Performative Sozialwissenschaft – im Gespräch

Editorial

Journal für Psychologie, 28(1), 3–14

https://doi.org/10.30820/0942-2285-2020-1-3 CC BY-NC-ND 3.0 DE www.journal-fuer-psychologie.de

IM EDITORIAL WERDEN ANNOTATIONEN ZUR ENTSTEHUNG DES THEMENHEFTES PERFORMATIVE SOZIALWISSENSCHAFT VORGENOMMEN. EINGEBETTET DARIN FINDEN SICH AUSFÜHRUNGEN ZUM ANLIEGEN UND ZU DEN ANSPRÜCHEN, FORSCHUNG MIT KÜNSTLERISCH-ÄSTHETISCHEN MITTELN ZU BETREIBEN UND UMZUSETZEN – WOBEI AUCH KENNTLICH GEMACHT WIRD, DASS IN DER PERFORMATIV-SOZIALWISSENSCHAFTEN PRAXIS GANZ VERSCHIEDENE REALISIERUNGSFORMATE EXISTIEREN.

Wie kam es zur Idee, das Themenheft zur performativen Sozialwissenschaft zu machen?1

Aus Interesse!
Seit fast zehn Jahren arbeite ich selbst im Feld der performativen Sozialwissenschaft (kurz PSS für Performative Social Science), wobei ich überwiegend den Strang der Arts-informed Research realisiere, also künstlerisch-ästhetische Mittel für die Übersetzung von wissenschaftlichen Ergebnissen aus qualitativen Studien nutze. Vor allem habe ich Ausstellungen kuratiert: museal, in leerstehenden Gebäuden und in der Stadtöffentlichkeit als Intervention (Mey in diesem Heft). Auch habe ich vor einigen Jahren einen sozialwissenschaftlichen Film über die in den 1920/30er Jahren an Fragen der Kindheitsforschungarbeitenden Hamburger Wissenschaftlerin Martha Muchow, die 1933 angesichts nationalsozialistischer Hetze Suizid beging, realisiert (Mey und Wallbrecht 2016); zuletzt habe ich auch autoethnografisch gearbeitet als Resultat meiner Teilnahme an dem künstlerischen Experiment »The Silent Meal« (Mey 2018a). Eigentlich habe ich diese Arbeitsweise schon viel früher verfolgt. In den späten 1980er Jahren habe ich an Experimentalfilmen, welche die klare narrative Struktur aufbrechen, mitgewirkt und zwei Videodokumentationen zu Jugendkulturen (Bellenbaum und Mey 1987; Mey und Wallbrecht 1988) im Kontext meiner ersten qualitativen Studien erstellt (die auf verschiedenen Filmfestivals gezeigt wurden, u.a. dem Videofest auf der »Berlinale ’89/ Internationales Forum«) sowie eine Fotoausstellung aus einem Projekt zu Intergenerationenbeziehungen heraus mit Fotodesign-Studierenden umgesetzt (Mey 2005). Alles zu einer Zeit, als es den Begriff »per­formative Sozialwissenschaft« eigentlich noch nicht gab, zumindest nicht in meinem »Sichtfenster«. Das wurde mir klar, als ich 2006 in Bournemouth auf einer Tagung war. Dort hatte Kip Jones, einer der wesentlichen Protagonisten der PSS, einen Slot eingebaut, in dem diverse Arbeiten der PSS vorgestellt wurden. Als ich mich mit ihm, aber auch Ken und Mary Gergen unterhielt, ist mir klar geworden (richtiger: klar gemacht worden), dass meine Arbeiten PSS-affin sind. Es hat dann aber noch ein paar Jahre gedauert, bis ich wieder – dann aber viel systematischer – über die Verbindung von Wissenschaft und Kunst nachgedacht (Mey 2018b, 2020) und sie in Dialog gebracht habe. Vor allem geht es mir um eine andere Darstellung – richtiger wohl eine andere Form der (Re-)Präsentation – von Forschungsergebnissen und damit um eine veränderte Dissemination von Forschung. Weniger arbeite ich im Sinne der Arts-based Research, bei der – ähnlich der Artistic Research, die in den Kunstwissenschaften praktiziert wird – der künstlerische Zugang viel mehr im Dienste der Exploration und Erkenntnisgenerierung steht.
Aus Überzeugung!
Wir müssen performative Sozialwissenschaft (kurz PSS für Performative Social Science) als ein relevantes Forschungsparadigma in die Wissenschaft hineintragen, trotz Widerständen oder Ignoranz und Nichtwissen. Ich erinnere mich an einen launischen Vortrag vor fünf Jahren zur Emeritierung einer Professorin, bei der ich studiert hatte und die selbst – trotz aller auch Mainstream-Orientierung – früh, also in den 1980er Jahren, begann, mit Künstler*innen zu arbeiten (Keller 1987). Mein Vortrag war von seiner Präsentation her ein bisschen »arty« angehaucht, wie einer der Zuhörenden beim anschließenden Stehempfang zu mir sagte, es war positiv gemeint. Ein anderer, ein sehr renommierter Entwicklungspsychologe, fragte mich später, wann ich mich »von der Wissenschaft verabschiedet hätte«. Das fand ich einerseits lustig, denn ich hatte da schon seit mehreren Jahren eine Professur für Entwicklungspsychologie, andererseits war ich auch »not amused« darüber, dass das, was ich präsentierte, gar nicht als Wissenschaft verstanden wurde. Das ist erst wenige Jahre her, seitdem hat sich viel gewandelt: nicht nur, dass ich oft eingeladen wurde, um über PSS zu vorzutragen, sondern meine Arbeitsweise und die konkreten Projekte vorstellen konnte. Es gibt ungeheuer viel Interesse und »Resonanz«. Viele sagen, sie wären inspiriert und würden auch überlegen, wie sie performativ arbeiten könnten, vermerken aber gleichzeitig, dass dies vielleicht noch nicht so gut möglich sei, wenn sie Karriere machen wollen. Die Trennlinien verlaufen immer noch (z.T. sogar mehr denn je) scharf zwischen den Disziplinen. Insofern erscheint PSS als ein Grenzbereich, aber auch ein Grenzen überschreitendes Feld.
Aus der Not heraus!
Performative Sozialwissenschaft (kurz PSS für Performative Social Science) ist ein Hybrid, es ist nicht Wissenschaft, es ist nicht Kunst, sondern »Dazwischen«. Bei einem meiner letzten Vorträge2 wurde ich gefragt, warum es mir so wichtig ist, mich als performativer Sozialwissenschaftler zu bezeichnen, und in der Frage wurde gleich die Antwort mitformuliert, ob es für meine Identität, richtiger mein (wissenschaftliches?) Selbstverständnis wichtig sei, eine Art »Label« zu haben. Das ist wohl so, ohne »Label« kann ich nicht »wirksam« sein – und ohne Legitimation erschwert sich auch die Akquise von Forschungsgeldern. Mittlerweile habe ich einen Künstlerpass, der mich als »Professional Artist« ausweist, obschon ich mich selbst gar nicht – bei aller Affinität zur Kunst – als ein solcher benennen würde. Vielmehr verstehe ich mich als qualitativer Forscher (der immer wieder mal performativ arbeitet), auch wenn ich hier keinen Ausweis habe, zumindest aber eine Identity Card, die mich als Hochschulangehöriger (wohl vor allem für die Mensa und Bibliothek) erkennbar macht. Es geht (mir) darum, dass viel selbstverständlicher auf PSS rekurriert – und referenziert und sie als solche rezipiert – wird, von mir aus auch in der Peripherie. Von dort aus kann sehr gut agiert werden; dies ist meine Erfahrung als qualitativer Forscher in der Psychologie, aber dies eben nur, weil »qualitative Forschung« mittlerweile ein (wenn auch umkämpfter) »Begriff« ist (Mey 2016, 2018c). Daher gilt es mehr darüber zu erfahren, wie die verschiedenen Versuche, Kunst und Wissenschaft zu verbinden, gestaltet werden und wie dabei die Position im »Dazwischen« sich entwickelt und sich entwickeln lässt.
Voiceover:3 Zum Programm der performativen Sozialwissenschaft

Performative Sozialwissenschaft (PSS) versteht sich als ein Ansatz, der sowohl für die Erforschung von Phänomenen als auch für die Darstellung von Studien künstlerisch-ästhetische Mittel nutzt und mit dem auch Kritik formuliert wird an der Art und Weise, wie Wissenschaft als Wissenschaft praktiziert wird (Winter 2010). So moniert Ian Parker (2004, 100): »The standard format of a research report is a secure framework for many writers, but it is itself a particular genre of writing that can turn into a constraint and inhibit innovative work.« Im Zuge dessen wird auch Skepsis formuliert, weil mit der Monokultur sprachlicher Darstellung einerseits eine Begrenzung auf insbesondere innerhalb des Wissenschaftssystems geforderte Klarheit (Eindeutigkeit) und Exaktheit verbunden ist und andererseits nicht alle Sinne angesprochen werden. Barone und Eisner (2012, 3) konstatieren entsprechend: »[A]rts based research is a heuristic through which we deepen and make more complex our understanding of some aspect of the world.« Daneben geht es in diesem weiten Feld der Verknüpfung von Kunst mit Wissenschaft – für das neben »performative Sozialwissenschaft«, »Arts-informed«, »Arts-based« und »Artistic Research« noch eine Fülle an Begrifflichkeiten existieren, so etwa »A/r/tography«, »Alternative Forms of Representation«, »Aesthetic Research Practice«, »Living Inquiry«, »Performative Inquiry« und vieles andere mehr (Chilton und Leavy 2014, 6) – immer auch um Intervention, es wird also auf die unmittelbarere Veränderung, zumindest auf eine veränderte Wahrnehmung gesellschaftlicher Wirklichkeit gezielt sowie mit – auch subversiven – Botschaften ein breiteres Publikum adressiert.

Mittlerweile gibt es eine Fülle an Publikationen zur performativen Sozialwissenschaft, egal ob Sammelbände (z.B. Barone und Eisner 2012; McNiff 2013), Handbücher (z.B. Knowles und Cole 2008; Leavy 2017), Monografien (z.B. Gergen und Gergen 2012; Rolling 2013) oder Zeitschriftenschwerpunktausgaben (z.B. Chamberlain et al. 2018; Jones et al. 2008). Was ist das spezielle Anliegen der vorliegenden Schwerpunktausgabe?

Der überwiegende Teil zur PSS ist auf Englisch publiziert. Ich fand es wichtig, die Perspektiven und Potenziale des Ansatzes auch auf Deutsch zu bündeln und damit eben auch jenen, die im deutschsprachigen Raum qualitative Forschung performativ gestalten, eine Plattform zu bieten. So war auch der Call for Papers (CfP) angelegt. Es geht darum, eine erhöhte Sichtbarkeit herzustellen jenseits der sich mittlerweile etablierten Nischen. Kurzum: Anliegen ist, die PSS ins Gespräch zu bringen und dabei zu kartieren, welche Arbeiten spezieller in der Psychologie – oder etwas weiter gefasst: für psychologische Fragestellungen – existieren. Mithin, einen Prozess einzuleiten, der dem Fach neue Perspektiven aufzeigt, ohne allerdings zu verkennen, dass die Disziplin durchaus schon mehr Berührungspunkte hatte, als dies angesichts der aktuellen Verfasstheit der Psychologie denkbar scheint (Gergen 2005; Gergen und Gergen 2010).

Wie verlief der Begutachtungsprozess?

Zuerst möchte ich mich bei denen bedanken, die das Peer-Review übernommen haben. Neben Andrea Birbaumer, Peter Mattes, Paul Sebastian Ruppel aus dem Herausgebendenkreis des Journals für Psychologie wurden externe Gutachten vergeben an: Jochen Becker, Franz Breuer, Thomas Burkart, Hans-Liudger Dienel, Herbert Fitzek, Carsten Heinze, Irene Leser, Andrea Ploder, Margrit Schreier, Johanna Stadlbauer und Jörg Sternagel. Zum einen ist es gar nicht so leicht, einschlägige Reviewende zu finden, denn so groß ist die »Szene« dann auch wieder nicht, zum anderen ist es wiederum nicht so einfach, Texte zum Thema PSS zu begutachten. Das hat insbesondere mit dem Topos selbst zu tun, da Kriterien guter performativer Praxis wiederum gar nicht so klar sind, insbesondere dann, wenn die Beiträge selbst performativ angelegt sind und sich teilweise der Struktur von traditionellen Texten »widersetzen«. Am Ende finden sich sechs Beiträge in dem Schwerpunkt versammelt, das entspricht dem üblichen Umfang einer Ausgabe. Auf den CfP gab es mehr Einreichungen und Anfragen, aber einige Texte sind leider nicht zustande gekommen, einige passten nicht, weil sie im Grunde gar nicht dem Profil der PSS entsprachen, andere haben schließlich das Begutachtungsverfahren nicht überstanden.

Voiceover: Gütekriterien

Eine der zentralen Diskussionslinien – gerade weil in den letzten zwei Jahrzehnten eine Vielfalt unterschiedlicher Definitionen und Vorgehensweisen in der PSS entwickelt wurden – betrifft die Frage, wie viel Wissenschaft in der PSS enthalten ist (und welche Kriterien dazu heranzuziehen sind) und wie viel Kunst sie auszeichnet, und entlang welcher evaluativen Momente dies wiederum festzustellen ist (z.B. Leavy 2015, Kap. 8). Oft fällt dann die Antwort defizitär aus, wie bei Hubert Knoblauch. Er sieht – wenngleich er den Ausgestaltungen der »Hybridform zwischen Wissenschaft und Kunst« attestiert, »reizvoll« zu sein – »doch die Gefahr, dass sie letzten Endes weder künstlerischen noch wissenschaftlichen Ansprüchen genügt« (2014, 80). Stattdessen erscheint es lohnenswert, wie von Margrit Schreier (2017) vorgetragen, die Spannungsverhältnisse zwischen performativer Sozialwissenschaft einerseits und qualitativer Forschung andererseits auszuloten. Hierzu gilt es zunächst zu reflektieren, um welche Art des generierten Wissens es sich handelt. Für Schreier zeichnet sich qualitative Forschung durch konzeptuelles und diskursives Wissen aus, während das Wissen in der performativen Sozialwissenschaft präkonzeptuell und nichtdiskursiv scheint. Entsprechend sieht Schreier, »dass qualitative Sozialforschung häufig nach Antworten auf eine Forschungsfrage sucht«, während es bei der performativen Sozialwissenschaft »wesentlich um die Generierung von Problembeschreibungen und alternativen Sichtweisen geht« (Schreier 2017, Abs. 29). Zudem hat nach Schreier bei der performativen Sozialwissenschaft die Vorläufigkeit und Revidierbarkeit von Wissen Priorität. Vor diesem Hintergrund wird die Relevanz der Rezeption deutlich: Denn in der performativen Sozialwissenschaft ist die Rezeption konstitutiv und essenziell. Wenn die Präsentation keine Reaktion provoziert (nicht »berührt«) oder auch nicht »irritiert« beziehungsweise keinen – zumindest temporären – Perspektivwechsel eröffnet, hat sie ihr Ziel verfehlt.

Was ist nun in der Schwerpunktausgabe zu finden?

Aus meiner Sicht bietet das Heft spannende Einblicke in die PSS und steht sicherlich auch für einige der sich herausbildenden Schwerpunkte, insbesondere sind dies Autoethnografie und Theater, aber auch Interventionen im öffentlichen Raum, daneben noch Ausstellungen und Film. Auch die Mischung aus Berichten über das performative Arbeiten und darin eingeflochtenen Beispielen des performativen Arbeitens eröffnen die Möglichkeit, über Perspektiven und Potenziale der PSS nachzudenken.

Beitragsübersicht

die ersten beiden beiträge widmen sich explizit dem schreiben von und literarischen annäherungen an forschungsfragen und beziehen vorgehensweisen und varianten der autoethnografie (Adams et al. 2020) ein.

REGINA DÜRIG KONFRONTIERT TEXTE VON BARTHES UND BALDWIN MIT IHREM EIGENEN MANUSKRIPT, DAS EPISODEN VON VERSCHIEDENEN ÜBERGRIFFEN BEHANDELT – DIE SICH DURCHAUS AUTOETHNOGRAFISCH LESEN LASSEN –, UM ÜBER DIESE KOMPOSITION NACHVOLLZIEHBAR ZU MACHEN UND ZU THEORETISIEREN, WIE SICH DER ERKENNTNISPROZESS IM ZUGE DES LITERARISCHEN SCHREIBENS VOLLZIEHT.

/

ELEONORA CIANI UND MARCUS FASSL STELLEN IN DEN MITTELPUNKT IHRES BEITRAGS, WELCHER DER FRAGE DES BEGEHRENS NACHGEHT, EBENFALLS EINEN AUTOETHNOGRAFISCHEN PLOT, IN DEM BEIDE (OHNE DAS KENNTLICH WIRD, WER VON IHNEN »SPRICHT«) IHRE ERFAHRUNGEN DARLEGEN UND DAMIT LESEGEWOHNHEITEN DEKONSTRUIEREN.

der darauffolgende beitrag ist ebenfalls unter dem aspekt des schreibens interessant, da hier vergleichbar dem »cogenerative dialoguing and metaloguing« (Roth und Tobin 2004) sich die Autorin und der Autor über erkenntniszugänge in den und durch die darstellenden künste(n) verständigen.

JÖRG HOLKENBRINK UND CLARA SCHLIESSER HABEN IHREN TEXT ALS DIALOG ANGELEGT, INDEM SIE GEMEINSAM IHRE ARBEIT AM ZENTRUM FÜR PERFORMANCE STUDIES DER UNIVERSITÄT BREMEN UND DEM DORT ANGESIEDELTEN »THEATER DER VERSAMMLUNG ZWISCHEN BILDUNG, WISSENSCHAFT UND KUNST« REFLEKTIEREN UND SO KENNTLICH MACHEN, WIE UND BEI WEM WISSEN GENERIERT WIRD UND WELCHE LERNPROZESSE DURCH DIE PERFORMATIVEN STRATEGIEN UND INTERVENTIONEN FÜR DIE WISSENSCHAFTEN UND GESELL­SCHAFT PROVOZIERT WERDEN KÖNNEN.

im anschluss widmen sich drei weitere beiträge diversen arbeits- und realisierungsformen der PSS. gemeinsam ist ihnen nicht nur, dass sie in projektzusammenhänge integriert sind, bei denen forschung/lehre/»third mission« (Henke, Pasternack und Schmid 2017) verbunden, sondern auf verschiedene disseminationsstrategien zurückgegriffen wird.

ROBERT JENDE STELLT DAS ECHTZEIT-ARCHITEKTURFESTIVALS »72 HOUR URBAN ACTION« VOR, BEI DEM ES DARUM GING, DURCH ARCHITEKTONISCHE INTERVENTION UND IM RAHMEN EINES PARTIZIPATIVEN FORSCHUNGSPROZESSES MIT DER LOKALEN BEVÖLKERUNG NEUE ORTE DER BEGEGNUNG ZU SCHAFFEN, UND ZEIGT AUF, WIE DIE ERGEBNISSE VIA VERSCHIEDENER KÜNSTLERISCHER PRÄSENTATIONSFORMEN SICHTBAR ZU MACHEN SIND.

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GÜNTER MEY GEHT AUF MÖGLICHKEITEN EIN, WIE ERGEBNISSE AUS QUALITATIVEN FORSCHUNGSSTUDIEN IN AUSSTELLUNGEN PRÄSENTIERT WERDEN KÖNNEN UND WIE SICH DABEI INTERVIEWDATEN ALS AUFBEREITETE DOSSIERS, ZITATENKOLLEKTIONEN, VIDEOCOLLAGEN UND MITTELS ANDERER PRÄSENTATIONSMODI UMSETZEN LASSEN.

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IM LETZTEN BEITRAG BEGRÜNDET KATHARINA MIKO-SCHEFZIG DIE ARBEITSWEISE IM SOZIALWISSENSCHAFTLICHEN FILM ALS EIGENSTÄNDIGE METHODE DER EMPIRISCHEN SOZIALWISSENSCHFT. DAZU WERDEN AUF THEORETISCHER UND PRAKTISCHER EBENE ABGRENZUNGEN ZUM DOKUMENTARFILM WIE AUCH ZUM SCHRIFTLICHEN WISSENSCHAFTSBERICHT VORGENOMMEN.


Letztlich wären viele weitere Beiträge denkbar: theoretische, in denen infolge des Performative Turn (Denzin 2001) und angesichts der methodischen und methodologischen Inspirationen aus dem Umfeld der performativen Sozialwissenschaft viel grundsätzlicher eine Auseinandersetzung mit Reflexivität, Vielstimmigkeit und Performance gesucht wird –, um davon ausgehend ein »neues« Verständnis qualitativer Forschung vorzuschlagen, das sich an den Handlungsmöglichkeiten bemisst, die sich den Forschenden und dem Publikum/Mitforschenden generell bieten. Diese Fragen sind jedoch all den Texten zu entnehmen und unterliegen ihnen als Perspektive. Mit Blick auf die aufgeworfene Frage nach der Evaluation von den Prozessen und Produkten der PSS hätte neben den einzelnen Annotationen viel systematischer die Frage von Gütekriterien behandelt werden können. Schließlich wären angesichts der Vielfalt an künstlerisch-ästhetischen Mitteln sicherlich auch Beiträge zu Projekten zu erwarten gewesen, in denen bildende Kunst sowie Musik zum Tragen kommt und Web-2.0-Umsetzungen oder Forschungsergebnisse als Comic gestaltet werden.

Und wie geht es weiter?

[Schweigen]


Voiceover: Künstlerische Forschung im Kanon der Sozialwissenschaften?

Da sich Arbeiten aus dem Feld der performativen Sozialwissenschaft derzeit überwiegend im angloamerikanischen Raum und erwartungsgemäß vor allem in den Sozialwissenschaften finden, wird sich zeigen, inwieweit sie sich auch im deutschsprachigen Raum wird durchsetzen können, in dem qualitative Forschung selbst immer noch oder zum Teil schon wieder peripher gehandelt wird (Mey und Mruck 2014, 2019). Und es wird sich zeigen, inwiefern qualitative Forschung das Potenzial, das andere Disziplinen wie zum Beispiel die Theaterwissenschaften mit Blick auf Texterschließung oder Recherchemethoden aufweisen oder Filmwissenschaften/-produktion bezüglich der Gestaltung von Narrativen bereithalten, für sich zu nutzen versteht und Anschlüsse an die – ihrerseits um Standpunkt ringende – Artistic Research (Haarmann 2019) findet. Die Zeichen für eine weitere Ausarbeitung performativer Sozialforschung stehen ganz gut, da innerhalb der qualitativen Forschung und im allgemeinen Wissenschaftsdiskurs eine Reihe kontroverser (durchaus auch kritischer) Diskussionen um die Darstellungsformen nicht zuletzt angesichts der »Krise der Repräsentation« (Berg und Fuchs 1993) virulent sind und von der Peripherie ins Zentrum rücken. Wie lange es aber dauern wird, bis sich künstlerische Forschung in das Methodenrepertoire (gleichberechtigt neben natur-, geistes- und sozialwissenschaftlichen Ansätzen) einschreiben kann, bleibt abzuwarten. – Sicher ist aber, dass es gilt, ins Gespräch zu kommen und sich ins Gespräch zu bringen und vor allem im Gespräch zu bleiben.

Günter Mey

Anmerkungen

[1]
Die Variante, auf eine Frage mehrere Antworten zu geben, ist inspiriert vom Recherche-Theaterstück Hans Schleif, bei dem der Schauspieler Matthias Neukirch verschiedene »Starts« für den Auftakt bei der Inszenierung nutzt, um seine schwierige Annäherung an sein Sujet, die Biografie seines Großvaters, der Bauforscher im Nationalsozialismus war, kenntlich zu machen. Hans Schleif entstand am Deutschen Theater Berlin unter der Regie von Julian Klein (2016).
[2]

Abbildung 1: Plakat und Einladungskarte zum Vortrag »Performative Sozialwissenschaft« (Gestaltung: Günter Mey)

[3]
Die Voiceover-Parts entstammen leicht umformuliert dem Beitrag »Qualitative Forschung performativ denken« (Mey 2020).

Literatur

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Der Autor

Günter Mey, Prof. Dr. habil., ist Professor für Entwicklungspsychologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal und Privatdozent an der kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth, zudem leitet er das Institut für Qualitative Forschung in der Internationalen Akademie Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind qualitative Methodologie, performative Sozialwissenschaft und visuelle Methoden. Weitere Informationen: http://www.humanwissenschaften.h2.de/l/~mey.

Kontakt: Prof. Dr. habil. Günter Mey, Hochschule Magdeburg-Stendal, Angewandte Humanwissenschaften, Osterburger Str. 25, D-35796 Hansestadt Stendal; E-Mail: mey@qualitative-forschung.de