Wissenschaft im Krieg?

Der Austausch zwischen deutschen und britischen Psychologen während und nach dem Ersten Weltkrieg

Andrea Gräfin v. Hohenthal

Zusammenfassung

Vor dem Ersten Weltkrieg waren die psychologischen Vereine Großbritanniens und Deutschlands eng miteinander verbunden durch wissenschaftlichen Austausch und persönliche Verbindungen und diese Beziehungen wurden nur zum Teil durch das Kriegsgeschehen unterbrochen. Die Psychologen beider Länder (Mitglieder der Vereine) stellten sich den militärischen Anforderungen zur Verfügung, arbeiteten in ähnlichen Bereichen aber auf unterschiedliche Weise. Unterschiedlich war die Einbindung in die militärpsychiatrische Versorgung psychisch verletzter Soldaten; Ähnlichkeiten zeigten sich in der Entwicklung eines Richtungshörgerätes für U-Boote; einem Projekt, das auf gemeinsame Forschungsarbeiten in der Vorkriegszeit zurückgriff. In den Fachzeitschriften wurde die Arbeit des jeweiligen Gegners genau beobachtet und kommentiert, es wurden jedoch keine kritischen Kommentare geäußert und nach dem Krieg wurden die wissenschaftlichen Kontakte schnell wieder aufgenommen und normalisiert.

Schüsselwörter: Erster Weltkrieg, Militärpsychiatrie, Kriegsneurose, psychologische Behandlung, psychologische Vereine

Summary

Science at war?

The relationship between British and German psychologists during and after WWI

The psychological societies of Great Britain and Germany were deeply connected with each other before the First World War through friendly relationships and scientific communication. These relations were only partly disrupted during the war. The psychologists of both countries (a.k.a. members of the societies) committed themselves to the military demands, worked in similar fields but in different ways. They differed in the involvement in military psychiatry and in their treatment of Shell Shocked soldiers. Their shared knowledge of relevant psychological research before the war influenced the development of sound localisation machines for detecting submarines, a military project, which was supported in both countries. The activities of those psychologists were observed and commented by the other side, but there were no hostile remarks against the enemy and soon after the war the scientific exchange began again.

Keywords: World War I, military psychiatry, Shell Shock, psychological treatment, psychological societies

1. Einleitung

Das Deutsche Kaiserreich und Großbritannien befanden sich ab dem 5. August 1914 im Kriegszustand. Aber betraf dies auch die Wissenschaft bzw. die WissenschaftlerInnen?

Ich möchte im folgenden Kapitel argumentieren, dass der intensive wissenschaftliche Austausch zwischen deutschen und britischen PsychologInnen sich nur wenig veränderte in der Kriegszeit und nie völlig abbrach. Einige exemplarische Beispiele dieser Beziehungen, Beispiele, die die Ähnlichkeiten und Differenzen der psychologischen Vereine hervorheben und den Austausch und die Sicht auf die »feindliche Nation« deutlich machen, sollen dies belegen. Zum einen werden die psychologisch-psychiatrische Behandlung psychisch verletzter Soldaten in den beiden Ländern verglichen; dann wird ein militärisches Geheimprojekt dargestellt, das aufgrund psychologischer Grundlagenforschung in beiden Ländern parallel entwickelt wurde. Der Transfer und die Verflechtung psychologischen Wissens während der Kriegszeit soll anhand dieser Beispiele[1] verdeutlicht werden.

PsychologInnen werden hier definiert als die Mitglieder der jeweiligen psychologischen Vereinigungen, da es »die PsychologInnen« weder im Sinne einer Disziplin noch einer Profession gab. Als Quellen werden, soweit vorhanden, die Archive der Gesellschaften herangezogen, dazu die jeweiligen Zeitschriften, Memoiren und Bücher, PatientInnenbeschreibungen durch ÄrztInnen und einige Krankenakten und offizielle Regelungen die die Arbeit der PsychologInnen betrafen.

2. Beziehungen vor dem Krieg

Am Ende des 19. Jahrhunderts war die Psychologie ein internationales Projekt. Der erste Kongress für Psychologie hatte 1879 in Paris stattgefunden. Auf dem Programm stand die Entwicklung und Förderung der Psychologie als Wissenschaft (Nicolas & Söderlund, 2005). Vielleicht als Folge davon gründeten sich zu Beginn des neuen Jahrhunderts in verschiedenen Ländern Europas psychologische Vereinigungen.[2]

In Deutschland und Großbritannien war die Situation um 1900 jedoch sehr unterschiedlich: Im Deutschen Reich war die Psychologie an den Universitäten besser vertreten und ausgestattet, speziell mit psychophysiologischen Laboratorien (Gundlach, 2012). Zwei Gründe sind wohl für diese Unterschiede verantwortlich: Seit Beginn des 19. Jahrhunderts war Psychologie ein Lehrfach im Curriculum der LehrerInnen und SchülerInnen der höheren Schulen im Deutschen Reich; dennoch war Psychologie immer noch ein Fach in der philosophischen Fakultät und dieser angegliedert. Deutsche Universitäten verfügten auch über eine bessere Ausstattung unter anderem auch deswegen, weil ein Wettbewerb zwischen den verschiedenen deutschen Staaten ausgetragen wurde, wer die beste Universität und die erfolgreichsten Wissenschaftler vorzuweisen hätte. Die feinmechanische Industrie in Deutschland war weit entwickelt und die erste Firma, die psychophysiologische Messinstrumente herstellte, die Firma Zimmermann in Leipzig, war bald weltweit führend (Schönpflug, 2013, S. 271). Weil Leipzig eine sehr liberale Universität war, wurde Wilhelm Wundt (von seiner Ausbildung her Physiologe auf einem Lehrstuhl für Philosophie) der bedeutendste psychologische Forscher in Leipzig. Wundts Ruhm beruht zu einem großen Teil auf seiner Fähigkeit, erfolgreich Schüler aus den verschiedensten Ländern anzuziehen und auszubilden, z. B. aus Großbritannien Charles Spearman und William George Smith.[3] Wundt richtete das erste psychologische Labor ein und war Herausgeber der ersten psychologischen Zeitschrift.[4] Einer seiner Schüler, Hugo Münsterberg, zu der Zeit Professor in Freiburg, überließ vor seiner Abreise nach Amerika seine Laborausstattung der Universität London und James Sully, der damit das erste Labor in England einrichtete (Hearnshaw, 1964, S.175).

Deutsche StudentInnen in Großbritannien waren eher selten: Ein Beispiel ist Wilhelm Benary, der im Winter 1913/14 einige Monate Psychologie in London studierte (Court & Janssen, 2003). Bezeichnend für einen deutsch-britischen Wissensaustausch sind auch die Reisen des amerikanischen Psychologen James McKeen Cattell: Dieser hatte als erster Assistent in Leipzig bei Wilhelm Wundt gearbeitet, änderte seine Arbeitsmethoden (Wilhelm Wundt interessierte sich wenig für interindividuelle Differenzen) jedoch nach einem Besuch bei Francis Galton in London und verfasste wenig später, 1890, ein Buch über Intelligenztests (Lück, 2009, S. 329).

Die psychologische Gesellschaft in Großbritannien (ab 1906 Britische Psychologische Gesellschaft) wurde am 24. Oktober 1901 von 10 Mitgliedern gegründet.[5] Fünf Ehrenmitglieder aus dem deutschsprachigen Bereich wurden bis 1914 gewählt[6], die meisten von ihnen waren frühere Universitätslehrer von britischen Psychologen.

Anders als in der deutschen Gesellschaft gab es auch einige weibliche Mitglieder, 1914 waren es 16 Psychologinnen, von denen die meisten im Erziehungssektor tätig waren (Valentine, 2008).

Die (deutschsprachige) psychologische Gesellschaft mit dem offiziellen Namen: Gesellschaft für experimentelle Psychologie[7] wurde 1904 in Gießen von 97 Gründungsmitgliedern ins Leben gerufen (Schumann, 1904). Es war ein Zusammenschluss der deutschsprachigen Psychologen und schloss Österreich-Ungarn und die Schweiz mit ein. Anwesend waren Mitglieder aus 11 verschiedenen Ländern, alle hatten einen Doktortitel, die meisten arbeiteten an einer Universität, einige waren Ärzte und auch ein Pastor war dabei. Die einzige Frau war eine amerikanische Studentin.[8] Einige britische Psychologen waren reguläre Mitglieder der Gesellschaft für experimentelle Psychologie, z. B. Charles Spearman, Henry J. Watt, William McDougall, Charles Samuel Myers und Beatrice Edgell (Schumann, 1904, 1906).

Beide Gesellschaften gaben eigene Zeitschriften heraus: In London wurde seit 1904 das British Journal of Psychology herausgegeben; seit 1914 gehörte es der Gesellschaft (Clarke, 1979). In Deutschland wurde ab 1907 die Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung publiziert, und zwar vom Institut für angewandte Psychologie in Berlin, das der Vereinigung gehörte (Schumann, 1906, XV). Diese Zeitschrift wollte speziell über praktische psychologische Probleme und Fragestellungen berichten, z. B. im Erziehungswesen, der Medizin und in der Rechtsprechung; andererseits sollten auch theoretische Themen aus dem Bereich der Geschichte, der Sprachwissenschaften, der Kunst oder Religion erörtert werden (Stern & Lipmann, 1907, Einführung). Psychologie galt in beiden Ländern als die kommende Wissenschaft der Moderne, die Lösungen für brennende bevölkerungspolitische Probleme und Wissen über das Wesen des modernen Menschen versprach; dies zeigt sich in dem regen Interesse der Politik an den Ergebnissen dieser neuen Wissenschaft; der Brite Cyril Burt wurde 1913 als erster Psychologe vom Staat angestellt, um lernschwache (geistig behinderte) Kinder in Spezialschulen zu überweisen (Mazumbar, 2012). Auf den Kongressen der Gesellschaft für experimentelle Psychologie waren auch Vertreter der Politik und der Presse anwesend (Schumann, 1908); typisch für dies Projekt der Moderne war auch der hohe Prozentsatz jüdischer Mitglieder.[9]

Obwohl es psychologische Vereine, Institute und Zeitschriften in beiden Ländern gab, existierte kein universitärer Abschluss in Psychologie, es gab keine praktisch arbeitenden Psychologen, sieht man ab von den psychologisch interessierten Medizinern und Pädagogen; es gab nur einige Forscher, die an Universitäten im Bereich der Psychologie arbeiteten (Geuter, 1985; Hearnshaw, 1964, S. 179, 245). Aber der Krieg änderte diese Situation nachhaltig.

Der letzte Kongress der Gesellschaft für experimentelle Psychologie vor dem Krieg in Deutschland fand vom 15. bis 18. April 1914 in Göttingen statt (Schumann, 1914). Anwesend waren 196 Mitglieder, unter ihnen fünf britische Psychologen.[10] Der Psychoanalytiker Ernest Jones, der zu dieser Zeit in Kanada wohnte, war ebenfalls ein Mitglied der Vereinigung. Der nächste Kongress war für das Jahr 1916 in Turin geplant, aber zu diesem Zeitpunkt war bereits Krieg zwischen den europäischen Nationen.

3. Die psychologischen Gesellschaften während der Kriegszeit

Die Archive der Britischen Psychologischen Gesellschaft[11] zeigen, dass regelmäßige Treffen während der ganzen Kriegszeit stattfanden, aber in den Berichten über die regelmäßigen Treffen wird der Krieg fast nie thematisiert. Nur wenige und geringfügige Veränderungen wurden vorgenommen: es wurden keine offiziellen Abendessen mehr organisiert[12], mehr Frauen arbeiteten in den offiziellen Gremien[13] und wegen steigender Kosten konnten die Zeitschriften nicht mehr versandt werden[14]. Eine weitverbreitete Methode zur Selbst-Therapie, besonders beliebt bei Soldaten »Der Pelmanismus«, wurde erwähnt; aber die Gesellschaft beschloss, diese Methode nicht zu diskutieren.[15] Nach dem Tod des deutschen Ehrenmitglieds Oswald Külpe im März 1916 wurde besprochen, ob und wann man angemessen kondolieren könne.[16] In der Zeitschrift der Britischen Gesellschaft wurden psychologische Tätigkeiten oder theoretische Überlegungen zum Kriegsgeschehen nicht thematisiert. Anders als in Deutschland wurden aber psychoanalytische Ideen und Vorgehensweisen ausführlich besprochen. Aber, wie in Deutschland, wurden nationale Eigenheiten und Charaktereigenschaften herausgestellt: Beispielsweise Wilfred Trotters einflussreiches Buch aus dem Jahre 1916: Instincts of heard in peace and war (Herdeninstinkte im Frieden und Krieg) wurde sofort in der psychologischen Zeitschrift besprochen. In diesem weitverbreiteten Buch schrieb Trotter (1916) über nationale Charaktere und bezog sich auch auf soziale Beziehungen:

»Aber es gibt drei Arten von sozialen Beziehungen: Der aggressive Typ des Wolfes, der defensive Typ des Schafes und Ochsens und das soziale Gemeinschaftsverhalten der Biene. In den traurigen Umständen unserer Zeit können wir nicht anders als festzustellen, dass Deutschland absichtlich alle Kräfte mobilisiert hat und auch dazu getrieben wurde, die wölfische Art der sozialen Beziehung anzunehmen. England, beeinflusst durch eine glücklichere historische Entwicklung, neigt eher zu sozialen Gemeinschaftsgefühlen, ähnlich denen der Biene, begleitet aber von Verwirrung und endloser Verschwendung von Kräften. Trotzdem ist das soziale Gemeinschaftsgefühl das notwendige Ziel der Evolution« (S. 269).

Der Kritiker des Buches in der britischen psychologischen Zeitschrift ging sogar noch weiter in seiner gemäßigten Sicht als Trotter:

«Vielleicht würden nach einem Blick auf die Weltgeschichte und –karte in dem Leser einige Zweifel aufkommen, ob England völlig frei ist von Zügen der wölfischen Disposition. Glückliche Umstände haben in manchen Fällen und glücklicherweise auch in unserem, diese menschliche Disposition gemäßigt und die wölfischen Instinkte sublimiert, indem die Energie neue Ziele und Ausrichtungen erhielt« (Read, 1916, S. 268f.).

In den Jahren vor dem Krieg waren deutsche Bücher rezensiert worden, aber ab Oktober 1914, wurden bis zum Kriegsende keine deutschen psychologischen Bücher mehr erwähnt. Nur ein Buch von Sigmund Freud (Psychopathologie des Alltaglebens) wurde besprochen. Obwohl Freud ein Untertan und begeisterter Bürger der Habsburgermonarchie war, wurde er nicht als Feind wahrgenommen.

Die Gesellschaft für Experimentelle Psychologie war ein wenig anders: Das Archiv der Gesellschaft wurde wohl im zweiten Weltkrieg zerstört und zwischen 1914 und 1921 wurden keine psychologischen Kongresse abgehalten. Aber die Zeitschrift für angewandte Psychologie wurde ohne Unterbrechung herausgegeben. Von 1914 an wurde über die Arbeit der Psychologen, die in das Kriegsgeschehen einbezogen wurden, berichtet. Anfang 1915 wurde beispielsweise das Projekt von William Stern über »Kinder und Krieg« in der Zeitschrift vorgestellt (Stern, 1915). Kurt Lewin, der selber als Soldat kämpfte, veröffentlichte 1917 seinen berühmten Artikel über die Kriegslandschaft, in dem er die Änderung der Wahrnehmung der Umgebung eines Soldaten in der Situation des Krieges beschrieb (Lewin, 1917). Während des Krieges wurden britische Bücher besprochen und britische Autoren in der Zeitschrift für angewandte Psychologie zitiert. Beispielsweise schrieb Otto Lipmann, der am Institut für angewandte Psychologie in Berlin arbeitete, einen Artikel über Leistungsdifferenzen von Mädchen und Jungen. In diesem Artikel (Lipmann, 1917) gebrauchte er auch Daten, die ihm, wie er dankbar erwähnte, britische Forscher z. B. Cecil Burt überlassen hatten (Lipmann, 1917, S.108).

Zu Beginn des Krieges hatte es enthusiastische Reaktionen unter der intellektuellen Elite und den Mitgliedern der deutschen Universitäten gegeben.[17] Viele Universitätsprofessoren meldeten sich freiwillig und betonten ihre Bereitschaft sich für die Nation und den deutschen Sieg einzusetzen. Unter ihnen waren auch Psychologen, wie Robert Sommer, Leiter der psychiatrischen Klinik Gießen, der in dem Krieg eine »Art welthistorisches Experiment im Gebiet der nationalen Psychologie« sah und es als »ein massives Experiment im Funktionieren von Affekten und in der Aktivierung von geistigen Charakteristika« ansah (Sommer, 1916, S. 13). Zurzeit, so stellte er fest, »hat sich der englische Charakter, wenigstens soweit er in der politischen Geschichte zum Vorschein kommt, vollständig von dem deutschen Wesen entfernt« (Sommer, 1916, S. 72) und, falls die Deutschen ihre nationale Eigenheit bewahren wollten, müssten sie sich von Großbritannien distanzieren (Sommer, 1916, S. 73f.). Aber diese Bemerkungen äußerte er nicht im Namen der psychologischen Vereinigung; auch in den psychologischen Fachzeitschriften wurden keine feindlichen Äußerungen gegenüber britischen Forschern geäußert. Auch in der psychologisch-psychiatrischen Betreuung psychisch verletzter Soldaten griffen die Psychologen beider Länder auf gemeinsames Wissen zurück.

4. Unterschiede in der psychologischen Behandlung von verletzten Soldaten

Ein ernstes Problem aller Armeen im Ersten Weltkrieg war die unerwartet große Anzahl an psychisch gestörten Soldaten, die nicht mehr in der Lage waren, weiter zu kämpfen. In dieser Situation präsentierten sich die Psychologen und Psychiater als Experten und wurden auch als solche wahrgenommen und eingesetzt. Die meisten Psychologen, darunter einige Mediziner, hatten vor dem Krieg an Universitäten geforscht, aber während des Krieges arbeiteten einige als Reserveoffiziere im Sanitätsdienst (Hellpach, 1949, S. 31) oder im Royal Army Medical Corps (Jones & Wesseley, 2005, S. 22), manchmal auch nahe der Front (Brown, 1918, S. 197) oder in Kriegslazaretten in der Etappe oder in der Heimat (Sommer, 1917). Erfahrungen mit tausenden von psychisch und physisch verletzten Patienten veränderte das psychologische Wissen über psychische Funktionen, körperliche und psychische Zusammenhänge und psychische Erkrankungen und deren Therapiemöglichkeiten. Dieses Wissen wurde aber deutlich beeinflusst und geprägt durch professionelle Ambitionen der Ärzte, militärische, soziale, ökonomische und politische Anforderungen und auch durch die steigende Bedeutung der Medien.

Drei Hauptprobleme zeigten sich in beiden Ländern in der Arbeit mit verletzten und traumatisierten Soldaten: Das erste war das Problem der Diagnose: Schaut man in die Krankenakten sieht man in beiden Ländern, dass am Kriegsanfang oft nur eine Symptombeschreibung vorgenommen wurde und gar keine Diagnose gestellt wurde.[18] Die Diagnosestellung hatte nämlich für den betroffenen Kriegsteilnehmer erhebliche Folgen: Sie bestimmte nämlich sein weiteres Schicksal, die Art der Therapie, sein Recht auf eine mögliche Entschädigung als Kriegsversehrter, hatte aber auch möglicherweise eine Strafe zur Folge (bei Desertations- oder Simulationsverdacht).

Bald begann in beiden Ländern eine heftige Diskussion darüber, wie diese Symptome benannt werden sollten: Anfangs wurden sie auf die grauenvollen Erlebnisse der Soldaten zurückgeführt (Weygandt, 1914a, S. 2111); später bezog man sich auf die gängigen Vorkriegsdiagnosen psychischer Störungen: Neurasthenie und Hysterie (Sommer, 1915). Hartnäckig hielten sich jedoch Bezeichnungen, die die Störungen auf das Kriegsgeschehen bezogen: In Deutschland »Kriegsneurose« in Großbritannien »Shell Shock«. In Großbritannien wurde der Begriff »Shell Shock«, der ursprünglich eine organische Störung nach Granatexplosion bezeichnen wollte und nun auf die verschiedenen psychischen und psychosomatischen Störungen der Soldaten angewandt wurde, schnell von der Armee (Army Medical Service) verboten[19] und auch die Tagespresse versuchte, den militärischen Vorgaben folgend, ihn zu vermeiden (Reid, 2010, S. 27). Dennoch konnte keine passende Alternative gefunden werden und es wurde bald üblich, sogar für psychologisch und psychiatrisch arbeitende Fachleute, den Begriff »Shell Shock« zu benützten und sich gleichzeitig dafür zu entschuldigen (Wiltshire, 1917, S. 1207; Smith, 1916, S. 813).

Sogar der in Großbritannien in der Nachkriegszeit einberufene Untersuchungsausschuss zum Thema »Shell Shock« trug den Begriff im Namen, lehnte seine Verwendung aber auf den ersten Seiten vehement ab, da er zu Missverständnissen führen würde (Reid, 2010, S. 28). Es blieb schwierig, während der Kriegszeit einen passenden Namen für die Vielzahl der Symptome zu finden: Der Psychologe William Brown beispielsweise berichtete 1916 von einer Sitzung der Royal Society of Medicine, dass eine große Vielzahl an verschiedenen Meinungen über Art der Symptome, Ursachen und Therapiemöglichkeiten der psychischen Störungen der Soldaten geäußert würden (Brown, 1916, S. 306). Organische Ursachen wurden diskutiert, wie diffuse Blutungen im Gehirn nach Explosion von Granaten oder nach Einatmen von giftigen Gasen. Weitverbreitet waren auch Gedächtnisstörungen und nächtliche Albträume bei den verstörten Soldaten. Es war schwierig diese Vielzahl an organischen und psychischen Symptomen bestimmten Krankheitsbezeichnungen zuzuordnen.

In Großbritannien blieb der Begriff »Shell Shock« populär und wurde weiterverwendet, vermutlich weil er die physische Ursache der Verletzung betonte und daher die Situation für den einzelnen Soldaten erleichterte. Eine eindeutige organische Verletzung, auch wenn man sie nicht sehen konnte, war deutlich ehrenhafter als ein nervöser Zusammenbruch und wurde eher mit einer Entschädigung bedacht (Winter, 2000).

Auch in der deutschen Armee zeigten kurz nach Kriegsbeginn viele Soldaten und Offiziere unerklärliche körperliche Symptome. In den psychiatrischen Kliniken zeigten sich Kriegsteilnehmer, die unter heftigen Krämpfen und Gangstörungen litten, die sogenannten »Kriegszitterer«, die auch die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zogen (Jolowiscz, 1919; Linden, 2011). Gerade diese Patienten schienen durch ihre körperlichen Symptome die destruktiven Kräfte des modernen Krieges sichtbar werden zu lassen. Es ist schwierig zu entscheiden, ob diese Symptome öfter diagnostiziert wurden oder ob sie öfter auftraten als in Großbritannien: Die Diagnose in den Krankenakten in kleineren Kliniken unterscheidet sich von den offiziellen Berichten in den Fachzeitschriften. Die Krankenakten zeigen eine größere Vielfalt an Symptombeschreibungen und diagnostischen Bezeichnungen (Peckl, 2011). Aber die meisten deutschen Psychiater wählten bald den Begriff der Kriegsneurose und betonten die Nähe zu einer hysterischen Erkrankung; diese Benennung enthielt aber eine stark negative Konnotation, da Hysterie immer noch mit einer weiblichen, schwachen Konstitution assoziiert wurde. Von 1916 an war es Konsens in der wissenschaftlichen Gemeinschaft,[20] dass die Kriegsneurose nicht von einer organischen Verletzung, sondern von einem emotionalen Schock verursacht sei. Dies hatte aber negative Konsequenzen für den Patienten: Man nahm nämlich an, dass eine schlechte psychische (erbliche) Disposition des Patienten und nicht der Krieg die Symptome verursacht hätte; wenn die Symptome nicht geheilt wurden, so die Ansicht der behandelnden Ärzte, hatte der Soldat kein Anrecht auf eine Pension (Lerner, 2003, S. 74–79). Der ökonomische und militärische Druck hatte die psychiatrisch tätigen Ärzte dazu bewogen, die Diagnosestellung in diese weniger patientenfreundliche Richtung zu lenken.

Das zweite Problem war die Einbindung der Psychologen in die militärische Tradition: Die Organisation des Sanitätsdienstes und der Psychiatrie bestimmte die Situation im Krieg. In Großbritannien gab es 1914 nur eine kleine Berufsarmee und keine allgemeine Wehrpflicht (Leonhard, 2014, S. 138); der Aufbau einer Freiwilligenarmee wurde schnell in Angriff genommen; daher war die Situation flexibler und das Militär eher bereit, auch Außenseiter in die Versorgung der kranken Soldaten einzubeziehen. So zum Beispiel den Psychiater Charles Myers, der zuvor an der Universität geforscht hatte. Obwohl er wenig klinische Erfahrungen besaß, wurde er zum beratenden Psychologen der Britischen Armee benannt und organisierte die Versorgung der psychisch verletzten Soldaten in Frankreich in den ersten Kriegsjahren (Jones & Wesseley, 2005, S. 26). Er führte eine frontnahe Versorgung ein (Meyers, 1940, S. 92) und prägte im Januar 1915 den Begriff »Shell Shock« (Meyers, 1915). Auch andere psychologische Psychiater waren in die frontnahe Versorgung nervenkranker Soldaten einbezogen, z. B. an der Westfront Francis Dillon und William Brown; im Osten, in Gallipoli David Eder (Jones & Wesseley, 2005, S. 26 f.). Nach dem krisenhaften Kriegsjahr 1916/17 wurde die psychologische Arbeit an der Front aber beendet und durch eine militärische Versorgung ersetzt. Gordon Holmes ein Psychiater der psychologische Methoden wie Hypnose oder Psychoanalyse strikt ablehnte, gewann die Zustimmung der militärischen Behörden; der Zuständigkeitsbereich von Charles Myers wurde zunehmend eingeschränkt (Shephard, 2002, S. 47), so dass dieser die Front verließ und nach Großbritannien zurückkehrte (Jones & Wesseley, 2005, S. 31; Myers, 1940, S. 23). In Großbritannien gab es aber mehrere Krankenhäuser, an denen Psychologen mit nervenkranken Soldaten arbeiteten: Maghull, Maudsley und ab 1917 das Krankenhaus für Offiziere in Craiglockhart in Schottland (Leese, 2002). Die dort arbeitenden Ärzte, die sich durch ihre gemeinsamen psychologischen Interessen kannten, waren gut vernetzt und genossen die Anerkennung der militärischen Autoritäten (Jones & Wesseley, 2005, S. 33).

In Deutschland war der Sanitätsdienst der deutschen Armee und die Militärpsychiatrie in den Jahren vor dem Krieg gut organisiert; so konnte die Armee auf eine Reihe von kompetenten Fachvertretern in universitären Nervenkliniken zurückgreifen. Am Anfang des Krieges meldeten sich vor allem die psychologisch vorgebildeten Ärzte zu Wort, die schon vor dem Krieg enge Verbindungen zum Militär aufgebaut hatten: z. B. der Psychiater und Wundt-Schüler Wilhelm Weygandt, der Direktor der Landesklinik für Nervenkranke in Hamburg-Friedrichsberg; dieser war schon häufig für gerichtliche Gutachten eingesetzt worden; so war es nur sinnvoll, ihn jetzt mit einer Begutachtung der Truppe zu betrauen (Weygandt, 1914a, b, c; 1917). Hermann Gutzmann, seit 1906 Mitglied in der Gesellschaft für experimentelle Psychologie (Schumann, 1907, S.XII), hatte schon vor dem Krieg über (psychisch verursachte) Sprachstörungen gearbeitet (Gutzmann, 1914). Zu Anfang des Krieges wurde er für Spezialaufgaben rekrutiert und sein Privatsanatorium in Berlin in ein Lazarett für sprachgestörte Soldaten umgewandelt (Gutzmann, 1916). Robert Sommer in Gießen war von Kriegsanfang an in die Versorgung psychisch kranker Soldaten einbezogen (Sommer, 1915). Der Arzt und Wundt-Schüler Willy Hellpach übernahm im zweiten Kriegsjahr ein neu gegründetes Reservelazarett für Nervenkranke in Sulzburg bei Freiburg (Hellpach, 1949, S. 35). Andere Psychologen wie Emil Otto Schultze arbeiteten in einem Nervensanatorium, das schon zu Kriegsbeginn in ein Lazarett für gemüts- und geisteskranke Soldaten umgewandelt wurde und sammelte dort Erfahrungen mit kriegsneurotischen Soldaten (Putzker & Groß, 2001, S. 112–124). Von Kriegsanfang an diagnostizierten und therapierten Psychologen Soldaten mit Hirnverletzungen, z. B. Walter Poppelreuter in Köln (Poppelreuter, 1917, S. V.). Anders als in Großbritannien gab es keine zentral (von Psychologen) organisierte, frontnahe Versorgung psychisch verletzter Soldaten.

Der Einfluss traditioneller militärischer Denkweisen zeigte sich auch in der unterschiedlichen Behandlung verschiedener militärischer Ränge: In beiden Ländern wurde angenommen, dass Soldaten und Offiziere nicht dieselbe Krankheit haben könnten. Neurasthenie, eine Art der Erschöpfung, wurde bei Offizieren und Hysterie – eine eher abwertende Diagnose – bei Soldaten gestellt. Aber ein Blick in die Krankenakten und die Patientenbeschreibungen der Zeit machen deutlich, dass dort keine Unterschiede gemacht werden: Dort werden Soldaten als neurasthenisch, Offiziere als hysterisch bezeichnet.[21] Möglicherweise spiegeln die Berichte in den medizinischen Fachzeitschriften eher die militärische Praxis in den beiden Ländern wider: Offiziere und Soldaten wurden nämlich in unterschiedliche Krankenhäuser überwiesen und unterschiedlich behandelt (Curschmann, 1917; Leese, 2002, S. 75). In dem Kriegskrankenhaus für Offiziere in Schottland, Craiglockhart, wurde als einzige Diagnose bei der Aufnahme »Neurasthenie« diagnostiziert.[22] Diagnosen wurden also nach sozialem Rang vergeben; dazu bemerkte aber der deutsche Psychologe Willy Hellpach, dass: »sozialer Rang im Krieg« nicht »sozialem Rang in der Friedenszeit« entspricht. Er beobachtete, dass in der Kriegszeit oft Personen aus einfacheren Verhältnissen Offiziere wurden, während Akademiker und Geschäftsleute als einfache Soldaten dienten (Hellpach, 1917, S. 291). Dennoch war es während des Krieges in beiden Ländern üblich, Offiziere und einfache Soldaten unterschiedlich zu behandeln.

Das dritte Problem in beiden Ländern betraf die therapeutische Behandlung, die stark von der militärischen Umgebung geprägt war: In Großbritannien wurde die militärische Atmosphäre der Therapie betont: wichtige Einsichten »müssten wiederholt und dem Patienten aufgezwungen werden« (Brown, 1918). Die Patienten sollten physisch gefordert werden und kurze Märsche absolvieren (Brown, 1918). Ein Ton der Bestimmtheit in der Stimme des Arztes und die sichere Zuversicht auf eine schnelle Heilung des Patienten wurden als unerlässliche Bedingungen für eine erfolgreiche Heilung angesehen (Brown, 1918, S. 197). Man beobachtete dass die Soldaten erstaunlich beeinflussbar waren: durch das Training und die Militärdisziplin geprägt, beugten sie sich leicht der ärztlichen Autorität des Militärpsychiaters (Eder, 1917, S. 130). Einige britische Militärpsychiater arbeiteten auch mit der Verabreichung von (schmerzhaften) elektrischen Stromschlägen (Mott, 1917, S. 41–42), aber nicht in der Häufigkeit, wie dies in der deutschen Armee üblich war.

In Deutschland war die Situation noch strenger geregelt: Die psychologisch arbeitenden Ärzte hatten einen festen Platz in der militärärztlichen Hierarchie und betonten die Bedeutung und heilenden Einflüsse einer disziplinierten militärischen Atmosphäre in den Krankenhäusern für nervenkranke Soldaten (Hellpach, 1915, S. 1210). Die therapeutischen Maßnahmen, die britische und deutsche Psychologen in der Therapie der psychisch gestörten Soldaten anwandten unterschieden sich deutlich:

Britische Psychologen benutzten adaptierte psychoanalytische Methoden: Francis Dillon (Dillon, 1919, S. 57) und David Eder (Eder, 1917, S. 10) folgten der Methode von Carl Gustav Jung; William Brown (Brown, 1916, S. 306–7) und William Halse Rivers (Rivers, 1918) eher denen von Sigmund Freud. Sie arbeiteten mit Traumanalysen und suggestiven Verfahren; versuchten vergessene, emotionale (Kriegs‑) Erlebnisse aufzudecken und dadurch die Symptome zu heilen. Ein großer Prozentsatz der Patienten, die in Frontnähe therapiert worden waren, wurde jedoch, anders als in Deutschland, wieder in die kämpfende Truppe versetzt. Nicht nur nahe der Front, in Frankreich oder in Gallipoli, sondern auch in Großbritannien behandelten Psychologen erfolgreich Patienten mit shellshock. Im Kriegskrankenhaus Maghull, das vom Kriegsministerium übernommen worden war, arbeiteten beispielsweise psychologisch orientierte Ärzte so erfolgreich, dass sie gegen Kriegsende zum Ausbildungszentrum für Militärpsychiater avancierten (Jones & Wesseley, 2005, S. 33). Einige der britischen Psychologen, die als Kriegspsychiater gearbeitet hatten, berichteten in der Nachkriegszeit über ihre Erfahrungen (z. B. Charles Myers, William Rivers, William Brown, Eliot Smith, Tom Pear), möglicherweise, so sieht es der Psychiatriehistoriker Edgar Jones, auch um ihre eigenen Kriegserlebnisse zu verarbeiten (Jones & Wesseley, 2005, S. 48).

In Deutschland arbeiteten Mediziner wie Willy Hellpach und Robert Sommer an Krankenhäusern für psychisch verletzte Soldaten. Hellpach empfahl eine strenge militärische Disziplin an den Kriegskrankenhäusern zur Therapie der gestörten Soldaten. Sommer therapierte die Kriegsneurotiker mit einer Art Überrumpelungsmethode: das Prinzip bestand darin, dass die Patienten überrascht werden sollten. Beispielweise wurde ein ertaubter Soldat damit konfrontiert, dass er doch ein lautes Geräusch wahrnehmen und darauf reagieren konnte. Von den Patienten wurde erwartet, dass sie daraufhin ihr Gehör wiedererlangen und ihre Störungen überwinden würden. Sommer benutzte bei diesen Verfahren die Apparate, die er für psychologische Experimente entwickelt hatte (Lerner, 2003, S. 116; Sommer, 1917, S. 574–75).

Ab dem Krisenjahr 1916 wurden von Militärpsychiatern zunehmend aggressivere Therapiemethoden, z. B. die Anwendung schmerzhafter elektrischer Ströme, angewandt. Die meisten psychologischen Ärzte wandten diese Methoden nur wenig an; kritisierten aber auch ihre Kollegen nicht (Lerner, 2003, S. 206). Eine Ausnahme war Friedrich Otto Schultze, der im Nervenlazarett Köppern von 1914–1918 arbeitete und nach eigenen Berichten gute Erfahrungen mit der Anwendung von elektrischen Strömen bei der Therapie psychisch gestörter Patienten gemacht hatte (Schultze, 1916). Er betonte dabei aber den psychologischen (Droh‑)Effekt dieser Methode.

Einige deutsche Ärzte arbeiteten auch mit psychoanalytischen Methoden (Stern, 1916/1917), aber sie waren nicht in einflussreichen Positionen und keine Mitglieder im deutschen psychologischen Verein. Interessanterweise schickten gerade diese Ärzte häufig geheilte Soldaten zurück an die Front. Aufgrund dieser Erfolge, hauptsächlich die des Psychoanalytikers Franz Simmel (Simmel, 1919) aus Berlin, organisierten die Vertreter der Mittelmächte 1918 eine psychoanalytische Konferenz in Budapest (Büttner, 1975) und waren bereit, psychoanalytisch arbeitende Kliniken für kriegsneurotische Soldaten einzurichten; aber wenig später war der Krieg zu Ende.

Während des Krieges verfolgten britische Psychologen die Arbeit ihrer deutschen Kollegen: In dem programmatischen Buch von Tom Pear und Eliot Smith aus dem Jahre 1916: Shell Shock and its Lessons[23] (Shellshock und dessen Lehren) bezogen sie sich explizit auf die deutsche Psychiatrie als leuchtendes Beispiel dem Großbritannien nachfolgen sollte.[24] Britische Mediziner sammelten Informationen über die Behandlung psychisch verletzter Soldaten in den anderen kriegsteilnehmenden Ländern (Williams & Brown, 1918). Vielleicht hätten Smith und Pear anders argumentiert, hätten sie die Entwicklung der deutschen Militärpsychiatrie nach 1916 genauer verfolgt; Kritiken an den Methoden des Gegners wurden nicht geäußert.

Auf der anderen Seite hatten die deutschen Militärpsychiater die Maßnahmen der britischen Armee genau verfolgt und versuchten daraus zu lernen. Dies führte dazu, dass zu Beginn des Jahres 1918 jede deutsche Armee eine Neurosenstation in der Nähe der Front eingerichtet hatte (Stier, 1918, S. 66). Aber der Mangel an ausgebildeten Fachkräften erschwerte die Situation, da 1917 qualifizierte Ärzte von der Front abgezogen wurden, um in den Heimatkrankenhäusern zu arbeiten. Als Folge davon, arbeiteten die frontnahen Neurotiker-Stationen nie sehr erfolgreich in Deutschland (Lerner, 2003, S. 157). So verfolgte man während der Kriegszeit aufmerksam und respektvoll die Arbeit des Gegners und versuchte erfolgreiche Maßnahmen zu kopieren.

5. Militär und Psychologie: Das Aufspüren von U-Booten

Während des Ersten Weltkriegs wurde psychologisches Wissen zur Lösung praktischer Probleme gebraucht und angewandt (Wolfradt, 2014). Ein Projekt soll hier erwähnt werden, weil es außergewöhnlich ist und deutsch-britischer Wissenstransfer sehr deutlich nachzuweisen ist. In Deutschland spielte Carl Stumpf und sein Institut in Berlin eine wichtige Rolle bei der Organisation des Kriegseinsatzes der Psychologen (Stumpf, 1918). In seinem Institut lag der Arbeitsschwerpunkt auf der Erfassung akustischer Signale. Einige der psychologischen Forscher, die am Berliner Institut von Carl Stumpf arbeiteten, besonders Max Wertheimer und Moritz von Hornbostel, entwickelten praktische Anwendungsmöglichkeiten dieses theoretischen Wissens und entwickelten einen Geräusch-Lokalisations-Apparat, anfangs für die Artillerie, später zur Ortung von U-Booten (Hoffmann, 1994). Dies wurde speziell bedeutsam nach der verlustreichen Schlacht am Skagerrak 1916. Diese deutschen Maschinen waren aber weniger erfolgreich als die britischen, wie die Marine feststellte.[25] Diese Ortungsmaschinen wurden an Bord von Schiffen benutzt; in U-Booten selber konnten die Maschinen bis zum Ende des Krieges nicht installiert werden und von diesem Zeitpunkt an gebrauchte man objektivere Methoden; aber die Ergebnisse dieser Arbeit waren wichtig für die Entwicklung der Gestalttheorie und der Radiotechnik und anderer akustischer Medien (Meyer, 1925). Die britischen Militärbehörden kannten dieses Projekt.[26] Unterlagen über die deutschen U-Boot Ortungsgeräte standen ihnen zur Verfügung und im Crystal Palace London wurden militärische Experten ausgebildet, die ähnliche Geräte wie in Deutschland benutzten.[27]

Interessanterweise hatte es gemeinsames Wissen relevanter psychologischer Forschung gegeben: Einige britische Studenten hatten am Berliner Institut gearbeitet und deutsche Psychologen kannten die Arbeiten ihrer britischen Kollegen zu diesem Thema (Myers, 1912, S. 251; Klemm, 1914, S. 251). Daher erscheint die Entwicklung ähnlicher Projekte durchaus plausibel.

6. Beziehungen nach dem Krieg

Nach dem Krieg intensivierten sich die Beziehungen zwischen den britischen und deutschen PsychologInnen schnell wieder und über den früheren Kriegsgegner wurden in den jeweiligen Zeitschriften keine feindlichen Bemerkungen gemacht. Sehr bald wurden wieder deutsche Bücher in der britischen psychologischen Zeitung rezensiert.[28] 1924 publizierte und übersetzte der deutsche Psychologe William Benary Tom Pear´s Buch: Geschicklichkeit in Sport und Industrie (Court & Janssen, 2003). Auf dem ersten Nachkriegskongress der Gesellschaft für experimentelle Psychologie in Marburg 1921 wurden die Ergebnisse der Arbeit britischer Psychologen im Militär besprochen, z. B. die von Anderson entwickelten Methoden zur Auswahl von Kampfpiloten (Rieffert, 1922).

Auf dem siebten internationalen Kongress für Psychologie 1923, den der englische Psychologe Charles Myers organisiert hatte, wurde deutlich, dass der Kongress sich verändert hatte. Die Zahl der Anwesenden war niedriger und die Machtverhältnisse hatten sich geändert (Ludy & Baker, 2012, S. 5; Rosenzweig, 2000). Bemerkenswert war auch, dass die deutschen PsychologInnen überhaupt eingeladen worden waren, hatte doch eine Konferenz der interalliierten Akademie der Wissenschaften im Oktober 1918 in London die Deutschen von internationalen Kontakten, Treffen und Veranstaltungen für mindestens 12 Jahre ausgeschlossen (Hammerstein, 1999, S. 30). Vor dem Krieg hatten deutsche und französische ForscherInnen den Kongress dominiert, jetzt war der Einfluss britischer und amerikanischer PsychologInnen gestiegen. Obwohl der Krieg nur einige Jahre vorher geendet hatte, war die Atmosphäre auf dem Kongress entspannt und freundlich wie der Amerikaner Louis Thurstone beobachtete:

»Es war ein Anlass zur Befriedigung dass die deutschen und französischen Psychologen sich wie Wissenschaftler begegnen konnten und als Forscher, deren politische Differenzen die Aktivitäten auf dem Kongress nicht ernsthaft gefährdeten.” (Thurstone, 1923, S. 560).

7. Zusammenfassung

Zusammenfassend kann man feststellen, dass die PsychologInnen Deutschlands und Großbritanniens durch intensive persönliche Kontakte und wissenschaftlichen Austausch eng verbunden waren und dass diese Verbindungen nur zum Teil in der Kriegszeit unterbrochen wurden. In beiden Ländern wurde die psychologische Arbeit stark durch die militärischen Anforderungen geprägt. Gemeinsamkeiten zeigten sich in dem Versuch, Richtungshörgeräte für U-Boote zu entwickeln; ein Projekt, das auf gemeinsam entwickelte psychologische Forschungsarbeit (zur Akustik) zurückgriff. In anderen Bereichen zeigten sich aber deutliche Unterschiede: In Großbritannien hatten die PsychologInnen in den beiden ersten Kriegsjahren deutlich größere Einflussmöglichkeiten, organisierten frontnahe Behandlungszentren und in Großbritannien wurden in spezielle Krankenhäusern kriegsneurotische Soldaten behandelt, in denen sie adaptierte psychoanalytische Methoden anwandten. Sie waren eine gut vernetzte Forschergemeinschaft.

In Deutschland gab es keine speziellen frontnahen Therapiezentren und MedizinerInnen mit psychologischem Wissen arbeiteten eher in psychiatrischen Kliniken oder Speziallazaretten für Kriegsneurotiker oder Hirnverletzte. Sie waren Mitglieder einer gut organisierten Militärpsychiatrie; psychologische Instrumente wurden in der Therapie der psychisch gestörten Patienten verwendet, es gab aber keine explizit psychologische Behandlungsmethode. Diese Ärzte protestierten auch nur wenig gegen die zum Teil äußerst brutalen Therapiemethoden ihrer Kollegen. Während der Kriegszeit beobachtete man sich gegenseitig und versuchte von den Erfahrungen des Gegners zu lernen.

Trotz dieser Unterschiede wurde der Kontakt und Austausch zwischen den deutschen und britischen Psychologen bald wieder aufgenommen und die Beziehungen normalisierten sich.

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Endnoten:

[1]

Um den Rahmen dieses Beitrages nicht zu sprengen, wurde der Bereich der militärischen Diagnostik und der Psychotechnik nicht berücksichtigt.

[2]

Großbritannien: British Psychological Society 1901, Frankreich: Societé Psychologique 1901, Deutschland: Gesellschaft für Experimentelle Psychologie 1904 (Baker, 2012, S. 14–16).

[3]

Andere britische Studenten in Deutschland waren : James Ward, der in Berlin und Göttingen studierte, Beatrice Edgell studierte in Würzburg, Samuel Alexander in Freiburg, William H. Rivers in Jena, Henry Watt in Berlin und in Würzburg., Tom Pear in Würzburg mit Oswald Külpe und in Gießen mit Robert Sommer.

[4]

1881 die Philosophischen Studien , die von 1905–1918 als die Psychologischen Studien weitergeführt wurden. (Carpintero, 2005, S. 329).

[5]

Gründungsmitglieder waren fünf psychologische ForscherInnen an Universitäten, zwei Ärzte, zwei Studenten, die sich für Psychologie interessierten und eine Frau, eine Schuldirektorin. (Lovie, 2001, S. 95–114).

[6]

1905 Georg Elias Müller (Göttingen), Carl Stumpf (Berlin), Wilhelm Wundt (Leipzig), 1911 Oswald Külpe (Würzburg) und 1912 Franz Brentano (Wien). Wellcome Library London (BPS) Minutes of General Meetings (1901–1921), Psy/BPS/1/1 S. 19, 55, 65.

[7]

1929 wurde die Gesellschaft in: Deutsche Gesellschaft für Psychologie umbenannt.

[8]

Es war schwieriger für Frauen, Mitglied in der psychologischen Gesellschaft zu werden. Dies änderte sich erst nach dem Ersten Weltkrieg, als es Arbeitsstellen für Frauen im Bereich der Psychotechnik gab. 1921 gab es deutlich mehr weibliche Mitglieder: Z.B. Frl. Dr. A. Argelander, Frl. Dr. F. Baumgarten, Frau Dr. C. Bühler, Frl. M. Hadlich, Frau Kelchner, Frau Dr. R. Katz, Frau Dr. Kerschensteiner-Dürr, Frl. Dr. P. Meyer, Frau Dr. Gräfin Wartensleben (Bühler, 1922, S. 187ff.).

[9]

In der (deutschen) Gesellschaft für experimentelle Psychologie waren 1914 etwa 17 von 185 Mitgliedern jüdischer Herkunft. Dies würde einem Prozentsatz von ca. 9,4 entsprechen. Der jüdische Bevölkerungsanteil um 1900 (den man verschieden definieren kann) betrug etwa 0,95% (Nipperdey, 1991, S. 396–413). Auch in der British Psychological Society arbeiteten Psychologen jüdischer Herkunft z. B. Charles Samuel Myers und David Eder.

[10]

William McDougall, Charles Myers, Charles Spearman, Henry James Watt und A. Wohlgemuth.

[11]

Wellcome Library Lodon. BPS Minutes of General Meetings (1901–1921) PSY/BPS/1/1, BPS Minute Book Vol. I. C- Committee Meetings 1904–1917. PSY/BPS/1/3/1und Minute Book Vol. II. C.- Council, BPS Committee und Committees 1917–1924 PSY/BPS/1/3/1a.

[12]

BPS Minutes of General Meetings (1901–1921), S. 88.

[13]

Z.B.: Minute Book BPS Council Minutes (1917–1924), Vol. II.C, S. 4.

[14]

BPS Minutes of the Committee Meetings, Vol. I. C., 30.1.1904–24.11.1917, PSY/BPS/1/3/1, S. 62.

[15]

BPS Minutes of the Council Minutes II. C 1918–1924, S. 8.

[16]

«The Society unanimously decided to place on record its deep regret on hearing of the death of Prof. Oswald Külpe, an honorary member of the society. The secretary was instructed to convoy an expression of sympathy to the relations of Prof. Külpe as soon as circumstances should permit.” BPS Minutes (1901–1921), S. 91.

[17]

Wilhelm Wundt unterschrieb 1914 den »Aufruf an die zivilisierte Welt«, in dem deutsche Intellektuelle die deutsche Armee gegen die Anklage der Alliierten verteidigten, sie hätten Kriegsverbrechen gegen die belgische Zivilbevölkerung begangen (Lerner, 2003, S. 45; Scheerer, 1989, S. 13).

[18]

National Archiv London: MH 106/2102.; Militärarchiv, Freiburg/Breisgau, BA-MA Pers. 9; Peckl, 2011.

[19]

Ab Ende 1915 versuchte die Armeeführung den Begriff »Shell Shock« durch die Bezeichnung NYDN (Not Yet Diagnosed Nervous, noch nicht als Nervenkrank diagnostiziert), zu ersetzten (Babington, 1997, S. 62–63).

[20]

Nach der Kriegstagung für Psychiatrie und Neurologie im September 1916 in München.

[21]

Nationalarchiv London: Medical Sheets, Files of Shellshock Cases and Neurasthenia, MH 106 2102. Bundesarchiv- Militärarchiv Freiburg. Per. 9.

[22]

Nationalarchiv London: MH/1887: Admission and Discharge Book for Field Service: Craiglockhart War Hospital 27.10.1916–13.11.1917.

[23]

Veröffentlicht 1917: Smith, G. E. & Pear, T. H. (1917). Shell Shock and its lessons. Manchester: University Press.

[24]

«During the last year we have been asked repeatedly, both by members of the medical profession and the lay public, to write a simple non-technical exposition of the ascertained facts of that malady for which we have adopted the official designation «shell-shock”… But it is now possible to collate the medical reports, not only from our army, but also from those of France and Russia. Valuable and suggestive data have been obtained from such of the German medical journals as have reached us... The war has forced upon this country a rational and human method of caring for and treating mental disorders among its soldiers… Are such successful measures to be limited to the duration of the war, and be restricted to the army? Germany has applied them for years to the alleviation of suffering among her civilian population, with a success which has made her famous- outside England.” (Smith & Pear, 1918, Einleitung).

[25]

Militärarchiv Freiburg III. Admiralstab der Marine. Unterwasserschallsignalwesen. Militärische Verwendung. RM5/V. 3516.

[26]

Nationalarchiv London: ADM 137/4723: Beschreibung und Bedienung des U.G. Empfängers für die Boote UC 16 bis 48.

[27]

Hearnshaw, 1964, S. 248; Smith & Bartlett, 1919, S.101; Nationalarchiv London: ADM 212/5: Report of the Detection of Submarines by Acoustic Methods. Office of the Director of Experiment and Research, Admirality, December 1918

[28]

Im März 1920 kam von 7 besprochenen Büchern eines aus Deutschland. Später im Jahr von 17 Büchern zwei.

Über die Autorin

Andrea Gräfin v. Hohenthal

Andrea Gräfin v. Hohenthal, Lehrstuhl für Geschichte des Romanischen Westeuropa; Historisches Seminar; Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

E-Mail: andrea.von.hohenthal@gmx.de