie Erich Rudolf Jaensch, Willy Hellpach oder Julius Thyssen, ein Neffe August Thyssens, übernahmen diesen Terminus, der von dem Wagner-Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain erstmalig 1904 einer Publikation verwendet worden war (Chamberlain 1904, XLIV).Verschiedene Titel erschienen in der Zeit des Ersten Weltkriegs, die sich mit der Frage nach der »Mobilmachung der Seelen« (Schultze 1916) oder einer »Nationalpsychologie« (Bergmann, 1918) oder »Psychologie der Nationalcharaktere« (Müller-Freienfels, 1918) sowie veränderten Ansätzen der Völkerpsychologie als einer Völkercharakterologie unter Themen wie »Charakter und Politik des Japaners« (Prenzel 1915) oder »Zur Charakterisierung der Engländer« (Schröer 1915) widmeten. Die Veränderung des völkerpsychologischen Untersuchungsgegenstandes ist unmittelbar mit dem Ersten Weltkrieg verbunden und wurde bereits ausführlich bezüglich seiner Folgen untersucht (Guski-Leinwand 2009; Guski-Leinwand 2010; Guski-Leinwand 2014). Die veränderte Völkerpsychologie und die Ganzheitslehre Kruegers waren maßgeblich an einem semantischen Umbau der Geisteswissenschaft Psychologie beteiligt und hatten eine langjährige Vorbereitung. Gleichzeitig blieb der Beitrag deutscher Psychologen zur Etablierung der nationalsozialistischen Ideologie lange im Dunkeln.

Felix Krueger blieb der Positionierung der Psychologie als Seelenkunde über die Zeit des Ersten Weltkrieges hinaus verpflichtet. Viele seiner Publikationen zeigen das Phänomen eines »doublespeak« (Lutz 1989, S. 4)[14], da er auf ein – wie Dessoir es nannte – nationales Gesamtbewusstsein abzielte lässt sich vor allem an dem Begriff des Gliedes festmachen, ein Terminus, den Krueger für seine Psychologie einführte und der noch 1937 im Lexikon »Der Neue Brockhaus« den Menschen mit Bezug auf Kruegers Lehre nicht als Teil, sondern Glied einer Ganzheit, wie z. B. das Volk, definierte. Die Individualität oder der Begriff des Individuums ist in diesem Zusammenhang nicht zu finden. Der Gegenstand der Betrachtung war daher in vielen seiner Publikation staatstheoretischer und nicht individualpsychologischer Art (vgl. Guski-Leinwand 2010).

Zum Begriff des Gliedes hatte Plaut in seiner 1928 erschienen Publikation bereits heraus gearbeitet: »Der Soldat kann die zwangsmäßige »Notwendigkeit« nur dann voll begreifen, wenn er sich auch als Partial, als Glied der kriegerischen Gruppe oder Masse fühlt. Denn nur so kann er alle jene Momente ausschalten, die ihn diskollektiv belasten, etwa von der moralisch-ethischen Seite her usw.« (Plaut 1928, S. 685). Der militärisch-funktionale Begriff des Gliedes erfasste das Subjekt scheinbar aus ontologischer Sicht. Der Glied-Begriff hatte sich bei Krueger schon früh in seiner Schrift Der Strukturbegriff in der Psychologie aus dem Jahr 1924 manifestiert:

»Der Begriff »Gestalt« mit seinen Ableitungen (Gestaltbindung, Durchgestaltetsein usf.) sollte auf diejenigen Tatsachen und Zusammenhänge des Erlebens beschränkt werden, für welche Gegliedertheit bei erhaltener Ganzheitlichkeit, also geformte Einheitlichkeit charakteristisch ist. Das trifft durchaus nicht für alle erlebbaren Ganzheiten zu. (S. 5). […] Dagegen zielt doch, schon dem Wortsinne nach, der Ausdruck Struktur auf ein dauerhaftes Gefüge, von Baugliedern und ganzheitsbezogenen Kräften, d. h. solchen Kräften, die gesetzmäßig von dem Gesamtgefüge abhängen und wiederum seine Ganzheit sowie seine Gliederung bewirken. In Sachen des Lebensgeschehens meint man mit Struktur sehr mannigfaltige Erfahrungen zusammendenkend, letzten Endes: das ganze Lebewesen, das die fraglichen Erscheinungen trägt, besitze gefügehaften Zusammenhalt. Es stelle einen in sich gegliederten Aufbau dar, erhaltungsfähig und zugleich wachstumskräftig, alle seine Organe und Anlagen, die angeborenen wie die erworbenen seien gliedhaft zu einem dispositionellen Ganzen geeint. […] Struktur bedeutet gegliederte und in sich geschlossene Ganzheit von Seiendem.« (S. 13).

Mit diesen theoretischen Setzungen legte Krueger die Kernaussagen seiner Ganzheitslehre vor, unter der der einzelne Mensch nicht mehr Individuum oder Teil, sondern Glied mit gliedhafter Struktur entsprechend einer organischen Denkweise war und sich aus einem angenommenen gemeinsamen Seinsgrund heraus verhielt, der sowohl ein Heeresgrund als auch ein Volksgrund sein konnte. Individualität war damit bereits zum Zeitpunkt seines Vortrages auf dem Kongress 1923 für ihn kein Paradigma seiner Psychologie mehr. Seine Publikation Der Strukturbegriff in der Psychologie erschien in zweiter Auflage stark verändert gegenüber der Wortwahl der ersteren und erschien im Jahr 1932. Die neben Krueger auch von anderen, geisteswissenschaftlich-orientierten Psychologen vorgenommene Einordnung des Individuums und dessen Bewusstseinsentstehung während der sogenannten Zwischenkriegszeit wurde u. a. auch als »Kampf um das Subjekt« (Rinn 2005, S. 343–375) erkannt.

Dass sich gegen die Individualität des Menschen genau zehn Jahre später eine totalitäre Staatsführung in Deutschland unter den Nationalsozialisten ausrichten würde, erscheint somit wie eine logische Konsequenz, da auch Krueger Mitglied im Kampfbund für deutsche Kultur[15] war, welcher als ideologischer Schmelztiegel die quasi-wissenschaftlichen, ideologischen Grundlagen für den Nationalsozialismus seit 1927 vorbereitete.[16]

Fazit: Wissenschaftliche bzw. wissenschaftshistorische Relevanz der vorgestellten Arbeiten

Die hier vorgestellten kriegspsychologischen Beiträge von Psychologen aus Deutschland zeigen zum Teil wenig professionelle Distanz zum Kriegsgeschehen bzw. Rückbesinnung auf die Kerndisziplinen, denen ihre Autoren angehörten (Medizin und Philosophie). Im Gegensatz zum heutigen professionellen Selbstverständnis von Psychologinnen und Psychologen gab es keine Reflexion ethischer Grundsätze oder über die eigene Rolle als Psychologen, sondern es war leicht, zu sogenannten »Reserveengeln der Executive« zu werden (vgl. Guski-Leinwand 2011).

Ferner unterscheiden sich die hier vorgestellten Arbeiten in Zeitpunkt und Methodik ihres Erscheinens. Legt man die hier kriegspsychologisch ausgerichteten Arbeiten chronologisch hintereinander, zeigen sich veränderte Schwerpunkte, welche die Situation im Krieg an sich zu erfassen (Dessoir) bzw. zu Kriegsanfang zu ermutigen (Hirschfeld) versuchte, dann die Nöte und Zwistigkeiten der Kriegssituationen offenbarten (Plaut) und schließlich vom Blick des Einzelnen sich wegwendend auf das Gesamtgeschehen und die innerpolitischen Konnotationen zum Krieg zu sprechen kamen (Krueger). Methodisch folgen die ersteren Publikationen von Hirschfeld und von Dessoir eher der persönlichen Befragung bzw. einer Form des Interviews und Plaut einer systematischen Befragung durch Fragebogen. Diese ersten drei hier vorgestellten Kriegspsychologie-Beiträge sind als Monographien bzw. Fachpublikationen erschienen. Kruegers Schrift – erschienen als ein politisch-propagandistischer Artikel innerhalb einer Kriegsausgabe einer allgemeinen Illustrierten der damaligen Zeit – weicht inhaltlich als auch vom Format der Monographie bzw. der Fachpublikation von den Arbeiten der anderen ab.

Wissenschaftsgeschichtlich erscheinen die Beiträge zum Ersten Weltkrieg bisher weniger für die Psychologie selbst als für die kulturgeschichtlichen Forschungen von Interesse (vgl. Rinn 2005). Für die Psychologiegeschichte fehlt es bisher noch an einer systematischen Erhebung oder Zusammenschau des gesamten kriegspsychologischen Engagements. Auch die außerdisziplinären Impulse, welche zu einer eigenen Terminologie innerhalb der kriegspsychologischen Schriften geführt hat bzw. haben könnte, sind nicht systematisch untersucht. Lediglich durch einige Hinweise konnte im vorliegenden Beitrag herausgearbeitet werden, dass wesentliche Termini nicht der Feder von Psychologen bzw. Akademikern, die sich der Psychologie zurechneten, stammten (vgl. Everth 1915). Gleichzeitig hat die Methode der Psychographie durch die Anwendung auf Situations- und Erlebnisinhalte im Ersten Weltkrieg starke Impulse in Richtung auf inneres Erleben und (Trauma‑)Verarbeitung zu Grunde gelegt und die Methode an sich später auf andere Situationen übertragbar werden lassen (Plaut 1929).

Eine systematische Erforschung von Kontinuitäten und Denktraditionen, wie sie zu Kruegers Beitrag bzw. späteren Beiträgen gefunden wurden als auch eine sprachliche Untersuchung zur weiteren Verwendung spezifischer Kriegs-Termini in psychologischen Publikationen ohne direkt erkennbaren militaristischen oder politischen Bezug fehlt ebenfalls bisher. Die hier vorgestellten Arbeiten und die Untersuchung ihres Entstehungskontextes kommen damit dem Charakter einer Stichprobe nahe, welche kein einheitliches methodisches Vorgehen und keine einheitliche Beauftragung oder Zielsetzung der Untersuchungen bzw. Publikationen erkennen lassen.

Viele Aspekte der kriegspsychologischen Arbeiten erlangten keine langfristige Rezeption, so z. B. die sprachlichen Bezeichnungen der verschiedenen Rauschzustände, wie sie Hirschfeld benannte, oder die politischen Konnotierungen zur Überwindung der traumatisierenden Kriegseinflüsse. Der Wert und die Aktualität der hundert Jahre alten Schriften besteht also vor allem in der Darstellung der Vielfalt und Verquickung der verschiedenen lebensweltbezogenen Begeisterungen, denen Menschen unterlagen und mit denen sie manipuliert wurden und manipuliert werden konnten. Dass leider auch spezifische Konzeptionen – wie Kruegers Ganzheitslehre – hier einen möglichen Anwendungsbezug offenbaren, muss vor allem Psychologinnen und Psychologen heutiger Generation zu Aufklärung über die Genese ihrer Wissenschaftsgeschichte zur Kenntnis gereichen, als auch zu vertiefender Forschung der eigentlichen Disziplingeschichte aufrufen. Auch in diesem Sinne versuchte der vorliegende Artikel einen Beitrag zu leisten.

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Endnoten:

[1]

Die Psychologie war zur Zeit des Ersten Weltkriegs noch keine eigenständige Disziplin, so dass hier diese einschränkende Formulierung genutzt wird. Der erste Lehrstuhl für Psychologie wurde erst nach dem Ersten Weltkrieg 1923 an der Universität Jena eingerichtet bzw. besetzt. Bis dahin beschäftigten sich Vertreter aus unterschiedlichen Disziplinen mit psychologischen Fragestellungen, so dass deshalb die hier vorgestellten kriegspsychologischen Beiträge nicht einheitlich aus nur einer fachlichen Disziplin stammen.

[2]

Everth war Kunsthistoriker und wurde später der erste ordentliche Professor für Zeitungswissenschaft. Seine 1915 erschienene Publikation hatte erste Begriffe geprägt, welche später als kriegspsychologische Begriffe und Tatsachen mit Bezug zu Hirschfelds Publikation genannt wurden (so z. B. in der Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitung, 1916, Band 62, Heft 30, S. 290). Everth leistete Jahrzehnte später Widerstand gegen die Gleichschaltungspresse der Nationalsozialisten und wurde dafür Ende September 1933 zwangsemeritiert. Bedingt durch eine schwere Krankheit verstarb er im Juni 1934 (vgl. Kutsch 2002).

[3]

In späteren Jahrzehnten – bzw. nach dem Zweiten Weltkrieg – sind vermehrt Arbeiten aus der Psychologie über die Ereignisse in Kriegen und das Soldatentum (z. B. Boder 1945; Rudmin 2011) bzw. Sonderausgaben zur Militärpsychologie zu finden.

[4]

Magnus Hirschfeld wurde am 14. Mai 1868 in Kolberg geboren und verstarb an seinem Geburtstag 1935 im Exil in Nizza, wohin er als Sohn jüdischer Eltern vor der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten fliehen musste. Zum Zeitpunkt der Publikation »Kriegspsychologisches« in der Reihe »Deutsche Kriegsschriften« 1916 lebte er in Berlin. Zu weiteren biografischen Angaben siehe z. B. Dose (2005), Herzer (2001) oder Wolff (1986).

[5]

Eine Untersuchung individueller Erlebens- und Verhaltensweisen der deutschen Soldaten im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg hatte mittels Fragebogen auch Paul Plaut vorgenommen, worauf weiter unten eingegangen wird.

[6]

Im Einzelnen identifizierte Hirschfeld als Motivatoren bspw. den Helden- oder Abenteuerrausch, dem durch Verwundung ein entsprechender – so würden wir heute sagen – Krankheitsgewinn in Form besonderer Fürsorge sicher sein konnte und auch das individuelle Leidens- und Leistungsmaß vermittelte. Als weiteren Antreiber für den aktiven Kriegsbeitrag nannte Hirschfeld das ihm in Erzählungen genannte Einzigartige des Krieges als das »Nochniedagewesene« (Hirschfeld 1916, S. 16), das durch Vorstellung in spannenden Erzählungen in Jugendbüchern nun auch nach äußerem Erleben drängte. Mit diesem Abenteuerrausch eng verbunden wurde ihm aber oft auch der sogenannte »Wanderrausch« genannt, in dem »Träume (…) Wirklichkeit und Märchen lebendig«, aber auch Reiselust mit Kriegslust vertauscht wurden. Auch ökonomische Motivation, wie etwa das Reisegeld einer ohnehin geplanten Auslandsreise nicht aufbringen zu müssen, wurden Hirschfeld von den Soldaten genannt (Hirschfeld 1916, S. 17). Als weitere rauschhafte Motivatoren nannte Hirschfeld den damit inhaltlich zusammenhängenden Natur- und Freiheitsrausch.

[7]

Erst im Jahr 2008 gab es den ersten internationalen Ekstase-Kongress als einen interdisziplinär gestalteten Kongress, der auch die Bereiche Psychologie und Psychotherapie mit einbezog. Selbst das Lexikon der Psychologie (2000, Bd. 1, S. 366) führt Ekstase als einen meist religiös motivierten Trancezustand, der mit dem Gefühl der Verzückung und Unwirklichkeit verbunden ist und als rauschhafter Zustand die Kontrolle über das Bewusstsein entzieht. Doch gerade durch letzteren Aspekt der Bewusstseinsmanipulation wird Ekstase zu einem höchstinteressanten und gleichsam zentralen psychologischen Untersuchungsgegenstand. Die Kognitionspsychologie bietet hier beispielsweise über das sogenannte konfirmatorische Denken (Dörner 2014) sicherlich Anhaltspunkte, die zu einem Verständnis gegenüber einem Einstieg in Rausch- oder Ekstasezustände führen können.

[8]

Max Dessoir wurde -ein Jahr früher als Hirschfeld- 1867 in Berlin geboren. Er ist damit in der Reihe der in diesem Artikel vorgestellten Autoren der älteste. Sein Geburtsname lautete jedoch nicht Dessoir, sondern Dessauer. Er studierte zuerst in Berlin Philosophie und wurde 1889 dort zum Dr. phil. promovierte. Anschließend studierte er Medizin und promovierte zum Dr. med. 1892 in Würzburg. 1897 erhielt er eine ordentliche Professur für Psychologie an der Berliner Universität. Bereits 1889, dem Jahr seiner ersten Promotion, veröffentlichte Dessoir in einem Artikel sein Interesse an jenen Teilen der Psychologie, die weder gewöhnlichen, noch pathologischen Phänomenen zuzuordnen waren. Diese Teile fasste er unter dem von ihm begründeten Begriff der Parapsychologie zusammen. Außerdem galt sein weiteres Interesse der Ästhetik. Durch die Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten wurde Dessoir wegen seiner teilweise jüdischen Vorfahren 1933 die Lehrausübung verboten und im Anschluss daran auch die Publikationstätigkeit. Durch Zerstörung seines Berliner Hauses bei Bombenangriffen, siedelte er mit seiner Frau nach Königstein im Taunus um, wo er 1947 verstarb. Zu Leben und Werk Dessoirs erschien bereits zu seinen Lebzeiten eine Darstellung (Herrmann 1929).

[9]

Paul Plaut wurde – wie William Stern (mit dem er zusammen die Arbeiten durchführte bzw. konzipierte) – in Berlin geboren. Er kam am 19. Februar 1894 als Sohn jüdischer Eltern in Berlin auf die Welt und absolvierte ähnlich wie Max Dessoir sowohl ein Studium der Philosophie u. Literatur in Berlin von 1912 bis 1915. Es folgte 1920 die Promotion zum Dr. phil. in Greifswald. Als Infanterist war er 1915 bis 1918 im Kriegsdienst und stand während dieser Zeit in engem Kontakt zu Otto Lipmann u. William Stern. In der Zeit des Krieges entwickelte Plaut die Methode der Psychographie zusammen mit William Stern, um erste kriegspsychologische Untersuchungen durch zu führen (Plaut 1920). Plaut verstarb im Januar 1960 in London. Zu weiteren biografischen Angaben siehe Ulrich (1996), Heikaus & Köhne (2014) sowie Wolfradt (2015) und Guski-Leinwand (2015).

[10]

William Louis Stern wurde 1871 in Berlin geboren. Er studierte Philosophie mit dem Schwerpunkt Psychologie und folgte nach seiner Promotion 1893 bei Paul Lazarus (andere Quellen nennen häufig Hermann Ebbinghaus als Doktorvater, vgl. Bühring 1996) mit seiner Habilitation (1897) Hermann Ebbinghaus nach Breslau. Sterns Interesse galt der individuellen Entwicklung sowie den interindividuell unterschiedlichen Persönlichkeitsaspekte. Dies mündete in seinen Ansatz der differentiellen Psychologie, welche er mit einem gleichlautenden Fachbuch 1911 terminologisch begründete. Einen Ruf an die Berliner Universität hatte Stern erhalten, jedoch aus konfessionellen Gründen nicht angenommen bzw. annehmen können. Es ist jedoch unterschiedlich diskutiert worden, ob die konfessionelle Zugehörigkeit dazu geführt hat, dass Stern keine ordentliche Professur an der Universität erhielt (vgl. Lück 1991). Konvertierung als Forderung für ordentliche Professuren waren im Rahmen eines sogenannten »wissenschaftlichen Antisemitismus«jedoch schon länger in akademischen Kreisen formuliert worden (vgl. Levinstein 1896; vgl. Guski-Leinwand 2014). William Stern erhielt jedoch 1915 einen Ruf an das damalige Hamburger Kolonialinstitut. Dort hatte er in der Zeit des Ersten Weltkriegs zusammen mit Paul Plaut die Kriegspsychographie entwickelt. Seit Ende des Ersten Weltkrieges wurden dort Vorlesungen für die heimgekehrten Soldaten in Hamburg angeboten. Aus diesem und anderem Engagement erwuchs die Gründung der Universität Hamburg, an der Stern beteiligt war. Er konnte vor den Nationalsozialisten fliehen und verstarb 1938 in den USA (zu weiteren biografischen Stationen Sterns siehe z. B. Bühring 1996). Ab 1906 engagierte Stern sich zusammen mit Otto Lipmann im eigen gegründeten »Institut für angewandte Psychologie« in Berlin. Lipmann setzte viel private Kraft und Mittel in dieses Institut. Verfolgt durch die Nationalsozialisten setzte er seinem Leben 1933 ein Ende. Zu weiteren biografischen Daten und seinem Engagement um das Institut für angewandte Psychologie vgl. Guski-Leinwand 2010, S. 282–288. Der Familie Lipmann ist im Internet ein eigenes Denkmal gesetzt (http://www.hinter-der-mauer.de).

[11]

Die Psychographie stellte in Deutschland den Beginn der Psychodiagnostik dar. Vgl. hierzu Lück & Guski-Leinwand 2014, S. 160–168.

[12]

Vom Kriegsminister war der Auftrag zu einer »konfessionellen Kriegsstatistik« wegen der sogenannten »Drückebergerei« jüdischer Soldaten erteilt worden. Diese Kriegsstatistik konnte entgegen früherer Forschungsergebnisse (Krohn 1974; Sösemann 1987; Kasischke 1991) als in Teilen öffentlich diskutiert und veröffentlicht nachgewiesen werden: Die Zählung der Juden im Heer war kein statistisch-neutraler oder verwaltungstechnisch verschlossener Akt: Von privater bzw. verlegerischer Seite findet sich die »konfessionelle Kriegsteilnehmerstatistik« in verschiedenen Publikationen wieder: R. E. May (1917) hatte sie unter Einbeziehung zahlreicher Punkte durchgeführt und unter dem Titel »Konfessionelle Militärstatistik« und unter eigenem Namen in Teilen veröffentlicht. Außerdem erschienen Teile dieser Statistik sowie verschiedene antisemitische Attributionen dazu in den ersten Jahresausgaben der Monatsschrift »Deutschlands Erneuerung« ebenfalls seit 1917 (Anonymus 1917; vgl. auch Friedrich 1919).

[13]

Felix Emil Krueger wurde am 10. August 1874 in Posen als Sohn eines Fabrikanten geboren. Seine Schulzeit verbrachte Krueger in Posen und Berlin, wo die Familie einen zweiten Wohn- und Produktionssitz hatte. In Berlin, München und Leipzig studierte Krueger Philosophie und legte betreut von Hans Cornelius in München dort 1898 seine Promotion zum Dr. phil. ab. Daran folgte eine Assistenzzeit von 1899 bis 1902 in Kiel und wechselte danach als Assistent zu Wilhelm Wundt, bei dem er sich 1903 habilitierte und in den Folgejahren Übungen und Seminare in experimenteller Psychologie hielt. Von April 1906 bis April 1908 nahm er eine Austauschprofessur in Buenos Aires als ordentlicher Professor am Instituto Nacional del Profesorada Secundario zur Ausbildung von Gymnasiallehrern wahr. Danach erhielt er einen Ruf an die Universität Halle a. d. Saale, die er von 1910 bis 1917 innehatte. In diese Zeit fällt die Wahrnehmung der Kaiser-Wilhelm-Professur für das Wintersemester 1912/1913 an der Columbia-University in New York, von wo aus er in einem Artikel im Journal of Psychology neue Ziele und Tendenzen in der Psychologie verkündete (Krueger 1913). Dieser Artikel kündet Kruegers künftige Ausrichtung an, die er zu diesem Zeitpunkt als eine genetische Theorie der Zivilisation umschrieb. In seiner Publikation »Über Entwicklungspsychologie«, die während seiner Zeit als Kriegsfreiwilliger 1915 erschien und deszendenztheoretische Ausrichtung erkennen ließ. Sie verfolgte das Ziel, eine »Entwicklungstheorie des gemeinschaftlichen Geisteslebens« (Krueger 1914, o. P. (1)) darzulegen. Für seinen 1917 erfolgten Ruf als Nachfolger auf den philosophischen Lehrstuhl von Wilhelm Wundt soll diese Arbeit bereits als programmatisch anerkannt worden sein, so dass dies erklärt, warum es in der philosophischen Fakultät in Leipzig keine übliche Dreierliste bei der Nachfolgerwahl für Wundt gab. Im Jahr seines Rufes als Nachfolger von Wilhelm Wundt war er außerdem – nach eigenen Angaben in einem späteren Fragebogen des Reichserziehungsministeriums – im Ersten Weltkrieg als Berater für den preußischen Kriegsminister von Stein tätig. Für diesen soll er »Pläne zur geistigen Versteifung der Front« ausgearbeitet haben (vgl. Guski-Leinwand 2008).

[14]

In Bezug auf die Verdunkelungsfunktion von Sprache bzw. sprachlichen Mitteln zu Gunsten anderer (politischer) Zwecke definierte Lutz doublespeak als eine Sprache, welche vorgibt zu kommunizieren, es tatsächlich aber nicht leistet: »Doublespeak is language which pretends to communicate but really does not.« (Lutz 1989, S. 4)

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Krueger selbst war mindestens seit 1929 Mitglied in jenem Kreis, dem »Kampfbund für Deutsche Kultur«, und als solches auch in einschlägigen Zeitungen, wie dem Völkischen Beobachter (11.1.1929, S. 1), namentlich aufgeführt.

»Der Kampfbund für deutsche Kultur hat (…) das Ziel, das deutsche Volk über die Zusammenhänge zwischen Rasse, Kunst und Wissenschaft, sittlichen und willenhaften Werten aufzuklären (…), für eine das Volkstum als ersten Wert anerkennende Erziehung in Schule und Hochschule zu schaffen, Kultur- und Charakterwerte der Nation zu wecken (…)« (Völkischer Beobachter, 11.1.1929, S. 1).

Kruegers Mitwirkung in Alfred Rosenbergs Kampfbund für deutsche Kultur ab mindestens 1929 machte ihn zusammen mit anderen Geisteswissenschaftlern – zu einem ideologischen Wegbereiter des Nationalsozialismus: Unter dem Konstrukt »Ganzheit« – das in der Zeit der Weimarer Republik als Synonym für nicht-jüdisches deutsches Volk (vgl. Holle, 1925) stand – entstand bei ihm und entstanden aus diesem Kreis heraus, unter starker Anlehnung an den Wiener Nationalökonomen Othmar Spann zahlreiche Konzepte für alle Lebensbereiche, welche einem organischen Denkprinzip folgend die Wirkungszusammenhänge des gesellschaftlichen bzw. nationalen Lebens steuern halfen. Als Vorsitzender der Deutschen Philosophischen Gesellschaft von 1927 bis 1934 unterstützte er eine Haltung, die als »wissenschaftlicher Antisemtismus« (Levinstein, 1896) eingeordnet werden kann, da jüdische Kollegen von der Mitgliedschaft ausgeschlossen wurden. Diese Haltung verwirklichte sich auch während seiner Amtszeit als Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychologie von 1933 bis 1936: Unter seinem Gesellschaftsvorsitz wurden jüdische Psychologinnen und Psychologen in nationalsozialistischen Zeitungen diffamiert und sie wurden vom 13. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie ausgeschlossen (vgl. Guski-Leinwand 2010, S. 210–222). Mit dem Jahr 1936 änderten die Nationalsozialisten ihren Kurs und lehnten immer stärker das eigenmächtige Wirken Othmar Spanns und seines Kreises ab. In diese Zeit fallen auch Schwierigkeiten Kruegers mit dem Reichssicherheitshauptamt zur Erbringung seines sogenannten arischen Nachweises. Letztlich konnte Krueger ohne größere Einbußen planmäßig 1939 emeritiert werden und seinen Nachweis erbringen. Er war jedoch in den Folgejahren offenbar für politische Aufträge im Ausland unterwegs und lebte in diesen Jahren in Potsdam unweit des früheren kaiserlichen Schlosses. Entgegen aller politischen Möglichkeiten konnte Krueger am 17. April 1945 mit einem Pass aus Berchtesgaden in die Schweiz flüchten. In Berchtesgaden hatte Krueger jedoch nie gelebt. Er verstarb in Basel am 25. Februar 1948, wurde im Krematorium in Riehen verbrannt, jedoch nicht auf dem dazu gehörigen Friedhof beigesetzt.

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Unter der programmatischen Ausrichtung eines »kinetischen Universalismus« (BArch B, R 58/834, Blatt 3f.) war dieser Bund, welcher formal von Alfred Rosenberg, inhaltlich aber von dem Wiener Nationalökonomen Othmar Spann geführt wurde, bis 1936 sehr mächtig. Interdisziplinär zusammengesetzt richteten sie ihre innerdisziplinären Konzepte – quasi gleichgeschaltet – auf Ganzheit aus. Im Jahr 1936 jedoch entschied sich die NS-Führung für die radikale Ausrichtung als Rassenstaat, so dass die totalitäre Bewegung einer Gesellschaft bzw. Bevölkerung in eine vorgegebene Richtung als abgeschlossen angesehen werden kann (vgl. BArch B, R 58/497).

Über die Autorin

Susanne Guski-Leinwand

Susanne Guski-Leinwand, Prof. a. D., Privatdozentin für Psychologie mit dem Schwerpunkt Geschichte der Psychologie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Nach dem Diplomstudium Psychologie folgte die Promotion an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg zum Dr. phil., anschließend Habilitation und venia legendi an der Friedrich-Schiller-Universität, Institut für Psychologie. Seit September 2014 tätig als Vertretungsprofessorin für Psychologie an der Fachhochschule Dortmund, Fachbereich 8, Angewandte Sozialwissenschaften sowie als Lehrbeauftragte an der Hochschule Nordhausen.