Allgemeiner Theorieverlust in der Allgemeinen Psychologie?

Zu den Auswirkungen einer historisch begründeten »Theorieskepsis« und einer ökonomisch orientierten Wissenschaftskultur

Mike Lüdmann

Journal für Psychologie, 26(1), 112–122

https://doi.org/10.30820/8247.07 www.journal-fuer-psychologie.de

Zusammenfassung

Ein auffälliges Charakteristikum der gegenwärtigen »Fachkultur« der Allgemeinen Psychologie ist, dass profunde theoretische Arbeit zugunsten einer relativ unkoordinierten Akkumulation empirischer (häufig inhaltlich wenig aussagekräftiger) Detailbefunde stark vernachlässigt wird. Während es zu vielen Neuerungen und Verfeinerungen auf dem Gebiet der Forschungsmethoden gekommen ist, ist der inhaltliche Theoriefortschritt sehr ins Stocken geraten und die Schaffung eines kohärenten konzeptuellen Gerüsts im Sinne eines Rahmenmodells der Psychologie in noch größere Ferne gerückt. Hierzu soll die Frage thematisiert werden, welche fachbezogenen historischen Verläufe sowie welche gesellschaftlichen, (wissenschafts-)politischen Bedingungen der gegenwärtigen Wissenschaftskultur diese Situation herbeigeführt haben. Zum einen spielen historische Gründe eine Rolle, die als eine »gescheiterte Vergangenheitsbewältigung« in Bezug auf die vergleichsweise späte Loslösung der Psychologie von der Philosophie bezeichnet werden können. Zum anderen lassen sich wissenschaftssoziologische Fehlsteuerungsprozesse ausfindig machen, die im Zusammenhang der Ökonomisierung des Wissenschaftsbetriebs stehen.

Schlüsselwörter: Allgemeine Psychologie, New Public Management, Theorieskepsis, Theoretische Psychologie

Summary
General loss of theory in general psychology? About the consequence of a historically founded »theory skepticism« and an economically oriented culture
in academia

A conspicuous characteristic of the currently »professional culture« of psychology is that profound theoretical work is be neglected in favor of a relatively unfocused accumulation of empirical (often not very meaningful) detailed findings. While there have been many innovations and refinements in the field of research methods, the progress of the theoretical contents has been come to a standstill. Therefore, the creation of a coherent conceptual framework model of psychology receded into the distance. Concerning this, the question should be discussed which specialized historical developments as well as which social and political conditions of the currently scientific culture have led to this situation. On the one hand, historical reasons may play a role which can be described as a »failed coping with the past« relating to the late detachment of psychology from philosophy. On the other hand there can be found mismanaged socio-scientific processes which are connected with the economization of scientific activities.

Keywords: General Psychology, New Public Management, Theory Skepticism, Theoretical Psychology

Die aktuelle Debatte um die Biologisierung der Psychologie

Die Psychologie und hierbei vor allem die Allgemeine Psychologie befindet sich in einer Phase des Umbruchs und der Unsicherheit. Die Ursache liegt in der in den 1990er Jahren einsetzenden Etablierung der sogenannten kognitiven Neurowissenschaft, die aus einem Verbund aus Psychologie, Medizin, (Neuro-)Biologie, Informatik und der Philosophie (des Geistes) besteht. Einerseits erlebt man seitdem eine ungeheure Dynamik und Aufbruchstimmung, andererseits werden durch die Veränderungen auch eine Menge Ängste geschürt, und dies allem Anschein nach viel stärker in der Psychologie als in allen anderen an diesem Wissenschaftsverbund beteiligten Disziplinen. Die Ursache hierfür liegt in erster Linie in einem wahrgenommenen Kompetenz- beziehungsweise Zuständigkeitsverlust der Psychologie. Vor allem die Biologie scheint in viele Bereiche vorzudrängen, die vormals genuin psychologisches Terrain waren. Die Allgemeine Psychologie (und damit auch die kognitive Psychologie) ist innerhalb des Faches stark mit der biologischen Psychologie verschmolzen, sodass viele kognitionspsychologische Theorien und Modelle zunehmend durch neurowissenschaftliche Daten erweitert, wenn nicht (zumindest vermeintlich) sogar ersetzt werden.

In ihrem aktuellen Diskussionsbeitrag zur Allgemeinen Psychologie haben Bermeitinger und Kollegen (2016), wie in ähnlicher Form auch bereits Mausfeld (2010), vor diesem Hintergrund unter anderem darauf hingewiesen, dass die Psychologie gegenwärtig zu sehr auf die Identifizierung der neuronalen Substrate menschlichen Erlebens fixiert sei. Eine solche Vormachtstellung biologischer Forschungsmethoden und Erklärungsmuster könne darauf hinauslaufen, dass die Einheit des Fachs der Psychologie gefährdet sei1. Auch müsse die Psychologie als Fach sich gegenüber reduktionistischen Tendenzen behaupten. Der eigentliche Daseinszweck der Psychologie liege in ihrem Anspruch, menschliches Verhalten und Erleben erklären und vorhersagen zu können.

Es ist in der Tat die Frage, ob die (Allgemeine) Psychologie diesem Anspruch in den letzten Jahrzehnten gerecht geworden ist. Mit der Fokussierung auf die Verfeinerung von bestimmten Methoden und dem flächendeckenden Einsatz bildgebender Verfahren ist die »Theoriearbeit« sträflich vernachlässigt worden. Auch die Formulierung einer konzeptuellen Basistheorie der Psychologie, wie sie die Allgemeine Psychologie bereitstellen sollte, ist – zugunsten einer immer weniger koordinierten Detailforschung – in zunehmend größere Ferne gerückt. Dass kürzlich nun eine »Replikationskrise« ausgerufen wurde, muss im Angesicht solcher Entwicklungen nicht verwundern. Dies soll im Folgenden genauer beleuchtet werden soll.

Theorieskepsis und das Fehlen einer Basistheorie der Allgemeinen Psychologie

»Böse Zungen behaupten, die Psychologie sei eine Wissenschaft, die Fragen beantworte, die niemand gestellt habe, da entweder die Antworten sowieso längst bekannt sind oder aber die Fragen niemanden interessieren. Man hat nicht den Eindruck, daß diese ›Analyse‹ so völlig falsch ist« (Dörner, 1983, S. 13).

Obgleich diese »Analyse« die Lage sicherlich etwas zugespitzt darstellt, liegt eine Gefahr unabweislich darin, dass die Psychologie zwar methodisch immer einfallsreicher werden mag, dafür aber die konzeptuelle Weiterentwicklung, die begriffliche Konsistenz, die psychologisch-gesellschaftliche Bedeutung der untersuchten Fragestellungen und das Ideal der Bereitstellung eines integrativen theoretischen Gesamtrahmens, in den sich die vielzähligen empirischen Einzelbefunde einbetten lassen, zunehmend aus dem Blick gerät (vgl. Slife & Williams, 1997). So ist geradezu eine Explosion der methodischen Vielfalt eingetreten. Man denke alleine an die vielen bildgebenden Verfahren, die nun auch flächendeckend in der Psychologie eingesetzt werden, aber auch an viele neue oder wiederentdeckte statistische Verfahren (Strukturgleichungsmodelle, Pfadanalysen usw.). Die Güte und der Ausdifferenzierungsgrad des bedeutungstragenden psychologischen Wissens blieben hiervon allerdings erstaunlich unberührt. Denn wie gleich eine ganze Reihe herausragender Psychologen der Gegenwart wie Klaus Fiedler, Ulman Lindenberger, Rainer Mausfeld oder auch Wolfgang Prinz in ihrer programmatischen Schrift zur Psychologie im 21. Jahrhundert festgestellt haben (vgl. Fiedler et al., 2008, S. 30), waren es die Methoden selbst, die die Weiterentwicklung von Psychologie und Hirnforschung in den letzten Jahrzehnten vorangetrieben haben, während Entwicklungssprünge auf dem Feld der Theoriebildung kaum zu verzeichnen waren.

Wenn die Methoden selbst aber so sehr in den Mittelpunkt rücken, besteht auf längere Sicht eine Gefahr für den eigentlichen Erkenntnisfortschritt in der Psychologie. Unterbleibt eine Weiterentwicklung der theoretischen beziehungsweise begrifflich-konzeptuellen Arbeit in der Psychologie, können auch die ausgeklügeltsten neuen Methoden letztlich nur mit dem bestehenden konzeptuellen Gerüst der Psychologie »gefüttert« werden. Wenn dann zum Beispiel keine Passung eines Strukturgleichungsmodells zu erzielen ist, werden in erster Linie die statistischen Parameter verändert, anstatt dass die verwendeten psychologischen Konstrukte selbst einer inhaltlichen Prüfung oder Weiterentwicklung unterzogen werden. So kann sich auf der Basis der bestehenden (wahrscheinlich häufig noch unzulänglichen oder inkonsistenten) Konzepte zwar – zumindest auf den ersten Blick – ein Höchstmaß an mathematischer Präzision ergeben, bezüglich des inhaltlichen Erkenntnisstandes, der einer Ausdifferenzierung, Anpassung oder auch Vereinfachung des begrifflichen Netzwerkes zu einem psychologischen Forschungsgegenstand bedarf, tritt man so dagegen auf der Stelle. Diese Unabkömmlichkeit theoretischer Arbeit konstatieren nunmehr sogar biopsychologisch ausgerichtete Forscher wie Onur Güntürkün: »Die Neurowissenschaften bieten wertvolle neue Werkzeuge zur Erforschung des Geistes. […] Dies enthebt uns nicht der Notwendigkeit, Theorien zu bilden, um die damit gewonnenen Daten zu verstehen« (in Fiedler et al., 2008, S. 36). So stellt Rainer Mausfeld, der sonst eher als »Verteidiger« der Psychologie gegenüber einer Vereinnahmung der Naturwissenschaften respektive der Biologie auftritt, fest: »[L]eider verfügen wir bislang in der Psychologie nur in sehr wenigen Bereichen über etwas, das auch nur annähernd an das heranreicht, was wir in anderen Naturwissenschaften als Theorie bezeichnen« (in Fiedler et al., 2008, S. 36; Hervorh.: M.L.). Dass solche begrifflichen Unschärfen und die Operationalisierung von Konstrukten auf der Basis von lediglich Theoriefragmenten statt ausgefeilten Theoriegebilden – neben weiteren Gründen – zu Schwierigkeiten bei der Replikation von Einzelbefunden führen, dürfte auf der Hand liegen.

Dies ist natürlich keine Entwicklung, die ausschließlich eine Angelegenheit der Allgemeinen Psychologie wäre, jedoch betrifft es sie in ganz besonderer Weise beziehungsweise steht sie hier in einer exponierteren Verantwortungsposition als alle anderen Subdisziplinen der Psychologie. Denn die Allgemeine Psychologie hat wie keine andere Grundlagendisziplin der Psychologie den Anspruch (zu haben), die Konzepte, Theorien und Modelle bereitzustellen, die für die gesamte Disziplin maßgeblich sind, auch wenn sie »andernorts« in zum Beispiel differenzieller, sozialer, entwicklungsbezogener etc. Perspektive betrachtet werden.

Woher rührt nun diese Theorieskepsis in der (Allgemeinen) Psychologie? Hier scheinen zwei Aspekte von zentraler Bedeutung zu sein: ein historischer und ein wissenschaftspolitischer beziehungsweise wissenschaftssoziologischer. Zum einen haben wir eine historisch bedingte Theorieskepsis, die sich aus einer (unverhältnismäßigen) Abgrenzungstendenz gegenüber der Philosophie ergibt. Ich nenne dies den Mythos der verspäteten Wissenschaft (Lüdmann, 2014). Als zweite Erklärungsgröße ist die allgemeine Ökonomisierung des Wissenschaftsbetriebs zu nennen. Beide Tendenzen sollen im Folgenden beleuchtet werden.

Der Mythos der verspäteten Wissenschaft

Wenn die Frage im Raum steht, warum der Psychologie ein begrifflich-konzeptuelles Fundament im Sinne eines einheitlichen theoretischen Rahmens und einer klaren (ontologischen) Gegenstandsbestimmung des Faches weitestgehend fehlt, ist es aufschlussreich, wenn man sich die Umstände zum Zeitpunkt ihrer Entstehung als eigenständiger empirischer Wissenschaft vor Augen führt (vgl. Lüdmann, 2014). Wie letzten Endes (fast) alle Wissenschaften ist die Psychologie der Philosophie entsprungen2. Bevor sie sich sukzessive ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert zu einer selbstständigen akademischen Disziplin entwickelt hat, war die Psychologie – genau genommen seit der Antike – eine philosophische Disziplin, wie es heute immer noch beispielsweise Ethik und Logik sind.

So sprach Wilhelm Wundt (1896/1911) in seiner bekanntermaßen wirkmächtigen Formulierung des Grundrisses der Psychologie einen Gedanken aus, der bis heute einen kollektiven Glaubenssatz der psychologischen Zunft darstellen dürfte (vgl. hierzu z.B. Lewin, 1931; Bischof, 1981, 2008). Demnach ist die Psychologie eine »verspätete« Wissenschaft, die sich – wie die Physik – potenziell schon seit der Zeit Galileis aus dem philosophischen Kontext hätte lösen können. Weil sie aber seit der Renaissance »unter die Herrschaft der Metaphysik« (Wundt, 1896/1911, S. 5) geriet beziehungsweise sich der Umklammerung durch die Philosophie lange nicht erwehren konnte, hat sie das ihr eigentlich inhärente Potenzial einer empirischen Wissenschaft nicht entfalten können, so Wundt. Mit ihrer Neuerfindung als empirische Disziplin ist sie nun – wie einstmals auch Physik, Chemie oder Biologie – auf dem Weg zu einer respektablen eigenständigen Wissenschaft. Vor allem sollte mit ihrer Emanzipation von der Philosophie ein fundamentaler Wandel ihrer fachlichen Methoden erfolgen. Statt einer Ableitung von Erkenntnissen aus spekulativen philosophisch-metaphysischen Prämissen sollte sich die empirische Psychologie der Methoden der Naturwissenschaften, allen voran der Physik, bedienen:

»Indem die Psychologie auf ihrem gegenwärtigen Standpunkt eine ›Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung‹ für den gesamten Umfang der Erfahrung sein will, kann sie nun auch eine prinzipielle Verschiedenheit der psychologischen und der naturwissenschaftlichen Methoden nicht mehr anerkennen. Sie hat daher in erster Linie experimentelle Methoden auszubilden gesucht, die eine ähnliche, nur dem veränderten Standpunkt Rechnung tragende exakte Analyse der psychischen Vorgänge zustande bringen sollen, wie eine solche in bezug auf die Naturerscheinungen die erklärenden Naturwissenschaften unternehmen« (ebd., S. 9f; Hervorh. i. Orig.).

Und so scheint es nahe zu liegen, dass Wundt mit der von ihm angestrebten Orientierung an den Methoden der Naturwissenschaften tatsächlich beabsichtigte, die Psychologie selbst zu einer solchen zu erheben.

Es ist allerdings aufschlussreich, dass sich Wundt selbst zunehmend von der strengen Orientierung an der Physik und sogar von der Überzeugung, dass es einer grundsätzlichen Trennung der Psychologie von der Philosophie beziehungsweise ihrer Themenfelder bedarf, distanzierte (vgl. Wundt, 1913, 1921). So sagt er, dass es ein grundlegendes Missverständnis wäre, davon auszugehen, dass es auf geistigem Gebiet »ein System von Gesetzen des Geistes geben [müsse], die von ähnlich exakter, mathematisch formulierbarer Beschaffenheit seien, wie die allgemeinsten Naturgesetze. […] Diesem Mißverständnis begegnet nicht selten auch die experimentelle Psychologie« (Wundt, 1913, S. 89). Stattdessen spricht er sich in seiner – der experimentellen Psychologie gegenübergestellten – Völkerpsychologie (vgl. Wundt, 1900–1920) für eine kulturvergleichende Psychologie aus, weil sich die komplexen Wechselbeziehungen zwischen den psychischen Elementarfunktionen gerade nicht in der experimentellen Individualpsychologie auf eine methodisch kontrollierte Art und Weise erfassen lassen würden. Komplexere Bewusstseinsinhalte und deren Wechselbeziehungen sind »der Sache nach dem Experiment unzugänglich« (Wundt, 1921, S. 537), da dieses zwangsläufig die Rahmenbedingungen, die für die Entstehung eines Phänomens konstitutiv sind, vernachlässigen muss (vgl. Wundt, 1907, S. 308; Laucken, 1998, S. 86). Stattdessen müsse man die Gesetzmäßigkeiten des geistesgeschichtlichen Nacheinanders sprachlicher, mythischer und sittlicher Kulturgebilde untersuchen und könnte – auch durch den Vergleich verschiedener Kulturen – zu einem adäquaten Verständnis des individuellen Geisteslebens kommen: »So werfen z.B. die Erscheinungen der Sprache, die an sich nur als eine Schöpfung des Gesamtgeistes [einer Kultur; M.L.] zu begreifen ist, doch zugleich ein helles Licht auf die psychologischen Gesetzmäßigkeiten des individuellen Denkens« (Wundt, 1888, S. 21).

In der akademischen Psychologie hat man von dieser Kehrtwende oder zumindest diesen Klarstellungen Wundts offenbar kaum Notiz genommen. Denn wie bereits Koch (1951) und Dörner (2008) festgestellt haben, findet sich in weiten Teilen der Psychologie eine starke Abwehr gegenüber profunder theoretischer Arbeit wieder. Nach Slife und Williams (1997) herrscht dabei die Ansicht vor, dass die grundlegenden begrifflichen und theoretischen Arbeiten bereits durch Psychologen wie zum Beispiel Piaget, Edelman, Neisser oder Sternberg erfolgt seien und nunmehr nur noch eine durch die Empirie zu leistende Verfeinerung oder Korrektur vorgenommen werden müsse (vgl. ebd., S. 118). Nicht selten werden Empirie und Theorie sogar als »Gegenspieler« aufgefasst. Diesem Denkmuster zufolge wirken Theorien – und insbesondere solche mit einem hohen Anteil an hypothetischen Konstrukten – »verdächtig«. Sie scheinen ein Behelfsmittel zu sein, das man in Kauf nehmen muss, solange man noch nicht die »eigentlichen Fakten« kennt, die über die Empirie zu erheben sind (vgl. ebd.). Der Zusammenhang zwischen Empirie und Theorie bleibt in vielen wissenschaftlichen Arbeiten recht lose, sodass eine Weiterentwicklung oder Integration der bestehenden theoretischen Modelle (auf einem höheren Analyse-Niveau) oder der verwendeten Konzepte nur äußerst selten stattfindet.

»The discipline has moved away from grand subsuming theories in the traditional sense and moved towards models, techniques, and microtheories in the more modern sense. […] These models are rarely expanded to full-blown theories. And yet, […] such models rest on a host of broader theoretical assumptions that are often never recognized and almost never examined« (ebd.).

Ökonomisierung des Wissenschaftsbetriebs

Eine wichtige Hintergrundvariable zum Verständnis der gegenwärtigen Entwicklungen in der Wissenschaft und insbesondere in der Psychologie ist die betriebswissenschaftliche Organisation der Universitäten beziehungsweise Wissenschaften im Sinn des »New Public Management«. Es handelt sich hierbei ein um globales Phänomen, das sich spätestens seit den 1990er Jahren auch gravierend auf das Hochschulsystem in Deutschland ausgewirkt hat (vgl. Knobloch, 2010; Münch, 2011; Kühl, 2012). Vor allem ist seitdem ein Rückgang der öffentlichen Finanzierung der Hochschulen (vgl. Laudel, 2006; Hinze, 2010) und zugleich eine Zunahme des Stellenwertes öffentlicher und privater Drittmittelgeber (DFG, BMBF, Industrie/Unternehmen etc.) zu verzeichnen. Als eine weitere Ausdrucksform der stärkeren Orientierung an den Belangen der Wirtschaft können, zumindest zum Teil, auch die Bologna-Reformen verstanden werden.

Aufgrund dieser Neuausrichtung des Wissenschaftsbetriebs unterliegt auch eine erfolgreiche akademische Karriere an ökonomischen Prinzipien ausgerichteten Mechanismen: Es sind vor allem die Höhe der eingeworbenen Drittmittel und die Publikations- und Zitationsindizes, die den Grad der wissenschaftlichen Relevanz eines Forschers in Form des Impact-Faktors festlegen. Die hiermit angestoßenen Fehlentwicklungen hat Mausfeld (2010) auf den Punkt gebracht:

»Die durch derartige Evaluationsparameter definierten Karrierefilter fördern massiv eine Fokussierung auf eng umgrenzte Studien in wohletablierten Paradigmen und eine Bearbeitung von Fragen, welche die Gewähr bieten, in einem möglichst kurzen Zeitrahmen zu einem Wertzuwachs auf relevanten Indikatoren [vor allem Publikations-und Zitationsindizes; M.L.] zu führen. […] In dem Maße, wie Indikatoren, die Oberflächenvariablen eines komplexen Systems darstellen, zu Zielvariablenwerden, die bei der Karriereplanung direkt optimiert werden können, wird tendenziell ein gleichsam egalitäres Element als Filtermechanismus etabliert, durch das ein jeder mit der nötigen Hartnäckigkeit in geradezu algorithmischer Weise gute Indikatorwerte erzielen kann« (ebd., S. 189).

Damit sind es aber nicht mehr unbedingt die inhaltliche Güte langfristig angelegter Forschungsprojekte und vielleicht auch die Entwicklung neuartiger, innovativer Modelle und Theorien, die begünstigt werden, sondern vielmehr möglichst konzeptionell selbst-evidente Forschungsfragen, die sich in möglichst kurzer Zeit mit einem minimalen Risiko des »Scheiterns« umsetzen lassen. Es liegt also verstärkt eine Output-Orientierung im Sinne einer bestmöglichen »Vermarktbarkeit« wissenschaftlicher Erkenntnisse vor. Substanzielle Beiträge zur Weiterentwicklung oder Vereinheitlichung bestehender Theorien sind dagegen eher kontraproduktiv:

»[G]egenwärtig wird der Theoriefortschritt der Psychologie durch einen zunehmenden Verlust derjenigen Leitideale bedroht, auf denen der Erfolg der neuzeitlichen Wissenschaft beruht. Durch die Art der internen akademischen Selektionsmechanismen des Faches ist die Bearbeitung schwieriger und ernsthafter Grundlagenprobleme, wie sie das Fach für eine kumulative Theorieentwicklung zu bewältigen hat, wegen des mit ihrer Bearbeitung verbundenen hohen Aufwandes für die akademischen Karrierechancen geradezu kontraproduktiv. Die derzeitige Tendenz zur Bearbeitung von rasch in Publikationen umsetzbaren Fragestellungen, die dann zwangsläufig trotz oftmals methodisch hoher Standards inhaltlich dürftig sind, ist eine natürliche Konsequenz der Ersetzung klassischer wissenschaftlicher Leitideale durch das der ›visibility‹« (Mausfeld, 2010, S. 189).

Diese Schere zwischen Empirie und Theorie hat sich seit der Zulassung kumulativer Dissertationen noch deutlich verstärkt, denn durch die bei der Publikation von Zeitschriftenartikeln vorgeschriebene, zur Kürze verpflichtende Form besteht nur wenig Platz für theoretische Überlegungen und innovative Beiträge zum wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt (vgl. Witte & Brandt, 2010; Witte, 2013). Es entsteht so der Eindruck einer Disziplin, der die Überzeugung eigen zu sein scheint, dass sich allein durch die Anhäufung von empirischen Daten mit einem zunehmenden Detailliertheitsgrad (und damit immer geringerer Anbindung an übergeordnete theoretische Rahmenkonzepte) sukzessive die gesuchten Erklärungsprinzipien zu psychologisch relevanten Fragestellungen etablieren lassen.

Insgesamt lässt sich somit sagen, dass die Geringschätzung theoretischer Arbeit aus einer Mischung aus wissenschaftssoziologischen Fehlsteuerungsprozessen und – was hiervon keineswegs unabhängig ist – einer gescheiterten »Vergangenheitsbewältigung« entspringt. Der Mythos der verspäteten Wissenschaft nährt die Abwehr gegenüber profunder theoretischer Arbeit, die sich nicht ins strenge Schema des (statistischen) Methodenkanons einpassen lässt, weil hiermit vermeintlich ein Rückfall in die Umklammerung durch die Philosophie sowie die Gefahr, von den »anderen« Naturwissenschaften nicht mehr beziehungsweise noch weniger als ihresgleichen akzeptiert zu werden, verbunden sein könnte.

Es ist erstaunlich, wie prophetisch gerade Wundt (1913) – ganz im Sinne Goethes »Die Geister, die ich rief, werd ich nun nicht los« – in seinen späteren Werken die Folgen einer empirizistischen (»theoriefeindlichen«) Ausrichtung der von ihm begründeten Wissenschaft beziehungsweise einer Loslösung von grundsätzlichen, Einzeldisziplinen übergreifenden theoretischen Fragestellungen vorausgesehen hat:

»Jene allgemeineren und darum für die psychologische Bildung wichtigsten Fragen hängen aber so innig mit erkenntnistheoretischen und metaphysischen Standpunkten zusammen, daß gar nicht abzusehen ist, wie sie jemals aus der Psychologie verschwinden sollten. Eben das zeigt deutlich, daß die Psychologie zu den philosophischen Disziplinen gehört, und daß sie das auch nach ihrer Umwandlung in eine sogenannte selbstständige Wissenschaft bleiben würde, die am Ende doch nur von latenten und eventuell, wenn die aus der Philosophie ausgeschiedenen Vertreter der Psychologie der gründlichen philosophischen Bildung ermangeln, von unreifen metaphysischen Anschauungen getragen sein könnte. […] Was heute, wie man wohl sagen darf, manche Philosophen irrtümlich gegen sie einwenden, sie sei mehr eine technische als eine rein wissenschaftliche Disziplin, das könnte in erschreckendem Maße zur Wirklichkeit werden. Sollte es dazu kommen, daß sich dann noch gar infolge der fortschreitenden Arbeitsteilung der eine der Psychologen etwa mit Gedächtnisversuchen […] und der andere mit Reaktionsversuchen und ihren individuellen Verschiedenheiten, der dritte mit der Bestimmung von Unterschiedsschwellen, ein vierter mit Denkexperimenten ausschließlich beschäftigte, dann wäre die Zeit wirklich da, wo sich die Psychologen in Handwerker, aber nicht gerade in Handwerker der nützlichsten Gattung verwandelt hätten« (S. 24).

Auch wenn Wundt die Hoffnung hatte, dass diese Entwicklung der Psychologie erspart bliebe, dürfte seine Prognose durchaus eine recht valide Beschreibung der problematischen Fragmentierung beziehungsweise Uneinheitlichkeit der Gegenwartspsychologie abgeben. Dies ist ein fundamentaler Unterschied zur Physik. Keineswegs kann davon die Rede sein, dass die Psychologie wie die Physik in einem auch nur annäherungsweise ähnlichen Verhältnis um eine Vereinheitlichung ihrer theoretischen Modelle oder begrifflich-konzeptuellen Grundlagen bemüht ist. Wie Staats (1983), Yanchar und Slife (1997) oder auch Slife und Williams (1997) beklagen, hat sich die ohnehin seit Anbeginn an vorhandene Fragmentierung des Faches in den letzten Jahrzehnten noch weiter verschärft. Denn wer sollte auch eine weitergehende Zusammenschau, Zusammenführung und Vereinheitlichung, die Formulierung theoretischer Rahmenkonzepte etc. erbringen, wenn es hierfür in der (Allgemeinen) Psychologie keine institutionalisierte Anlaufstelle wie eine Theoretische Psychologie gibt?

Bermeitinger und Kollegen (2016) haben also durchaus recht, wenn sie ausführen, dass die Einheit des Faches der Psychologie gefährdet sei. Es ist allerdings nicht die Fokussierung auf biopsychologische beziehungsweise neurobiologische Verfahren an sich, die solch einer Entwicklung Vorschub leistet. Es ist vielmehr die Abkehr von profunder theoretischer, begrifflich-konzeptueller Arbeit, die sich aus einer unverhältnismäßigen Abgrenzung gegenüber der Philosophie ergibt und durch die Ökonomisierung des Wissenschaftsbetriebs noch zusätzlich verstärkt wird.

Anmerkungen

[1]
Dass eine solche Krise der Psychologie ausgerufen wird, ist nun keine neue Erscheinung. Das Fehlen einer Einheit der Psychologie wurde schon zu verschiedensten Zeiten beklagt, womit sich natürlich die Frage stellt, ob es jemals eine echte Einheit des Faches gab. Weitergehende Darstellungen hierzu finden sich bei Sturm und Mülberger (2011) oder Wiesner (2016).
[2]
Hier ist es wichtig zu wissen, dass es bis zum 19. Jahrhundert auch keine klare Trennung zwischen Philosophie und den Naturwissenschaften gab. Auch die Physik war zum damaligen Zeitpunkt ebenso ein Teil der philosophia naturalis wie die Psychologie. Erst im Zuge der starken Spezialisierung und der Etablierung (apparativer) Techniken haben sich die Wissenschaften als eigenen Disziplinen verselbstständigt.

Literatur

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Der Autor

Mike Lüdmann, Dr., Diplom-Psychologe und Philosoph, ist Dozent an der Universität Duisburg-Essen. Seine Arbeitsgebiete umfassen Fragen der Entwicklungs- und Sozialpsychologie, den Theorie-Praxis-Transfer im Bereich psychologischer Forschung sowie wissenschafts- und erkenntnistheoretische Grundlagen der Psychologie.

Kontakt: mike.luedmann@uni-due.de