Das Drehbuch Männlichkeit wird im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess entgrenzt und generiert eine neue männliche »Verletzungsoffenheit«. Bisher galt die »psychisch gestörte junge Frau« als Prototyp des selbstverletzenden bzw. selbstschädigenden Verhaltens. Es erscheint aber sinnvoll und notwendig, jenseits der traditionellen Genderdiskurse auf einen Wandel der Konstruktion von Männlichkeit (und Weiblichkeit) zu reflektieren, dass nämlich männliche Verletzungsmächtigkeit und männliche Selbstverletzung nicht widersprüchlich sind. Zigtausende Jungen und junge Männer »ritzen« sich. Sie erleben seelisches Leid, aber spüren auch die Erwartung, dass sie »coole« Jungen sein müssen, um »richtige« Männer zu werden.
Warum aber wird das selbstverletzende Verhalten bei Jungen tabuisiert? Weil traditionelle Männlichkeitsmythen keine Selbstverletzung erlauben! Der Junge darf aggressiver Täter sein; autoaggressives Opfer aber nicht.
Männlichkeit ist für viele Jungen ein Stressfaktor. Es geht darum, starke entgegenkommende Beratungs-, Hilfs- und Handlungszusammenhänge zur Bewältigung schwieriger und kritischer Passagen der Männlichkeitssozialisation zu entfalten.
Schüsselwörter: Männlichkeitskonstruktion, Selbstverletzendes Verhalten, Genderdiskurs, Jungen (bzw. Buben), Lebenswelt, Biografie, Arbeit mit Jungen
Boys and young men who injure themselves – a biographical and environmental approach
Throughout social modernization the story board for «masculinity« has increasingly been extended, also generating a new male «openness for injuries«. Up to now, the mentally disturbed young female seemed to be prototypical for selfabusive or self harming behaviour. However, despite traditional gender discourses, now it seems useful and necessary to focus on changed constructions of masculinity as well, since male injury thickness and self harming are not contradictory. Many boys and young men are «cutting« themselves. They experience mental pain, but also want to be «cool« boys in order to become «real« men. But why is their selfabusive behaviour tabooed? It is because of traditional myths of masculinity, which don't permit male selfinjury. Boys may be aggressive perpetrators but hardly autoaggressive victims. For many boys masculinity is a stress factor. Hence, it is necessary to develop stronger advisory, auxiliary and supportive means in order to cope with these difficult and critical passages of male socialization.
Keywords: construction of masculinity, self - injury behaviour, gender discourse, boys, living environment, biography, work with boys
»Wherever a person is and wherever he goes, his body is always there with him«
(Goffman 2001, S. 152)
Es erscheint sinnvoll und notwendig, jenseits der traditionellen Genderdiskurse den Wandel der Konstruktion von Männlichkeit (und Weiblichkeit) zu reflektieren – dass nämlich männliche Verletzungsmächtigkeit und männliche Selbstverletzung (vgl. Friebel 2012c) nicht widersprüchlich sind. Viele Jungen und junge Männer »ritzen« sich (Samaritans 2003, S.6 und vgl. Brunner/Resch 2016). Trotzdem findet dieses Phänomen in Deutschland kaum öffentliche Erwähnung. Mein Erklärungsansatz lautet, dass der junge Mann prototypisch in einer als unmännlich konnotierten Leid-Erfahrung befangen ist, die durch die Tabuisierung bzw. Feminisierung des Themas gefestigt und verstärkt wird: Der Junge darf aggressiver Täter sein; autoaggressives Opfer aber nicht!
Die folgenden Ausführungen zum selbstverletzenden Verhalten (SVV) von Jungen und jungen Männern münden ein in erste Überlegungen für ein geschlechterreflektiertes Hilfe-, Beratungs- und Therapiekonzept. Es geht darum, Verstehens- und Erklärungszusammenhänge für dieses selbstdestruktive Verhalten zu erschließen und bestehende — bisher insbesondere auf Mädchen und Frauen bezogene — Bewältigungs- und Therapiemethoden zu erörtern. Ich beginne (1) mit einer Phänografie zum selbstverletzenden Verhalten, dem folgt eine systematische Kritik an medizinisch-therapeutischen Fachdiskursen hierzu (2).Ich entwerfe dann eine noch hypothetische Diskussion über mögliche Auslöser und Ursachen des selbstverletzenden Verhaltens aus einer männlichkeitstheoretischen Perspektive (3) und münde schließlich ein in erste Überlegungen für geschlechterreflektierte Hilfe-, Beratungs- und Therapiekonzepte (4). Ein kurzer Ausblick (5) verweist am Schluss auf weiterführende Überlegungen.
SVV ist keine eigenständige Krankheit [1]; es ist ein Symptom für vielfältige biografische Grenz-, Krisen - und Leiderfahrungen (vgl. Friebel 2012c). Whitlock beschreibt den Zusammenhang des »Warum?« in einem spannungsreichen Bogen vom Hilferuf (»To get attention from adults or peers«) über den Versuch einer Emotionsregulierung (»to regulate intensive emotions«) bis hin zur Selbsthilfe (»a form of self-medication«) (Whitlock 2009, S. 4). Die bekannteste Form des SVVs ist das »Ritzen«, also das Schneiden mit scharfen Gegenständen in die Haut (In-Albon/Plener/Brunner/Kaess 2015, S. 2). Weitere Selbstverletzungen sind z. B. das Aufkratzen der Haut, sich beißen, das Schlagen des Kopfes gegen Wände (Trunk 2012, S.31). SVV wird medizinisch-therapeutisch »definiert als die bewusste, freiwillige und direkte Zerstörung von eigenem Körpergewebe ohne suizidale Absicht, welche innerhalb einer Gesellschaft nicht sozial akzeptiert ist« (Kaess/Brunner 2016, S. 38).
Je nach Zusammensetzung der jeweiligen Untersuchungseinheit, nach der spezifischen Definition des SVV und nach der Fragenformulierung berichtet etwa ein Viertel bis ein Drittel (vgl Brunner/Schmahl 2012) von Jugendlichen in Deutschland, sich bisher mindestens einmal selbst verletzt zu haben. Über mehrmalige Selbstverletzungen berichten ca. 4–5 % der Jugendlichen. Das durchschnittliche Alter, in dem mit dem SVV begonnen wird, liegt zwischen 12 und 14 Jahren — Jungen dabei in der Regel eher erst mit 14 Jahren (vgl. Humphreys/Risner/Hicks/Mayer 2015; Barrocas/Hankin/Young/Abela 2012).
In einer traditionellen Lesart des Geschlechterverhältnisses — »Jungen explodieren, Mädchen implodieren« (vgl. Langsdorf 1996) — ist SVV geschlechtstypisch definiert: Jungen wenden ihre Aggression gegen Andere, Mädchen gegen sich selbst. Aber es vollzieht sich ein Wandel im Geschlechterverhältnis. Das »Drehbuch Männlichkeit« (vgl. Friebel 2015) wird dabei zunehmend uneindeutiger und widersprüchlicher. Wir können davon ausgehen, dass das SVV als Ausdruck einer zunehmenden Verletzungsoffenheit im männlichen Lebenszusammenhang gilt. Immer mehr Jungen und jungen Männer verletzen sich selbst (vgl Brunner/Schmahl 2012). Und: »Doing gender« (vgl. West/Zimmermann 1995) — als alltägliche Inszenierung und Reinszenierung der Geschlechtszugehörigkeit — hat selbstverständlich auch Folgen für das SVV: Im Sinne einer geschlechtstypischen »Erwartungserwartung« — ich erwarte, dass von mir erwartet wird — verhalten sich Jungen und Mädchen in den Methoden der Selbstverletzung unterschiedlich. Barrocas und KollegInnen (2012) beschreiben typische Unterschiede der männlichen und weiblichen Selbstbeschädigungen: »Girls reported cutting and carving skin most often, whereas boys reported hitting themselfes most often« (S. 231). Adler und Adler (2007) berichten: »Women tend to make smaller cuts in hidden places with sharp implements … Men are more inclined to make larger, deeper cuts and burns on their chests, their upper arms« (S. 567).
Insbesondere in den einschlägigen Fachartikeln aus den USA und UK erfahren wir, dass die bisherigen Annahmen über das selbstverletzende Verhalten einen erheblichen »gender bias« (Andover/Primack/Gibb/Pepper 2010, S.85; Taylor 2003, S.90) aufweisen. So berichten beispielsweise Yates und KollegInnen auf der Grundlage einer umfangreichen Literaturrecherche: »Although some studies have suggested that girls are 1.5-3 times more likely than are boys … others have suggested that gender differences are less pronounced« (Yates/Tracy/Luthar 2008, S. 58).
Eine im deutschsprachigen Raum Europas unvertraute Sicht der Rezeption und öffentlichen Reproduktion des SVV zeigt zudem ein alarmierend neuer Trend in den USA, via Internet beim Ritzen »zuzuschauen«: Millionenfach angeklickt von Jugendlichen und jungen Erwachsenen werden Videos über SVV per Youtube »vorgeführt«. Ein ForscherInnenteam hatte mehrere Tausend dieser Videos in einer weltweit ersten Studie dieser Art hinsichtlich unterschiedlicher Darstellungsweisen untersucht (vgl. Lewis 2011): mehr als die Hälfte dieser Videos geben keine Hilfs- und Therapieangebote (ebd., S. 552) für die Nutzer und Nutzerinnen. Nach Recherchen der Autoren jener Studie müsse man nur das Wort »selbst verletzen« (»self-injury« oder »non-suicidal self-injury«) per Suchfunktion anzugeben und schon kämen die besagten Filme auf den Bildschirm. Ist hier ein Voyeurismus zu vermuten mit normalisierenden, ermutigenden und verstärkenden Folgen für das SVV? Zudem zelebrieren Prominente im UK- und US- Fernsehen ihr »coming out« hinsichtlich ihrer Erfahrungen in »self-injury« (vgl. Saner 2011). Es wird mit der Veröffentlichung und Diskussion im Internet offenbar eine Gemeinschaft geschaffen. Saner zitiert im britischen The Guardian einen Betroffenen: »People had been isolated and thought they were crazy, because that´s what people were being told. A couple of people who I talked to had mentioned it to a school counsellor who called their parents; and they would check their kid in to the mental hospital. So to find other people who said ‘I do this too, you´re not alone, you´re not crazy’ was such a huge relief« (ebd., S.87).
Analog zu eher noch klassischen Geschlechterbildern in deutschsprachigen Fachartikeln gilt weiterhin die psychisch gestörte junge Frau als Prototyp für Personen, die selbstverletzendes bzw. selbstschädigendes Verhalten aufweisen: »Vor allem Frauen richten bestehende Aggressionen in zerstörerischer Weise gegen sich selbst« (Plener/Brunner/Resch/Fegart 2010, S. 85). Es scheint, als sei der Wandel der Geschlechterverhältnisse bei manchen Experten und Expertinnen noch nicht angekommen, d.h. dass sie wohl noch immer in der traditionellen Lesart von »männlich« und »weiblich« befangen sind.
Neben der in einschlägigen Fachschriften häufigen Sicht der traditionellen Geschlechterordnung auf das SVV finden wir eine ebenfalls häufige Gleichsetzung von SVV mit dem Krankheitsbild emotional-instabile Persönlichkeit vom Borderline Typus (BPS). Außerdem fokussieren medizinisch-therapeutische Diskurse häufig nur auf das subjektive »Innere« der sich selbst verletzenden Person. Sie klammern das »Äußere« — den sozialen Kontext der Person — tendenziell aus. Es findet hier eine psychiatrische bzw. psychotherapeutische »Gesellschaftsvergessenheit« (Keupp 2012, S.77) statt. Der Schweizer sozialpsychiatrisch tätige Hell kommentiert: »Und wir laufen Gefahr, nur noch das Leiden zu bekämpfen, statt den Ursprung des Leidens« (Hell 2016, S22).
2013 wurde meine Kritik an der Feminisierung, an der Pathologisierung und an der Individualisierung des SVV im Ersten Deutschen Männergesundheitsbericht einer breiteren öffentlichen Diskussion zugänglich gemacht: »Friebel spricht sich […] hinsichtlich der künftigen Untersuchung selbstverletzenden Verhaltens bei Jungen aus für
Eine Ent-Feminisierung (Überwindung geschlechterstereotypischer Devianzzuschreibung, Sensibilisierung für Selbstverletzung auch als männliches Problem),
Ent-Pathologisierung (Entwicklung eines nicht-klinischen Paradigmas, Erkundung von Alltagspraxen) und
eine Ent–Individualisierung (Nicht nur Suche nach »defekten« Persönlichkeitsmerkmalen, sondern auch Analyse gesellschaftlicher Gelegenheitsstrukturen)« (Neubauer/Winter 2013, S. 251).
Vergleichen wir den deutschsprachigen mit dem angelsächsischen Fachdiskurs zum Thema, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Debatte in Deutschland gleichsam zensiert wird. Es gibt einschlägige Lehr- und Fachbücher zum jugendlichen Risikoverhalten, in denen über Substanzkonsum, Ernährungsverhalten, riskantes Sexualverhalten und riskantes Straßenverkehrsverhalten reflektiert wird, aber nicht über riskantes SVV (so z. B. Raithel 2011).
Mit der folgenden themen- und methodenbezogenen Kritikprogrammatik, die auch zentrale Desiderate der Forschungen zum SVV aufzeigt, ziele ich auf eine reflexive Dezentrierung des Fachdiskurses über das SVV in Deutschland:
Eine Sensibilisierung für SVV als auch männliches Problem ist schwierig, da die Adressierung an bewusste oder unbewusste Geschlechterstereotypen gebunden ist. Eine noch sehr allgemeine These zur Klärung dieses wirklichkeitswidrigen Zuschreibungsphänomens ist die männlichkeitstheoretische Überlegung, dass Mann normativ nicht Opfer sein darf, sich nicht selbst zum Opfer machen darf. Mit anderen Worten, traditionelle Männlichkeitsmythen erlauben keine Selbstverletzung (vgl. Friebel 2012b). Männer sind zudem vermutlich eher nicht bereit, über Selbstverletzung zu reden. Verbirgt sich dahinter eine Krise des Mannes? Der Männerforscher Meuser bietet ein soziologisches Verständnis des Krisenbegriffs an: eine Krise ist dann gegeben, »wenn die erwartbare Zukunft zerstört ist […] wenn also Handlungsroutinen nicht mehr den gewohnten Effekt zeitigen« (Meuser 2001, S.11).
Die überwiegende Mehrzahl der deutschsprachigen Studien, die die Frauen in der dominanten Rolle der »Selbstverletzerinnen« festschreiben sind methodisch bzw. prozessual zirkulär: die Populationen der insbesondere klinischen Studien sind mehrheitlich aus Frauen zusammengesetzt. Die Untersuchungsergebnisse bestärken dann entsprechend die Vorannahmen (vgl. Adler/Adler 2011a).
Eine repräsentative US-Studie von Klonsky und Anderen liefert auf der Grundlage von 1986 Untersuchungspersonen im Jahr 2003 empirische Belege für die These von der Gleichverteilung [2] der Geschlechter: »Prevalence rates of deliberate self-harm in the present study were roughly equivalent for men and women« (Klonsky/Ottmans/Turheimer 2003, S. 5). Klonsky und KollegInnen zitieren zudem verschiedene Studien mit ähnlichen Ergebnissen. Schließlich wird in der angelsächsischen Literatur ein »doing gender« des SVV in der Klassifikation dokumentiert. Und Adler und Adler notieren, dass Frauen sich eher mit kleinerem, kürzerem »self-harm« verletzen, Männer eher mit größerem, längerem »self-harm«: »when men and women conform to these gendered ways of injuring, they are (relativly speaking) more accepted« (Adler/Adler 2011b, S. 4).
Die Psychopathologisierung des selbstverletzenden Verhaltens war früher auch in der US-Fachliteratur die dominante Lesart: »When Adler started, most studies of self-harm focused on people with severe mental illness, such as schizophrenia – with the result that it had been categorized as a mental disorder« (Saner 2011, S. 1). Chandler und Platt beschreiben dieses Phänomen in ihrer Metaanalyse zum SVV als »klinisches Paradigma« (vgl. Chandler/Platt 2011). Sie plädieren für ein nicht-klinisches Paradigma in entsprechenden Studien, um die Alltagspraxis des SVV zu erkunden. Die allzu schnelle Krankheitsthese (= Störung) kann »oft auch Stigmatisierung bedeuten« (Christ-Friedrich 1998, S. 79) und eine kontinuierliche Krankheitsgeschichte suggerieren.
Eine vermeintlich direkte Verbindung von »Weiblichkeit« und »pathologischer Störung« setzen zum Beispiel Petermann und Nitkowsiki (2015) » Selbstverletzendes Verhalten liegt meist neben bestimmten psychiatrischen Störungsbildern vor; besonders häufig steht eine Borderline-Persönlichkeitsstörung im Hintergrund« (2015,S. 88). Und die Autoren fahren fort: »Gerade bei Frauen steht die Unfähigkeit, Emotionen auszudrücken […] im Zusammenhang mit vermehrtem selbstverletzenden Verhalten« (ebenda, S. 89).
Es wurde und wird in diesen klinischen Studien weitgehend nur nach den in der Person selbst liegenden Ursachen des SVV geforscht. Im Sinne eines »Labelling Approach« (Sack 1973, S. 251) wird der Verstoß gegen die gesellschaftliche Normensetzung mit einem Etikett dem oder der Betroffenen zugeschrieben. Das Verhalten erscheint hier als Ausdruck von »defekten« Persönlichkeitsmerkmalen. Sozio-ökonomische und sozio-kulturelle Einflüsse im Kontext des SVV werden nicht hinreichend berücksichtigt. Chandler und Platt (2011) kritisieren diese reduktionistische Individualperspektive mit den Worten: »We argue that the individualistic focus of existing research is inadequate, since it fails to take into account the social context in which selfinjury takes place« (S. 108).
Zudem existiert in vielen Fachartikeln zum SVV ein erheblicher Mangel in Bezug auf definitorische Klarheit des Begriffs SVV [3]. Ausgesprochen willkürlich werden bestimmte Sachverhalte a priori aus- bzw. eingeschlossen: Der Ausschluss der Selbst-Tötungsabsicht kann aber nur a posteriori validiert werden. Das Konzept ist theoretisch überhaupt nicht fundiert. Es besteht zwar eine lange Tradition soziologisch begründeter Erklärungen, so etwa auch für suizidales Verhalten (vgl. Atkinson 1978; Durkheim 1897, aber: »which has not, until recently, been extended to the area of self-injury« (Chandler/Platt 2011, S.108). Und leider völlig unberücksichtigt vom Mainstream des medizinisch- therapeutischen Diskurses bleiben die hervorragenden Arbeiten des US- amerikanischen Psychoanalytikers und Psychiaters Menninger aus den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. 1938 veröffentlichte er das auflagenstarke Taschenbuch »Man against himself« (vgl. Menninger 1938). Er hatte damals das SVV von jungen Männern im psychoananlytischen Sinne [4] als »Wendung gegen sich selbst« charakterisiert: »It would appear that self-mutilation represents the surrender or repudiation of the active ›masculine‹ role, accomplished through the physical removal or injury of a part of the body« (Menninger 1938, S. 248). Nur im Sinne einer bloßen Traditionsgeschichte findet Menninger heute als Gründungsvater der entsprechenden Forschungen hier und da Erwähnung (z. B. In-Albon et al. 2015, S. 1). Ausschließlich der Psychotherapeut Sachsse hebt die psychoanalytische Perspektive Menningers zum SVV als neurotische Kompromissbildung hervor: »Selbstverletzendes Verhalten war (im Sinne von Menninger, H.F.) Suizidprophylaxe« (Sachsse 2016, S. 9).
Fazit: Forschungen über SVV müssen inter- bzw. transdisziplinär [5] angelegt sein; sie haben ihre Erkenntnismittel und -werkzeuge auf Risiken eines gender-bias (Bourdieu 2005, S. 197) hin zu reflektieren; sie müssen sich aus den Kliniken heraus bewegen und das Wechselwirkungsverhältnis zwischen der Logik des Subjekts (Sinn) und der Logik der (Gelegenheits‑)Struktur berücksichtigen.
Der gesellschaftliche Modernisierungsprozess und der damit einhergehende Wandel der Geschlechterverhältnisse impliziert – geschlechtersoziologisch betrachtet – Widersprüche in der alltäglichen Lebenswelt. Noch gelten verbreitet traditionelle Leitbilder einer dominanten Männlichkeit – eine aufgeklärte Fokussierung des Mann-Frau-Verhältnisses auf Augenhöhe, d.h. Mann und Frau als Gleiche, wird noch nicht allgemein respektiert.
So gelten etwa Kampf, Einsatz, Härte, Stress und Risiko verschiedentlich weiter als Markenzeichen »ernster Spiele des Wettbewerbs« (vgl. Bourdieu 2005) im Rahmen der Männlichkeitssozialisation. Bourdieu hat diese »Spiele« als männliche Gewalt- und Machtspiele beschrieben. Bentheim (2009) beschreibt die Suggestionskraft des Männlichkeitsideals als Komposition von »Allmacht und Unverletzbarkeit« (S.125). Doch der gesellschaftliche Modernisierungsprozess hat die männliche Erfolgsgeschichte zur potenziellen »Männlichkeitsfalle« werden lassen. Der Zwang zur Stärke und Dominanz ist den konventionellen männlichen Rollenmustern teilweise noch eingeschrieben, obwohl sich die Frauen in mancherlei Hinsicht bereits auf der »Überholspur« (vgl. Geißler 2005) befinden. So erfahren viele Jungen angesichts der Gleichzeitigkeit und Widersprüchlichkeit von traditionellen männlichen Überlegenheitsbotschaften [6] und geschlechterdemokratischen Gleichstellungsnormen für Frau und Mann eine Individualisierung mit Risiken (Friebel 2015 S.114).
Dieser Widerspruch zwischen einer teilweise fortdauernden männlichen Überlegenheitsfiktion einerseits und auf Gleichstellung von Mann und Frau hin gerichteten demokratiepolitischen Normen andererseits kann bei den Jungen und jungen Männern zu Retraditionalisierungsbemühungen der »Wieder«-Herstellung von männlicher Handlungsmächtigkeit und Kontrolle führen. Meine These besagt nun, dass eine ins Absurde gesteigerte (Überlegenheits‑)Erwartung der jungen Männer von sich selbst zwangsläufig durch die vorgefundene Wirklichkeit enttäuscht wird und damit eine (Selbst‑)Verletzungsoffenheit generiert: Durch SVV Kontrolle über den eigenen Körper, das eigene Selbst »bewahren«. Neubauer und Winter (2013) beschreiben eine korrespondierende Perspektive, indem sie den bisher weitgehend nicht zur Kenntnis genommenen Zusammenhang zwischen Depressionen und SVV bei Jungen thematisieren: Depressionen erscheinen sowohl aus der Perspektive der medizinischen und therapeutischen Professionen als auch aus der Sicht der Jungen als eher »unmännlich«. Aber die Verunsicherung der Jungen durch alltägliche Widersprüche zwischen der Überlegenheitsfiktion und den Gleichstellungsbotschaften generiert gerade auch depressionsfördernde Misserfolgserfahrungen, Perspektivarmut und Labilisierung traditioneller Vorstellungen. Dennoch versagen sich manche Jungen der weiblich etikettierten Depressionssymptome wie Niedergeschlagenheit, Kummer und Traurigkeit: »Als Symptome zeigen sie dann vielleicht Reizbarkeit, anhaltende Gekränktheit, Neigung zu selbstschädigendem Verhalten« (Neubauer/Winter 2013, S. 117). Die Jungen »maskieren« ihre Depression durch gesteigertes Risikoverhalten sowie SVV und die medizinischen und therapeutischen Professionen sind primär geschult für typisch »weibliche« Depressionssignale: »Neben der Depressionsblindheit für Jungen im Gesundheitssystem sorgen auf der anderen Seite die Jungen und jungen Männer häufig auch selbst dafür, dass ihre depressiven Störungen gar nicht als solche erkennbar werden« (ebd.).
Jungen erfahren angesichts des Widerspruchs zwischen traditionellen männlichen Überlegenheitsbotschaften und modernen Gleichstellungsnormen für Frau und Mann eine Individualisierung mit Irritationen: Sie sollen z. B. beim Übergangsprozess von der Schule in die Arbeitswelt für ihren persönlichen Berufsausbildungsweg im Wettbewerb mit den Mädchen und jungen Frauen auf Augenhöhe »selbst« entscheiden. Komplexe Modernisierungseffekte generieren bei diesem Übergang aber eine doppelt riskante Ausgangslage für einen Teil der Jungen:
durch neue Qualifikationsstandards für berufliche Ausbildungsgänge: Die »Neudefinition bürgerlicher Grundbildung« (vgl. Baumert/Cortina/Leschinsky/Mayer/Trommer 2008) in Deutschland führt zum Upgrading von Qualifikationsvoraussetzungen für viele Berufsausbildungen. Für Berufe, die bis in die 1970er Jahre noch mit niedriger Schulbildung zugänglich waren, wird heute der erfolgreiche Abschluss der Realschule oder gar das Abitur verlangt.
durch zunehmende Schulbildungsdefizite von Jungen bzw. jungen Männern: Sie schneiden im schulischen Bildungsbereich seit Jahren schlechter als Mädchen bzw. junge Frauen ab. Sie sind häufiger an Förder- und Hauptschulen und sie verlassen die allgemeinbildende Schule häufiger ohne Abschluss oder nur mit einem Hauptschulabschluss (vgl. Quenzel/Hurrelmann 2010).
Ein erheblicher Anteil der Jungen in der Bundesrepublik Deutschland gerät angesichts dieser inversen Entwicklungspfade von zunehmenden beruflichen Qualifikationsanforderungen und abnehmenden persönlichen Qualifikationsprofilen in Bedrängnis. Historisch überlieferte Männlichkeitsbilder, die den männlichen Lebenslauf starr um das Erwerbssystem herum platzieren und den Beruf als »Korsettstange des Lebenslaufs« (Kohli 1985, S. 19; vgl. auch Meuser 2016) sehen, blockieren dabei Lern - und Entwicklungsschritte. Es ginge vielmehr darum, »traditionelle Männer–Arbeit–Bilder« (Neubauer/Winter 2013, S. 114) kritisch zu reflektieren und konstruktiv aufzulösen. Den Jungen fehlen aber »Vorbilder und erfahrbare Rollenmodelle« (ebd.) für den Wandel der Geschlechterverhältnisse. Während noch bis Ende der 1960er Jahre die patriarchale Legende von der männlichen »Überlegenheit« gepflegt wurde und die bundesdeutschen Personalpolitiken am Arbeitsmarkt für eine hohe soziale Integration von vorwiegend männlichen Facharbeitern als »Familienernährer« sorgten, bestehen heute erhebliche Exklusionsrisiken für Jungen bzw. junge Männer, die über eine niedrige Schulbildung verfügen. Die auch bis in die 1960er Jahre der Bundesrepublik für selbstverständlich gehaltene Qualifikationsdifferenz zwischen den Geschlechtern und das traditionelle »Familienernährermodel« — mit angeblich unbegrenzter Prosperität und Vollbeschäftigung — sind Vergangenheit bzw. ins Schwimmen geraten.
Aus früheren Privilegien von Männlichkeit können heute Benachteiligungen werden. Die aufgezeigten männlichkeitsspezifischen Probleme verschärfen noch die allgemeinen Problemlagen aller Jugendlichen, denn die aktuelle Form des Übergangs von der Schule in den Beruf, »deren bestimmende Merkmale ihre Offenheit und Ungewissheit sind« (Walther 2000, S. 59, Hervorheb. im Orig.), dramatisiert zusätzlich die prekäre Qualifikationsproblematik eines erheblichen Anteils von Jungen.
Dieser hier nur kurze Anriss zur Krise bzw. Transition der Männlichkeit soll dem Hinweis dienen, dass die im Sozialisationsprozess und per Modelllernen erworbenen Routinen traditioneller Männlichkeit nicht mehr ungebrochen als handlungsleitend und wirkmächtig erlebt werden können. Ohne hier auf das Konglomerat von Körper, Herrschaft, Geschlechterverhältnis und Gewalt näher eingehen zu können, kann der skizzierte Widerspruch zwischen einer männlichen Überlegenheitsfiktion (Tradition) und einer auf Gleichstellung hin gerichteten demokratiepolitischen Perspektive (Moderne) bei den Jungen und jungen Männern zu zwanghaften Retraditionalisierungsstrategien der »Wieder«-Herstellung von Handlungsmächtigkeit und Kontrolle im sozialen Raum führen. Selbstverletzendes Verhalten kann dann das Bemühen signalisieren, die eigene männliche Handlungs- und Wirkmächtigkeit und die Kontrolle über die eigene Biografie am eigenen Körper »wieder« herzustellen: Im Erleiden selbst Handelnder zu sein, »Erleiden als Handeln« (Kohli 1981, S. 160) zu chiffrieren, erscheint dann als Möglichkeit, sich dem Kontrollverlust – dem möglichen Scheitern in der irritierenden bzw. widersprüchlichen Männlichkeitssozialisation – symbolisch zu widersetzen; d.h. durch SVV Kontrolle über den eigenen Körper und das eigene Selbst bewahren zu wollen.
Petermann beschreibt das SVV als Selbstwirksamkeitsmarkierung auf der Haut als Risiko, da die Betroffenen »scheinbare Handlungskompetenzen entwickeln können, die als unangemessene Krisenbewältigung im Jugendalter zu bewerten sind und sich in Form von psychischen und Verhaltensstörungen äußern« (Petermann 2004, S. 5). Diese Krise der Jungen ist eine Krise, in der die »routinemäßige Einordnung meiner Erfahrung […] auf Widerspruch« (Schütz/Luckmann 2003, S. 38) stößt. Die »fraglose« und »selbstverständliche« Wirklichkeit existiert nicht (mehr): »Wir können sagen, dass die Fraglosigkeit meiner Erfahrung ›explodiert‹, wenn […] antizipierte Phasen meines Bewusstseins mit den vorangegangenen Erfahrungen inkongruent sind. Das bis hin Fraglose wird im Nachhinein in Frage gestellt. Die lebensweltliche Wirklichkeit fordert mich sozusagen zur Neuauslegung meiner Erfahrungen auf und unterbricht den Ablauf der Selbstverständlichkeitsketten« (ebd.).
Die Gefühle während und unmittelbar nach der Selbstverletzung sind offensichtlich ambivalent:
tranceähnlich, sie signalisieren Erleichterung/Entlastung einerseits und
lösen Scham/Selbsthass andererseits aus (vgl. BMFSFJ 2009, S. 137; Rauber/Hefti/In-Albon/Schmid 2012).
Meine Überlegungen zu Wandlungsprozessen der Geschlechtsidentität von Jungen und jungen Männern im Verhältnis von soziokulturellen und strukturellen Veränderungen in der Moderne zielen auf eine Weiterentwicklung des Verstehenszusammenhangs ab: Absichtliche Selbstverletzungen von Jungen und jungen Männern sind — so meine These — Symptome krisenhafter Körper- und Selbstkonzepte im Kontext persistierender rigider geschlechtlicher Normierungen von der Pubertät zur Adoleszenz. Die Jungen suchen Halt und sie versuchen Widerstand. Sie können oder wollen sich nicht traditionellen Männlichkeitsbildern unterwerfen. Hier wäre gewiss eine korrespondierende Diskussion mit den oben unter (2) genannten Studien von Menninger, wie in seinem Buch »Man against himself« (1938) veröffentlicht, empfehlenswert.
Das »Drehbuch Männlichkeit« generiert aktuell diesen doppelten, widersprüchlichen Imperativ:
Sei nicht Nicht-Mann als traditionelle Männlichkeitsorientierung und
Gleichstellung von Mann und Frau im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess.
Diese beiden Macht-Diskurse sind in ihrer Gleichzeitigkeit und Widersprüchlichkeit geeignet, die Identitätsentwicklung der Jungen (vgl. Erikson 1970) zu verstören, eine »erschöpfte Männlichkeit« (Lengersdorf/Meuser 2016, S. 9) zu generieren.
Ich gehe davon aus, dass Hilfe- und Beratungskonzepte, therapeutische Konzepte und außerschulische Jungenarbeit allesamt in eine subjekt- und lebensweltorientierte Biografie- und Erinnerungsarbeit einmünden können. Allgemeine Ziele des interaktiven Bewältigungsprozesses sind die Stabilisierung der Jungen im Sinne von Selbstachtsamkeit und Handlungsfähigkeit einerseits sowie Gefühls- und Stresstoleranz andererseits (vgl. Miller/Rathus/Linehan 2007). Es geht um den Erwerb von Kontrollbewusstsein, um die Erweiterung von Handlungsspielräumen.
Kontrollbewusstsein und Handlungsfähigkeit als zentrale Ziele der Bewältigung reflektiere ich als Interaktionskompetenz im sozialen Austauschprozess: Individuen einerseits und lebensweltliche Kontexte andererseits lassen sich nur analytisch voneinander isolieren. Real sind es Subjekt – Lebenswelt – Beziehungen, in denen sowohl das Subjekt als auch die Lebenswelt veränderlich sind (Eccles/Wigfield 2002, S. 128).
Angesichts der Ziele einer geschlechtsreflektierten Perspektive, den Jungen und jungen Männern Hilfe und Unterstützung zur Erweiterung ihrer Geschlechterbilder und ihrer Handlungsalternativen zu vermitteln, ist diese lebensweltorientierte Biografie- und Erinnerungsarbeit per se auch Jungenarbeit. Biografie- und Lebensweltorientierung sind konstitutiv sowohl für eine einzelfallspezifische therapeutische Arbeit als auch für eine geschlechterreflektierte Jungenarbeit als Gruppenarbeit. Aus der biografischen Perspektive (vgl. Lattschar/Wiemann 2013) stellen wir die Frage nach Blockaden, Problemen und Verletzungen in der Lebensgeschichte. Die Lebensweltperspektive richtet unsere Aufmerksamkeit auf die nahe Umwelt der Jungen – als Rahmen für Aneignungs- und Vermittlungsprozesse. Kraus (2000) verweist auf den Zusammenhang von individueller Wahrnehmung und sozialem wie materiellem Kontext im Rahmen der sozialen Arbeit: »Einerseits ist die Lebenswirklichkeit eines jeden Menschen dessen subjektives Konstrukt, andererseits ist dieses Konstrukt nicht beliebig, sondern – bei aller Subjektivität – aufgrund der strukturellen Koppelung des Menschen an seine Umwelt – eben durch die Rahmenbedingungen dieser Umwelt beeinflusst und begrenzt« (S. 85).
Die Idee der lebenswelt- und biografieorientierten Arbeit wendet sich sowohl gegen eine pauschale Pathologisierung des SVVs als auch gegen eine Individualisierung sozialer Probleme (vgl. Friebel 2012b). Denn die Frage, ob das SVV persönlichkeitsexterne oder -interne Ursachen hat, ist von vornherein falsch gestellt. Es geht vielmehr um die Frage nach dem Verhältnis, nach den Relationen zwischen »Innen« und »Außen«: es geht nicht nur darum, die Selbstachtsamkeit und das Kontrollbewusstsein der Jungen zu fördern; es geht zugleich darum, die soziale Partizipation der Jungen in ihrer Lebenswelt zu fördern (vgl. Thomas 2009).
Aufgrund der Komplexität der Ursachen und Bedingungen des SVVs ist die Beeinflussbarkeit durch therapeutische Maßnahmen noch weitgehend ungeklärt. Im Rahmen einer Metaanalyse über verschiedene therapeutische Konzepte folgern Linehan und KollegInnen (Linehan/Comtois/Murray 2006), dass die dialektische Verhaltenstherapie (DBT) [7] die wirksamste Maßnahme zu sein scheint. Doch Margraf und Schneider (2009) resümieren kritisch: »Die DBT stellt insofern ein Behandlungsspektrum von Maßnahmen auf der emotionalen, psychologischen, kognitiven und Verhaltensebene zur Verfügung […]. Bisher liegen allerdings keine Hinweise vor, welche der Module als besonders effektiv in dieser Hinsicht anzusehen sind« (S.176).
Aspekte der DBT-A (für Adoleszente) können von Fall zu Fall — als methodische Hilfen — mit Aktivitäten der geschlechterreflektierten Jungenarbeit [8] verfugt werden. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die DBT-A ursprünglich für die Behandlung von Mädchen konzipiert wurde – d.h. im Sinne einer therapeutischen Arbeit mit Jungen weiterentwickelt werden muss [9]. Ohnehin ist auch der Einfluss von gender-normativen Perspektiven in der medizinischen und therapeutischen Praxis (Healy/Trepal/Heater/Emelianchik-Key/Kelly 2010, S. 225) ständig zu reflektieren: ForscherInnen, MedizinerInnen und TherapeutenInnen sind nicht frei davon, Geschlechterstereotype in Konzepten, Diagnosen und Therapien zu reproduzieren.
Männlichkeit ist für viele Jungen ein Stressfaktor. Die Anzahl der sich selbstverletzenden Jugendlichen nimmt in einem enormen Ausmaß zu (vgl. Brunner/Resch 2016; Humphreys et al. 2015) — bei Mädchen wie bei Jungen.
Mehr interdisziplinäre Forschung ist notwendig, auch um die Geschlechterdifferenzen besser verstehen zu können. Dazu kommentiert Dr.Brunner, Leiter einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie: »Man ist noch ganz weit davon entfernt, dafür gute Erklärungsmodelle zu haben« (Brunner/Resch 2016, S. 157). Brunner vermutet, dass die Genderdifferenz im Zusammenhang mit Depressionen zu verstehen ist: »vergleicht man Mädchen und Jungen mit einer ähnlich hohen Belastung durch depressive Symptome, dann gibt es keinen Geschlechterunterschied« (ebd.S. 161).
SVV galt bis in die 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts als »sicheres« Symptom für eine schizophrene Psychose. Abgelöst wurde diese Diagnose etwa ab Mitte der 90er Jahre durch die Etikettierung der Betroffenen mit dem Krankheitsbild der Borderline Persönlichkeitsstörung (BPS). Ebenfalls in den 90er Jahren galt das Symptom SVV als »sicherer« Beweis für das Vorliegen eines sexuellen Missbrauchs (Sachsse/Herbold 2016, S.11; vgl. auch Jung 2011). Die antipsychiatrische Bewegung der 50er bis 70er Jahre des 20. Jahrhundert skandierte wegen solcher inflationärer Etikettierungen »Die Diagnose macht krank« (vgl. Finzen 2009). Psychiatriekritik ist notwendig, wenn man die Folgen der tausendfachen Etikettierungen »schizophrene Psychose«, »Borderline Persönlichkeitsstörung« »sexueller Missbrauch« in den Lebensläufen der betroffenen Jugendlichen bedenkt. Die Reduktion der Deutungsmacht zugunsten nur eines Berufsbereichs ist somit überaus kritisch zu sehen. Eine Erweiterung der Arbeitsweisen in psychiatrischen Kliniken um den Zusammenhang von Individuum, Geschlecht, Kultur und Gesellschaft ist dringend geraten. Methodisch und inhaltlich geht es darum, die klinische Medizin mit den Sozialwissenschaften zu kontextualisieren.
Ich erwähnte schon im Rahmen meiner Kritik an den medizinisch-therapeutischen Diskursen zum SVV, dass das Forschungsfeld noch weitgehend unbearbeitet ist, dass die beteiligten Professionen erst langsam und zögerlich den Konstruktionswandel der Geschlechter in der Moderne reflektieren, dass Jungen wie Mädchen — möglicherweise unter verschiedenen biografischen und lebensweltlichen Bedingungen — zunehmend für Selbstverletzungen gefährdet sind. Die wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften erstellen »Leitlinien« auch zu diesem Thema für Ärzte zur Entscheidungsfindung in relevanten Behandlungssituationen [10]. Diese Leitlinien sollen für mehr Behandlungssicherheit sorgen. In der ursprünglichen Leitlinie von 2007 zum SVV im Kinder- und Jugendalter wurde noch pauschal davon ausgegangen, dass das SVV dem Krankheitsbild der Persönlichkeitsstörung vom Borderline Tpus (BPS) zuzuordnen sei (Dt. Ges. f. KJP 2010, S. 7).. Zudem wurde eine Diskussion von Geschlechtsspezifik des SVV nur hinsichtlich der Säuglingszeit [11] und der frühen Kindheit geführt: »hierbei sind Jungen etwa doppelt so häufig betroffen wie Mädchen« (ebenda, S. 3). Ansonsten galt das Dogma: Mädchen sind Selbstverletzerinnen. 2012 wurde dann eine Überarbeitung dieser Leitlinie angemeldet mit folgender Begründung: »Bislang findet sich selbstverletzendes Verhalten in den Klassifikationssystemen nur als Symptom einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline Typus, obwohl die meisten Jugendlichen, die sich verletzen, keine Persönlichkeitsstörung aufweisen« (Dt. Ges. f. KJP 2010 S. 1). Das war ein enormer Eingriff in den bis dahin herrschenden Diskurs.
In der 2015 [12] veröffentlichen überarbeiteten Leitlinie wurde dieser Blickerweiterung mit der folgenden Feststellung Rechnung getragen: »Es konnte in der Vergangenheit gezeigt werden, dass die Unterscheidung in gelegentliche und repetitive Selbstverletzung […] eine wichtige Differenzierung darstellt. Repetitive Selbstverletzungen […] sind häufiger mit Suizidalität und einem höheren Grad an Psychopathologie assoziiert« (AWMF 2015, S.5). Mit dieser Unterscheidung zwischen »gelegentlich« (= Problem) und »repetitiv« (= Störung) öffneten die Leitlinien-ExpertInnen vorsichtig den Weg für eine auch nicht-klinische, nicht-pathologische Sichtweise. Zudem wurde in der neuen Leitlinie hinsichtlich der Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen erstmals ein besonderer Wert auf die Beschreibung genderspezifischer Methodenwahlen (»Ritzen« = Mädchen / »Sich selbst schlagen« = Jungen) in der Selbstverletzung gelegt. Gleichfalls erstmals hervorgehoben wurden unterschiedliche Motivationen der Selbstverletzung bei Jungen und Mädchen: »Männliche Jugendliche nennen als Motivation für selbstverletzendes Verhalten signifikant häufiger Gründe wie Langeweile, einer Gruppe zugehören, Gedanken, dass es Spaß mache und sie damit unliebsame Dinge vermeiden. Im Gegensatz dazu nannten weibliche Jugendliche häufiger als männliche Jugendliche Gefühle wie Depressivität oder Unglücklich sein« (ebd. S. 9). Diese Selbstbeschreibungen werden von den Leitlinien-ExpertInnen nicht näher hinterfragt, so beispielsweise auch leider nicht im Kontext der Möglichkeit von maskierter Depression bei Jungen (vgl. Neubauer/Winter 2013) thematisiert.
Insgesamt ist die neue Leitlinie eine Chance, gleichsam ein Öffnungsbeschluss für weitergehende Forschungen zum SVV; für eine Ent-Feminisierung, eine Ent-Pathologisierung und auch für eine Ent-Individualisierung. Es geht nicht mehr nur um das Messen und Zählen der Selbstverletzungsfälle; es geht zunehmend auch um das Verstehen. Der Schlüssel zum Verständnis des Phänomens liegt darin zu erkennen, dass SVV für die Jugendlichen bestimmte Funktionen hat, und dabei helfen kann, emotionale Überforderungen temporär zu bewältigen.
Brunner, einer der Leitlinienexperten, formulierte 2012 in einem Interview wegweisend in Bezug auf weitere Forschungen den Zusammenhang zwischen Individuum, Kultur und Gesellschaft in zwei kurzen Anmerkungen:
»Bestimmte psychiatrische Symptome scheinen also dem sozialen Wandel unterworfen [zu] sein« (Brunner 2012, S. 150)
»Bezogen auf die kulturellen Einflüsse gibt es noch einen riesigen Forschungsbedarf« (ebd. S. 158).
Es geht darum, in interdisziplinärer Forschung die Vielfalt unterschiedlicher Motivationen selbstschädigenden Verhaltens im Zusammenhang mit biografischen und lebensweltlichen Einflüssen zu entdecken. Die subjektiven Relevanzstrukturen von Mädchen und Jungen in verschiedenen sozialen und ethnischen Kontexten haben Bedeutung, nicht nur die quantitativ gemessenen Frequenzen und Methoden der Selbstverletzung. Denn: SVV von Jungen - und auch Mädchen - macht für die Betroffenen Sinn, selbst wenn es insbesondere für Eltern extrem belastend ist.
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In seiner klinischen Bedeutung folgt die Diagnose zum SVV (nach DSM-5) im Wesentlichen einer simplen Häufigkeitsdefinition:» Die Person hat sich im letzten Jahr an fünf oder mehr Tagen absichtlich selbst einen körperlichen Schaden zugefügt« (In-Albon et al. 2015, S.5).
Es geht mir hier nicht um einen gleich wie gearteten »Beweis«, dass SVV hinsichtlich der Geschlechter gleichverteilt sei. Sowohl die US-Metaanalyse von Chandler et al. (2011) als auch die UK-Metaanalyse von Samaritans (2003) bieten auch Hinweise aus Studien hinsichtlich einer überdurchschnittlichen Betroffenheit von Mädchen und jungen Frauen. Es geht in diesem Artikel um die schlichte Feststellung, dass sich auch Jungen und junge Männer mit dramatisch zunehmender Häufigkeit (Samaritans 2003, S. 6) absichtlich selbst verletzen.
Die Definition von SVV als gezielte oder bewusste Verletzung oder Beschädigung des eigenen Körpers ohne Tötungsabsicht ist – hinsichtlich des Ausschließungskriteriums – höchst problematisch, zumal es einen signifikanten Zusammenhang zwischen dem SVV und der Selbsttötung zu geben scheint (Samaritans 2003, S. 6).
Das SVV hatte Freud (1923/24) im Rahmen seiner psychoanalytischen Forschungsarbeiten erörtert und als Abwehrmechanismus beschrieben: Eine Aggressionsbereitschaft gegen eine andere Person wird in eine Autoaggression verwandelt.
Um keine polarisierenden Stereotype zu reproduzieren, bedarf es einer intersektionalen Reflektion zum Thema (vgl. Winker/Degele 2009).
Die männliche Überlegenheitsfiktion ist Produkt einer Identitätsdiffusion und generiert mithin Dominanzphantasien: gegenüber Frauen (heterosozial) und gegenüber anderen Männern (homosozial). Meuser beschreibt diese klassische männerbündische Diktion als »doppelte Distinktions- und Dominanzstruktur« (Meuser 2001, S. 7; vgl. auch Lengersdorf/Meuser 2016)– als Medium männlich-hierarchischer Herrschaft und in Abgrenzung zur männlichen »Schwäche«.
Die dialektische Verhaltenstherapie (DBT) von Linehan beinhaltet u.a. folgende Maßnahmenmodule: Einzeltherapie, Kompetenztraining, Bewegungsangebot, Gruppentherapie und Familiengespräche. Es ist wohl eines der bedeutsamsten verhaltenstherapeutischen Werke der vergangenen 20 Jahre. Zentral ist dabei die Anforderung einer emotionalen und Beziehungskompetenz des Therapeuten auf der Basis einer bemerkenswert humanistischen Grundhaltung. DBT- A ist das abgeleitete Therapiekonzept für Adoleszente.
Möglich als Aufklärung, Prävention, Intervention und therapieanaloger Beziehungsarbeit.
Über ein für Jungen angepasstes Behandlungsprogramm der DBT-A verfügt bereits die Vorwerker Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Lübeck/Deutschland (Station Poseidon 2015).
Die »Leitlinien« sind im Sinne von Foucault »Diskurse«: Die Produktion und Verbreitung von Wissen durch Schriftsprache (vgl. Foucault 1974). Grundlage einer Leitlinie ist das wissenschaftliche Fachgespräch zwischen herausgehobenen ExpertInnen. Innerhalb dieser Fachgruppe wird die einschlägige Literatur zum Thema rezipiert. Die Diskussionsergebnisse werden dann im Rahmen von »strukturierten Konsensgesprächen« festgeschrieben(vgl. AWMF/ÄZQ 2001).
Dies bezog sich insbesondere auf Selbstverletzungen durch Schlagen des Kopfes gegen feste Gegenstände.
Ursprünglich geplant war die Fertigstellung für Mai 2013. Tatsächlich fertiggestellt wurde sie im Februar 2015. Es erscheint nicht abwegig, dass hier die verschiedensten Unstimmigkeiten in der Leitliniengruppe abgearbeitet werden mussten, weil die Kompromissbereitschaft zwischen der traditionell herrschenden Meinung und den Anpassungsnotwendigkeiten an veränderte Bedingungen im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess – damit dem Wandel der Geschlechterkonstruktion – wohl nicht leicht gefallen war. Die Geltung der neuen Leitlinie wurde bis 2020 vereinbart. Die federführende medizinische Fachgesellschaft dieser Leitlinie ist die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP).