FREMDELN

Lernprozesse in der performativen Forschung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst mit dem Theater der Versammlung

Jörg Holkenbrink1 & Clara Schliessler

Journal für Psychologie, 28(1), 67–85

https://doi.org/10.30820/0942-2285-2020-1-67 CC BY-NC-ND 3.0 DE www.journal-fuer-psychologie.de

Zusammenfassung

Es ist ein Anliegen der performativen Sozialforschung, Wissenschaften und Künste in produktive Verhältnisse zu bringen. Das Zentrum für Performance Studies der Universität Bremen (ZPS) entwickelt seit den 1990er Jahren regelmäßig Projekte, die eine künstlerische Orientierung in wissenschaftlichen Arbeitszusammenhängen ermöglichen. Das dem Zentrum angeschlossene Theater der Versammlung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst (TdV) gilt als eines der ersten Forschungstheater in Deutschland. In dem als Dialog angelegten Text begegnen sich die Sozialpsychologin und Performerin Clara Schliessler und Jörg Holkenbrink, Leiter des ZPS und des TdV. Sie gehen gemeinsam der Frage nach, wie und bei wem in fächerübergreifenden Projekten des ZPS Wissen generiert wird und welche Lernprozesse durch die performativen Strategien und Interventionen des TdV (nicht nur) in der Welt der Wissenschaften provoziert werden.

Schlüsselwörter: Performative Sozialforschung, Performance Studies, Forschungstheater, Wissenskulturen, spätmoderne Identität, Fremdheitserfahrung, Transformation, Postsouveränität, Vernetzung

Summary
(ILL) AT EASE. A dialogue about learning and experience in performative research
with the Theater der Versammlung (»Theatre of Assemblage«).

Performative social science seeks to bring the arts and sciences into a productive exchange. Since the 1990s the Centre for Performance Studies at Bremen University (ZPS) has regularly realized projects that implement an artistic approach in scholarly research. The centre’s very own theatre ensemble, the Theater der Versammlung (TdV, »Theatre of Assemblage«), one of Germany’s first research theatres, intervenes in university seminars, conferences and research projects throughout all the academic departments. By bringing »experimental settings«, open rehearsals and performances into these procedures, the actions of the theatre can have a profound effect on the way the topics are addressed. In this dialogue, social psychologist and performer Clara Schliessler and Jörg Holkenbrink, director of the ZPS and the TdV, discuss how knowledge and learning processes can be induced through performative strategies and interventions in academia.

Keywords: performative social science, performance studies, research theatre, cultures of knowledge, postmodern identity, experience of foreignness, transformation, post-sovereignty, networks

»Erfahrungen zu machen heißt, dabei gestört zu werden, sie nicht zu machen.«

Andreas Dörpinghaus (2009, 177)

Grenzgänge

Das Theater der Versammlung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst (TdV) wurde 1992 im Rahmen eines gleichnamigen Modellversuchs der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung erfunden, erhielt 1993 den Berninghausen-Preis für ausgezeichnete Lehre und ihre Innovation im Hochschulbereich und wirkt seit 2004 als Herzstück des Zentrums für Performance Studies (ZPS) an der Universität Bremen. Zu den Aufgaben des Zentrums zählen die inter- und transdisziplinäre Vernetzung unterschiedlicher Wissenskulturen und die entsprechende Entwicklung neuer Veranstaltungsdramaturgien und -formate. Im Mittelpunkt der Aktivitäten des TdV steht die Zusammenarbeit von Hochschulangehörigen unterschiedlicher Fachrichtungen mit professionellen Aufführungskünstler*innen verschiedener Sparten. Das Ensemble wandert durch die Fachbereiche und untersucht dort Themen und Fragestellungen, die in den Seminaren theoretisch behandelt werden, mit Mitteln und Methoden der Performance. Die entstehenden Inszenierungen werden einerseits regional, überregional und international öffentlich aufgeführt, andererseits in Arbeitszusammenhänge der Bereiche Beruf und Wirtschaft, Schule und Hochschule, Gesundheit, Politik oder Kultur eingebettet und dort diskutiert. Die gewonnenen Erfahrungen fließen wieder in universitäre Zusammenhänge zurück. Die Bremer Performance Studies bilden für diese untersuchende und intervenierende Form der Aufführungskünste aus.

Clara Schliessler: Jörg, du beschäftigst dich als Leiter des Zentrums für Performance Studies der Universität Bremen mit Wissenskulturen im Dialog und mit Wissenskulturen und ihren Aufführungen. Als Regisseur inszenierst du an den Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Kunst. In der performativen Sozialforschung wiederum wird grob zwischen drei Perspektiven unterschieden:

»Arts-Informed Research nutzt primär künstlerische Darstellungsformen, um die Ergebnisse von Forschung zu vermitteln. Artistic Research hingegen versteht sich – in den Kunstwissenschaften verankert – als Variante, bei der künstlerische Praktiken auch zur Erkundung von Phänomenen genutzt werden. Arts-Based Research nimmt – in den Sozialwissenschaften beheimatet – eine Zwischenstellung ein« (Mey 2018a, 2).

Wo siehst Du Berührungspunkte mit deiner Arbeit?

Jörg Holkenbrink: Alle genannten Forschungsweisen gehen das Wagnis ein, aus akademischen Routinen auszubrechen, indem sie eine künstlerische Orientierung in wissenschaftliche Praxis implementieren. Der Ansatz des ZPS geht davon aus, dass die Logiken beider Bereiche (Wissenschaft und Kunst) zunächst einmal klar voneinander unterschieden werden sollten, um sie dann in inter- und transdisziplinären Projekten aufeinander zu beziehen. Denn wenn es stimmt, dass im Prozess der Globalisierung, Pluralisierung und Individualisierung unterschiedliche Wissensformen auf oft ungewohnte Weise aufeinandertreffen und insbesondere das Verhältnis von wissenschaftlichem Wissen, künstlerischem Wissen und dem sogenannten Alltagswissen in immer neuen Konstellationen in Bewegung gerät, dann wird es relevant, Voraussetzungen, Möglichkeiten und Wirkungen solcher differenzbewussten Grenzüberschreitungen zu erkunden. Das ZPS und das TdV lassen sich bei dieser Aufgabe von folgenden Fragen leiten:

Diese Fragen werden ausführlich in einem Band zum 25-jährigen Jubiläum des TdV behandelt (Lagaay und Seitz 2018). Hier möchte ich zunächst einmal an den vierten Punkt, die Kompetenzentwicklung, anknüpfen. Die Performance Studies in Bremen können programmatisch ausschließlich in Kombination mit einem Studium anderer Fachrichtungen belegt werden. Auf die Einrichtung eines isolierten Masterstudiengangs wurde bewusst verzichtet. Das Studium sieht strukturell vor, dass Studierende aus unterschiedlichen Fachbereichen in fächerübergreifenden Studienprojekten zusammenkommen und ihre fachspezifischen Inhalte in die performative Arbeit des Zentrums einbringen. Umgekehrt werden den Studierenden performative Methoden vermittelt, welche sie wiederum auf ihre fachspezifischen Hintergründe anzuwenden lernen. Du, Clara, hast dieses Studium durchlaufen. Was hat dich seinerzeit bewogen, den ersten Schritt zu tun?

CS:

Ich weiß nicht, ob es wirklich so gekommen wäre, aber ich sage immer, dass das Kombinationsstudium der Performance Studies mich davon abgehalten hat, den Bachelor in Psychologie abzubrechen. Es reichte irgendwie nicht, Hirnnerven auswendig und entwicklungspädagogische Konzepte kennenzulernen. Es war desillusionierend, Lerntheorien zu studieren und gleichzeitig mit Prüfungsformen konfrontiert zu werden, die diesen Theorien genau widersprechen. Eigentlich war ich auf der Suche nach einer ästhetischen Praxis als kompensatorischem Ausgleich zur Psychologie. Dann bot sich mir in den Bremer Performance Studies überraschend die Möglichkeit, beide Bereiche produktiv in Beziehung treten zu lassen. Dort konnte ich beginnen zu lernen, das sogenannte Andere, auch in mir selbst, jeweils wertschätzend zu betrachten und nach Verbindungsmöglichkeiten von bislang getrennten Systemen zu suchen.

Performance als Feldforschung – Feldforschung als Performance

JH:

Kannst du dich noch erinnern, wie du auf das Studium der Performance Studies aufmerksam geworden bist?

CS:

Eine Inszenierung des ZPS/TdV, die ich noch vor meinem Studium erlebt habe, war Tschechow – eine Landpartie. Das Publikum schlüpft in die Rolle von teilnehmenden Beobachter*innen, die eine reale Forschungsreise zum fiktiven Tschechow-Völkchen unternehmen.

JH:

Die Performance wurde in Zusammenarbeit mit Seminaren aus der Ethnologie beziehungsweise den Transkulturellen Studien entwickelt. Wir gingen von folgendem Gedankenspiel aus: Tschechow starb 1904. Seine Figuren gelten als unsterblich. Wo aber leben sie dann?

CS:

Einem Werbeblatt konnte ich entnehmen, dass sie kurz vor der Russischen Revolution 1917 nach Paris auswandern wollten, sich dann aber auf dem Weg dahin in wechselnden Landhäusern in Norddeutschland niederließen, weil sie dort denselben Lößboden vorfanden wie in ihrer ehemaligen Heimat.

JH:

Ja, das mit der vertrauten Möglichkeit zum Gersteanbau hatte einer unserer Performer recherchiert. Wir waren glücklich, einen Grund gefunden zu haben, warum das Tschechow-Völkchen nicht weitergezogen war.

CS:

Auf der Busfahrt zum Haus erhielten wir Besucher*innen von der Reiseleitung einen Crashkurs in Feldforschung und wurden darauf vorbereitet, dass das Tschechow-Völkchen sehr abgeschottet lebt und zudem seltsam anmutende Verhaltensweisen an den Tag legen könnte. Außerdem wurden wir gebeten, in unseren Taschen nach einem Gastgeschenk zu suchen. Dazu wurde uns ein Aufgabenzettel überreicht, den ich hier noch mal zitieren möchte:

Ich fand in meiner Tasche einen alten Manschettenknopf, Perlmutt in Messing. Ursprünglich wollte ich mal was daraus basteln, aber das zweite Exemplar war mir verloren gegangen, und so hatte ich das Vorhaben vergessen. Jetzt schien mir das erhaltene Exemplar plötzlich wieder nützlich zu sein.

Nach der Ankunft begrüßte uns Gajew, der Älteste des Tschechow-Völkchens, und erzählte uns seine Fluchtgeschichte. Anschließend hatten wir über mehrere Stunden die Gelegenheit, uns frei im Haus zu bewegen. Zu Beginn herrschte in unserer forschenden Besucher*innengruppe Verunsicherung: Was darf ich tun, was sollte ich lieber lassen? Welches Verhalten wird von mir erwartet? Die Regeln, die für herkömmliche Theaterbesuche gelten, waren hier außer Kraft gesetzt. Ich musste sie mir also im Rahmen einer allgemeinen Hausordnung selbst erarbeiten, herausfinden, wie ich dieses Setting für mich nutzen konnte. Hinterher sollte sich herausstellen, dass genau von diesen Entscheidungen die Qualität meiner Begegnungen abhing. Jede Figur erschien mir rätselhaft und geheimnisvoll. Eine junge Frau schaut melancholisch aus dem Fenster in den Hof und singt, als ich mich ihr nähere, ein Wiegenlied. Ein Mann in einem seltsamen Kostüm breitet die Arme aus, wendet den Kopf zweimal schnell zur Seite und schlägt sich dann auf die Brust. In der Küche braten Figuren gemeinsam mit Besucher*innen Blinis (eine aus Osteuropa stammende Art des Eierkuchens). Nebenan untersucht ein Griesgram Pilze unter einem Mikroskop.

JH:

Den Exkursionsteilnehmer*innen bieten sich in der Tat große Entscheidungsspielräume. Einige halten sich lange in einem Lieblingszimmer auf und beobachten, wer den Raum betritt und wieder verlässt, welche Handlungen vollzogen werden, wie Figuren mit anderen Figuren und mit Besucher*innen oder wie Besucher*innen untereinander interagieren. Andere folgen einer Lieblingsfigur durch alle Räume, die diese betritt, und beobachten dort jeweils das Geschehen. Wieder andere suchen nach Gelegenheiten zu Kontaktaufnahmen, die zu weiteren Aktivitäten führen. Dazu können gemeinsames Essen und Trinken, Feiern, Trösten, das Schlichten eines Streits, Gespräche über den Ruhm oder die Natur, aber auch Zurückweisungen, ärztliche Fehldiagnosen oder einfach stilles Beieinandersitzen zählen. Allerdings verspüren nicht wenige auch den Drang, in der zur Verfügung stehenden Zeit möglichst viel erleben zu müssen, und rasen deshalb in hoher Geschwindigkeit durch das gesamte Anwesen. Wenn sie dann ahnen, dass ihnen gerade diese Strategie interessante Entwicklungsmöglichkeiten verwehrt, verlangsamen sie ihr Tempo wieder und beginnen, mit den Zeitverhältnissen zu spielen. Auch Nähe und Distanz werden zwischen allen Beteiligten immer wieder neu ausgehandelt. Mit der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte könnte man das Geschehen im Haus folgendermaßen zusammenfassen:

»Die Inszenierungsstrategien, die zur Konstruktion einer Versuchsanordnung oder als Set von Spielanweisungen entwickelt wurden, zielen immer wieder auf drei eng aufeinander bezogene Faktoren: (1) auf den Rollenwechsel zwischen Akteuren und Zuschauern, (2) auf die Bildung einer Gemeinschaft zwischen diesen und (3) auf verschiedene Modi der wechselseitigen Berührung, d.h. auf das Verhältnis von Nähe und Distanz, von Öffentlichkeit und Privatheit/Intimität, Blick und Körperkontakt. […] Dem Zuschauer werden Rollenwechsel, Gemeinschaftsbildung und Zerfall, Nähe und Distanz nicht lediglich vorgeführt, sondern er erfährt sie als Teilnehmer der Aufführung am eigenen Leib« (Fischer-Lichte 2004, 62).

CS:

Ich habe zunächst lange beobachtet, bin nur langsam durch das Haus gegangen, habe mich treiben lassen. Nach einiger Zeit verspürte ich Lust, in Kontakt zu treten. Das war risikoreich, weil mir das Verhalten der Bewohner*innen fremd und daher kaum antizipierbar erschien. Ich musste mir überlegen, wie ich das mache, denn einfach hingehen und »Hallo« sagen schien nicht zu funktionieren, das hatte ich schon bei anderen Besucher*innen bemerkt. Ich entschloss mich daher, mich erst einmal auf die Gesten, auf die Sprache und die Blicke der Figuren einzuschwingen und vor allem geduldig zu sein. So sind dann nach und nach sehr sensible Begegnungen entstanden, weil sich die Darsteller*innen in ihren Rollen ebenfalls auf einen »echten« Kontakt mit mir eingelassen haben. Zwar hatten sie ein Repertoire an einstudierten Verhaltensweisen, aber wie sie dieses eingesetzt haben, war eine individuelle Antwort auf mich und mein Verhalten. Manchmal hat es auch nicht geklappt, aber ich erinnere mich noch, wie glücklich ich war, als mir eine der drei Schwestern irgendwann ihr Buch in die Hände legte und ich ihr daraus für eine Weile vorlas. Mein Geschenk, den Manschettenknopf, habe ich übrigens Gajew überreicht, als er gerade an einer Art Erinnerungswand Fotos aufhängte, die frühere Gäste während ihres Besuches aufgenommen und ihm dann später zugeschickt hatten. Er untersuchte den Knopf interessiert, verzog aber keine Miene dabei. Erst nach einigen langen Sekunden steckte er ihn in seine Hosentasche und lächelte fast unmerklich.

JH:

Mir wurde von einer Besucherin berichtet, die bemerkte, dass Arkadina, die erfolgsverwöhnte Schauspielerin aus der Möwe, Probleme mit dem Älterwerden hat, weshalb sie ihr Faltencreme überreichte. Sie wartete damit aber so lange, bis sie sich im Garten mit ihr allein und unbeobachtet wähnte, um sie nicht zu kompromittieren.

Transformation, Wissensproduktion und Bildung

CS:

Direkt nach der Performance konnte ich das, was ich erlebt hatte, zunächst gar nicht einordnen. Heute würde ich von einem Transformationsprozess sprechen, der uns Zuschauer*innen ermöglichte, Wissen im Umgang mit dem Fremden zu erwerben, das nicht lediglich als Vorstufe zu theoriegeleiteter Reflexion, sondern als dessen gleichwertige, nicht schriftbasierte Ergänzung zu betrachten wäre. Jedenfalls fasste ich nach dieser Erfahrung den Entschluss, mich für die Performance Studies in Verbindung mit einem Psychologiestudium zu bewerben. Ich wollte die Seiten wechseln und lernen, wie man diesen differenzbewussten Grenzverkehr zwischen Wissenschaft und Kunst gestalten kann. Wo würdest du, Jörg, die Landpartie im Spektrum der Wissensproduktionen verorten?

JH:

Den Transformationsprozess, den du aus deiner Sicht als Teil des Publikums beschreibst, kennzeichnet Fischer-Lichte als Bestandteil jeder gelungenen Aufführung:

»Die Aufführung versetzt den Zuschauer in einen Zustand, der ihn seiner alltäglichen Umwelt, den in ihr geltenden Normen und Regeln entfremdet, ohne ihm immer Wege zu weisen, wie er zu einer Neuorientierung gelangen könnte. Dieser Zustand kann ebenso als lustvoll wie als quälend empfunden werden. Die Transformationen, die in ihm durchlaufen werden, sind von höchst unterschiedlicher Art. Vor allem handelt es sich um vorübergehende Transformationen, die nur für die Dauer der Aufführung oder auch nur für eine begrenzte Zeit innerhalb der Aufführung anhalten. Ihnen sind Veränderungen physiologischer, affektiver, energetischer und motorischer Körperzustände zuzurechnen, aber auch tatsächlich erreichte Statuswechsel. […] Generell wird sich nur im jeweiligen – gut bezeugten – Einzelfall entscheiden lassen, ob die Erfahrung der Destabilisierung von Selbst-, Fremd- und Weltwahrnehmung, des Verlustes gültiger Normen und Regeln tatsächlich zu einer Neuorientierung des betreffenden Subjekts, seiner Wirklichkeits- und Selbsterfahrung geführt hat und in diesem Sinne zu einer länger andauernden Transformation, wie sie für das Aufführungsgenre der Rituale gilt. Es kann ebenso der Fall eintreten, dass der Zuschauer nach dem Ende der Aufführung seine vorübergehende Destabilisierung als unsinnig und unbegründet abtut und zu seiner vorherigen Selbst-, Fremd- und Weltwahrnehmung zurückzukehren sucht oder aber, dass er auch lange Zeit nach der Aufführung im Zustand der Desorientierung verbleibt und erst sehr viel später aufgrund von Reflexionen zu einer Neuorientierung gelangt« (Fischer-Lichte 2010, 63–64).

Und der Erziehungswissenschaftler Andreas Dörpinghaus stellt einen Bezug zwischen Transformation und Bildung her, wenn er anmerkt, dass

»der Bildungsprozess unter der Zeitgestalt der Verzögerung immer auch ein Sichfremdwerden im Spielraum und Zwischenraum von Eigenem und Fremden [impliziert …] und es in Bildungsprozessen [vor allem] nicht darauf an[kommt], dass alle gleich aus ihnen herauskommen, sondern dass jeder anders herauskommt, als er hineingegangen ist« (Dörpinghaus 2009, 177).

Umgekehrt können wir aus Sicht von fächerübergreifenden Studienprojekten, in denen solche Inszenierungen als Versuchsanordnungen entwickelt werden, den Forschungsprozess schematisch in vier Phasen unterteilen:

  1. Eigenständige Recherche, Erkundung, Exkursion zu einem gemeinsam gewählten Thema.
  2. Konzeption von Aufführungsszenarien, die als Kombination von theoretischen und praktisch-ästhetischen Zugängen zur Wirklichkeit entwickelt, erprobt und geprüft werden.
  3. Forschung während der Aufführung, als neue Erfahrungen generierender Transformationsprozess und im Dialog mit dem Publikum aus unterschiedlichen Kontexten.
  4. Auswertung bezüglich zuvor formulierter sowie innerhalb der beziehungsweise durch die Aufführung neu generierter Fragestellungen vor dem Hintergrund diverser Fachkontexte und Lebenszusammenhänge.

Dabei kann sich die Forschungsrichtung bereits in den ersten beiden Phasen radikal verschieben. So entwickelte sich beispielsweise in einem Projekt zur vernetzten Generation plötzlich die Fragestellung, ob es ein mediales Weiterleben gibt und ob wir gerne so unsterblich wären wie unsere digitalen Spuren. Dies führte dann zu einer Inszenierung, die zum Erstaunen aller über viele Monate in einem alternativen Bestattungsunternehmen aufgeführt wurde (dazu ausführlich Holkenbrink und Seitz 2017).

CS:

Gab es auch bei der Landpartie eine Verschiebung der Forschungsrichtung?

JH:

Da sind wir im Großen und Ganzen unserer Frage, wie der Umgang mit Zeit, der Umgang mit (dem) Fremden, prekäre Lebenslagen und die eigene Wahrnehmungs- und Erinnerungsfähigkeit in Zusammenhang stehen, treu geblieben. Allerdings wurden und werden wir hier in der zweiten Phase, der Konzeption von Aufführungsszenarien, mit unerwarteten Herausforderungen konfrontiert, die zu neuen Lernprozessen führen. Neben der Aneignung der Methode der teilnehmenden Beobachtung mussten und müssen nämlich mit der Bremer ZwischenZeitZentrale, einer Initiative, in der Architekt*innen Leerstände zur Zwischennutzung vermitteln, immer wieder Verhandlungen geführt werden, um Aufenthaltsorte für das Tschechow-Völkchen zu sichern. Kaum fündig geworden, drohte uns jedoch die Spielgrundlage jederzeit wieder zu entgleiten. In ihrem Buch Das Drama des Prekären – Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance informiert Katharina Pewny:

»Ein Precarium bedeutet im römischen Recht die Einräumung eines Rechts, die auf Bitten erfolgt und widerrufbar ist: Sie begründet keinen Rechtsanspruch, sondern sie ist rechtlich ungesichert […]. Jemand besitzt etwas, und jemand anderer hat die Erlaubnis, diesen Besitz zwar als Wohnort oder Wohnfläche zu nutzen, kann jedoch nicht selbst souverän darüber verfügen. Der Nutznießer (oder Bittsteller) ist vom guten Willen des Besitzers abhängig. Damit verweist die genannte Dimension von prekär auf eine fundamentale Instabilität für jemand in einer eben solchen Situation: […] Der sprichwörtliche ›Boden unter den Füßen‹ kann in einer prekären Situation jederzeit wieder entzogen werden« (Pewny 2011, 25–26).

In eben einer solchen Situation finden sich die Performer*innen der Landpartie wieder. Die Spielstätten werden dem Projekt unter der Bedingung zur Verfügung gestellt, dass das Nutzungsrecht sofort entzogen werden kann, wenn »bessere« Nutzung in Aussicht steht. Fast alle Stücke von Tschechow spielen in Landhäusern, aus denen Bewohner*innen im letzten Akt auch schon mal vertrieben werden. Die prekäre Lage der Figuren und die ihrer Darsteller*innen gleichen sich einander an. Das kann auch begrüßenswerte Folgen haben: Die vorerst letzte Zufluchtsstätte des Tschechow-Völkchens war ein alter Bremer Sattelhof, der über Jahre verlassen stand und erst vom Theater der Versammlung wieder aus dem Dornröschenschlaf gerissen und liebevoll herausgeputzt wurde. Später wurden in dem Gebäude dann unbegleitete minderjährige Geflüchtete untergebracht und betreut.

CS:

Wir haben bisher Anschauungsmaterial zu den ersten drei Phasen von fächerübergreifenden Studienprojekten, in denen performativ geforscht wird, besprochen. Kannst du in Bezug auf das Tschechow-Projekt noch ein Beispiel aus der vierten Phase geben? Wie durch die Aufführung beim Publikum und bei den Performer*innen eine neue Fragestellung generiert worden ist und wie diese anschließend in einem Fachkontext ausgewertet wurde?

JH:

So, wie du deine anfängliche Unsicherheit im Tschechow-Haus beschrieben hast, berichtete auch eine andere Exkursionsteilnehmerin in einer Gesprächsrunde zwei Wochen nach ihrem Besuch davon, dass sie sich nach Überschreiten der Schwelle sogleich sehr unwohl gefühlt habe. Ihr graute regelrecht davor, was ihr alles an Unerwartetem würde zustoßen können. Am Ende ihres Aufenthalts sei sie dann allerdings enttäuscht gewesen, dass sie nicht länger bleiben durfte. Auf diese überraschende Wendung angesprochen, teilte sie mit, dass ihr von Anfang an klar gewesen sei, dass ihre anfängliche Unsicherheit einer belebenden Offenheit gegenüber allen unvorhersehbaren Entwicklungen weichen würde. Das Vertrauen in solche Umschlagmomente habe sie im Rahmen eines längeren Schüler*innenaustauschs in Frankreich gewonnen, wo sich ihr anfänglicher »Kulturschock« ebenfalls nach einiger Zeit in Neugierde auf das fremde Land aufgelöst hatte. Was die Teilnehmerin hier beschreibt, ist das, was die Erziehungswissenschaftler Thomas Ziehe und Herbert Stubenrauch »Vorgriff auf Selbstzustände« nennen:

»Der Befriedigungszustand und der Weg dorthin werden unterscheidbar. Und gerade deshalb muss nicht der ganze Weg in jedem Moment, in jeder Phase, selbst Befriedigung sein. Spannung braucht nicht mehr nur Unlust hervorzurufen, sie kann als notwendiger Bestandteil autonomer Suche nach zukünftiger Befriedigung wahrgenommen werden.

Die Verkoppelung der Selbstwahrnehmung mit den Möglichkeiten subjektiven Zeiterlebens ist nach unserem Eindruck hier also überaus wichtig. Vermutlich gibt es auch einen Zusammenhang zwischen dem situativen und dem biographischen Umgehen mit Zeit. Wie die Verknüpfung von Vergangenheit und Zukunft in einer einzelnen Situation vollzogen wird, das hinge dann durchaus damit zusammen, wie ein Individuum mit lebensgeschichtlicher Erfahrung und seiner affektiven Zukunftserwartung verfährt« (Ziehe und Stubenrauch 1982, 123).

Der Erfahrungsbericht der Teilnehmerin führte dann zur Gründung einer studentischen Arbeitsgruppe, die sich über ein Semester dem Thema »Lernen und Ambivalenz« widmete.

Fremdheitserfahrung und Postsouveränität

CS:

Eine Fremdheitserfahrung und die damit einhergehende Unsicherheit musste ich dann auch zu Beginn meiner Ausbildung in den Performance Studies aushalten. Ich konnte mein als Psychologiestudentin erworbenes Wissen einbringen, musste aber auch mit Studierenden aus ganz anderen Fachrichtungen wie der Biologie, der Informatik, der Transnationalen Literaturwissenschaft oder der Politikwissenschaft zunächst einmal um eine gemeinsame Sprache ringen. Wir alle ließen uns immer wieder neu darauf ein, wechselseitig den Umgang mit dem sogenannten »Nicht-Wissen« und »Nicht-Verstehen« zu erlernen. Wir riskierten unser sicher geglaubtes Methoden- und Fachwissen, um in der performativen Forschung ergänzend neue Zugänge zur Wirklichkeit zu finden. Die Entwicklung dieser Haltung, also das Aufs-Spiel-Setzen der eigenen Souveränität in der Interaktion mit Anderen, die Carolin Bebek in Anlehnung an Judith Butler »Postsouveränität« genannt hat (vgl. Bebek und Holkenbrink 2015), kann ich als eine zentrale Bildungserfahrung während meines Studiums einstufen. Sowohl in der qualitativen Forschung als auch als Therapeutin ist diese Haltung äußerst produktiv, da sie Fremdverstehen ermöglicht (vgl. Mey und Ruppel 2018). Erst wenn ich mich ein Stück weit von meiner Sicherheit entferne, kann ich wirklich in Kontakt treten und etwas entdecken, was ich vorher nicht sowieso schon erwartet habe.

JH:

Inzwischen arbeitest du sowohl als Performerin als auch als Sozialpsychologin …

CS:

… und versuche dabei, weiterhin Verbindungen zwischen beiden Bereichen herzustellen.

JH:

Zwei Inszenierungen des TdV, in denen du mitwirkst, laden das Publikum nicht an ungewöhnliche Orte wie Landhäuser oder Bestattungsunternehmen ein, sondern werden umgekehrt regelmäßig in innovative Panelstrukturen auf Konferenzen und in Universitätsseminare eingeladen.

CS:

In Brecht für Manager – ein Seelentraining spiele ich eine äußerst patzige, vielleicht auch widerständige Teilnehmerin an einer Fortbildung, die das sogenannte impression management als zentrale Schlüsselqualifikation in Beruf und Wirtschaft schult. Die Zuschauer*innen nehmen die Perspektive von Hospitant*innen ein, deren Blicken ich mich zusammen mit vier weiteren typisierten »Seminarteilnehmer*innen« widerwillig aussetze. Unser »Trainer« fordert uns dazu auf, literarische Liebesszenen als Verhandlungssituationen zu spielen und Verhandlungssituationen im Personalbüro als Liebesszenen. Diese Performance stellt deutliche Bezüge zu Forschungsfragen in der Arbeits- und Organisationspsychologie her oder zu Soziologieseminaren wie »Diskursanalyse: Zur Selbstrepräsentation der deutschen Mittelschichten«.

In der szenischen Versuchsanordnung Ist Hamlet gesellschaftsfähig? spiele ich eine Hamlet-Darstellerin, die Hamlet, den »großen Zögerer der Weltliteratur«, nicht proben kann, weil ihr immer dann, wenn sie sich in ihre Rolle fallen lassen will, etwas einfällt, über das sie noch dringend nachdenken, klagen oder diskutieren muss. Hier bieten sich Kooperationen mit Seminaren wie »Lernstörungen, Versagensängsten und die (Wieder-)Herstellung von Zuversicht in widersprüchlichen Kontexten« an oder mit Philosophietagungen zur Kunst des Scheiterns.

Beide Inszenierungen kombinieren theoretische, dokumentarische und literarische Texte. Im Fall der Manager sind es zum Beispiel Ratschläge aus der Harvard Business Review und Szenen von Bertolt Brecht, im Falle von Hamlet Psychiatrieprotokolle und Szenen von William Shakespeare.

JH:

Dabei scheint mir wichtig festzuhalten: Die Interventionen illustrieren hier nicht eine bereits vorhandene theoretische Einsicht. Sie bilden vielmehr eine Art Unterbrechung der gewohnten Formate, die einen kreativen Raum eröffnet und verdeutlicht, wie stark auch der Einfluss des Emotionalen in der Forschung ist. Erleben und Erkennen verbinden sich im Forschungsprozess.

CS:

Dazu fällt mir ein: Als ich die Rolle der Hamlet-Darstellerin übernahm, habe ich über Ähnlichkeiten zwischen mir und meiner Figur nachgedacht. Zu einem gewissen Grad machen Performer*innen das wohl immer. Deine Regie legte einen Vergleich aber noch näher, weil ich eine Figur probe, die proben möchte, an dieser Aufgabe aber zunächst scheitert. Außerdem bleiben unsere privaten Namen in der Performance erhalten, sodass ich zwischen Clara »Clara« und Hamlet hin- und hergleite. Irgendwann komme ich dann immer an den Punkt, wo mich mein eigenes (Nicht-)Handeln – auch wenn es streng genommen gar nicht »meins« ist – unglaublich aggressiv macht. Und dann merke ich, wie ich in diesen Momenten besonders konzentriert an der Rolle arbeite. Das ist ein ziemlich befriedigendes Gefühl, das meine Figur leider nicht erfährt. Sie bricht die Probe immer wieder ab, während ich es in dieser Situation irgendwie schaffe, jedes Mal wieder neu zu beginnen, den Satz noch mal etwas anders zu sprechen, die Geste noch einmal etwas anders auszuführen. Ich stelle fest, dass die Lähmung, die ich spiele, eine Gegenbewegung bei mir auslöst. Durch die (Selbst-)Beobachtung der Handlungsunfähigkeit meiner Figur werde ich selbst handlungsfähig. Das ist ein Teil der Transformation, über den ich – diesmal aus der Sicht der Spielerin – Auskunft geben kann.

Darüber hinaus wäre es bestimmt aufschlussreich, diese Performance in Kontexte zu bringen, in denen Handlungs(un)fähigkeit konkret oder implizit verhandelt wird. Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, die Problematik der Hamletdarstellerin mit politischen und/oder zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sich ja alle mehr oder weniger mit Fragen von Wirksamkeit und politischer Teilhabe beschäftigen müssen, zu diskutieren. Oder man bringt die Performance in Forschungszusammenhänge, die Handlungs(un)fähigkeit und auch verwandte Phänomene wie Prokrastination als Ausdruck von Ohnmachtsgefühlen vor dem Hintergrund zunehmender gesellschaftlicher Polarisierungen und Zuspitzungen oder (Leistungs-)Anforderungen betrachten.

»Alle haben Einfluss, niemand steuert das Ganze«

JH:

In einem weiteren Schritt hast du dann das Theater der Versammlung – und damit ja auch dich selbst – in eine deiner eigenen Lehrveranstaltungen eingeladen.

CS:

Über die besonderen Anforderungen, die mit einer solchen Doppelrolle verbunden sind, hat bereits ausführlich eine TdV-Kollegin, die Bildungswissenschaftlerin Carolin Bebek, nachgedacht, die ebenfalls bei Gastspielen des TdV in ihren Seminaren zwischen der Rolle der Dozentin und der Rolle der Performerin hin- und hergleitet (Bebek 2018).

In meinem Fall hatte ich mich für die KLICK-Performance C COPY A, VERSCHLÜSSELT entschieden, bei der das Publikum uns Spieler*innen mithilfe von Computerbefehlen wie »kopieren«, »wiederholen«, »einfügen« oder »verschlüsseln« per Zuruf live in Bewegung setzen kann.

JH:

Dabei greift ihr auf Bewegungsabläufe und Textbausteine von Figuren zurück, die ihr ansonsten in unterschiedlichen Stücken verkörpert.

CS:

Aus diesen Fragmenten montieren wir in mehreren Spielrunden gemeinsam mit dem Publikum und in hohem Tempo immer wieder neue Beziehungs- und Bedeutungsmuster.

JH:

KLICK ist ein gutes Beispiel für eine kontextorientierte Aufführungspraxis. Es geht um die Mensch-/Maschine-Schnittstelle, um Systemsteuerung und Komplexität. Die Mehrdeutigkeit der Performance führt dann in der Informatik, der Politik oder der Demenzforschung zu jeweils spezifischen Erfahrungen, Themen und Fragestellungen. Was hat dich motiviert, die KLICK-Performance in dein Seminar »Einführung in die Sozialpsychologie« zu integrieren?

CS:

Ein Semester lang haben wir uns mit Identitätskonstruktion, Gruppendynamik, Vorurteilen, Rollen, dem Erwerb und der Bedeutung von Sprache sowie der Beschaffenheit von sozialer Realität beschäftigt. All diese Themen betrachteten wir vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen in der Spätmoderne. Welchen Einfluss haben Individualisierungstendenzen auf die Identität? Inwieweit verschärfen sich Gruppenprozesse im Angesicht zunehmender Ungleichheit? Was bedeutet eine zunehmende Ausdifferenzierung von Lebenswelten für die Aushandlung einer gemeinsam geteilten Realität?

Meine Idee war, dass sich die gesellschaftlichen Veränderungen und ihre Auswirkungen auf sozialpsychologische Konzepte mithilfe von KLICK wunderbar untersuchen lassen, wenn man das Verhalten in der gesellschaftlichen Moderne als klassisches Rollentheater ansieht und die spätmoderne Realität mit der KLICK-Performance in ihrer postdramatischen Struktur analog setzt. Im klassischen Theater spielen die Darsteller*innen klare, vor der Aufführung entwickelte Rollen. Sie haben sie mehr oder weniger mitgestaltet und ihnen eine persönliche Note gegeben. Während der Aufführung wird daran in der Regel nicht mehr gerüttelt. Die Erwartungen und Voraussetzungen für Anerkennung sind klar: Wird die Figur möglichst gut, das heißt glaubwürdig gespielt, gibt es Applaus. So war es – natürlich vereinfacht gesagt – auch in der Moderne. Das heißt: Die Rollenanforderungen und damit auch die Quellen von Anerkennung waren relativ stabil. Das ganze Leben war zwar weniger frei bestimmbar, ein »Scheitern« der Identität dafür aber weniger wahrscheinlich.

Die KLICK-Performance bricht dieses Schema auf: Die Rollenmuster erweisen sich als fragil. Aus den Aktionsabläufen der einzelnen Figuren werden mal kleinere, mal größere Bits ausgeschnitten und wie in einem Kaleidoskop mit den Bits anderer Figuren ein ums andere Mal neu zusammengeschoben. Wir Performer*innen entscheiden blitzschnell, welche Gesten und Sätze wir aus unserem ursprünglichen Score situativ auswählen. Im günstigen Fall entstehen so im Zusammenspiel mit dem Publikum kleine Geschichten, Bedeutungen, die sich dann aber auch schnell wieder auflösen. Applaus gibt es nicht so sehr für die psychologische Einfühlung in eine Rolle, sondern für das Herstellen ästhetisch oder inhaltlich besonders ansprechender Momente, für gelungene Interaktionen zwischen den Figuren und für die Fähigkeit der Spieler*innen, in hohem Tempo konzentriert und flexibel auf neue Situationen zu reagieren.

Ich denke, dass das, was bei KLICK passiert, Anforderungen an uns als spätmoderne, westliche Subjekte widerspiegelt.

Die Prozesse der Globalisierung, Pluralisierung und Individualisierung und die damit einhergehenden Dimensionen der Freisetzung, Entzauberung und Reintegration (vgl. Beck 1986) formen die Bedingungen, unter denen eine Identität heutzutage gewonnen werden muss. Gesellschaftliche Institutionen mit ihrer Orientierungsfunktion und die damit zusammenhängenden klaren Rollenvorgaben drohen zu erodieren. Die Anzahl der Möglichkeiten, seien sie real oder imaginär, sind gestiegen, die Selbstverantwortung zu entscheiden, wer man sein und wie man leben will, damit aber auch. Das erfordert fortwährendes (Neu-)Entscheiden und Anpassungsfähigkeit. Identität und damit Anerkennung sind nicht mehr eindeutig zu erringen, sondern müssen durch anstrengende Synthese unserer vielfältigen Identitätsprojekte erarbeitet werden, damit wir uns trotzdem als kohärent erleben können (vgl. Mey 2018b). Auch in den folgenden Aussagen des Sozialpsychologen Heiner Keupp springt die Analogie zur KLICK-Performance sofort ins Auge:

»Es wäre gut, sich von einem Begriff von Kohärenz zu verabschieden, der als innere Einheit, als Harmonie oder als geschlossene Erzählung verstanden wird. Kohärenz kann für Subjekte auch eine offene Struktur haben, in der – zumindest in der Wahrnehmung anderer – Kontingenz, Diffusion im Sinne der Verweigerung von Commitment, Offenhalten von Optionen, eine idiosynkratrische Anarchie und die Verknüpfung scheinbar widersprüchlicher Fragmente sein dürfen. […] Es kommt weniger darauf an, auf Dauer angelegte Fundamente zu zementieren, sondern eine reflexive Achtsamkeit für die Erarbeitung immer wieder neuer Passungsmöglichkeiten zu entwickeln« (Keupp et al. 2008, 245).

Damit formuliert er jedoch sehr hohe Anforderungen unter gleichzeitig extrem prekären gesellschaftlichen Bedingungen. Als ein weiteres Merkmal von KLICK fällt auf, dass weder die Performer*innen noch irgendjemand im Publikum das Geschehen autonom gestalten kann. Oder, wie es in der Einladung heißt: »Alle haben Einfluss, niemand steuert das Ganze.« Auch als Dozentin verständige ich mich mit meinen Studierenden regelmäßig darüber, was es bedeutet und welche Konsequenzen wir daraus ziehen, dass wir keine autonomen Subjekte sind, die in der Lage wären, unabhängig von gesellschaftlichen Zusammenhängen »des eigenen Glückes Schmied zu sein«.

Alle genannten Aspekte legten also nahe, sich dem Thema der »Patchwork-Identität« (Keupp et al. 2008) anhand von KLICK auch praktisch-ästhetisch zu nähern, um so dem Ansatz der Multiperspektivität in der performativen Forschung und Lehre gerecht zu werden.

JH:

Wie wir bereits festgestellt haben, gibt es ein »Vorher« und ein »Nachher« der Intervention, bei der eine Verwandlung beobachtet werden kann. Inwieweit seid ihr durch »KLICK in der Sozialpsychologie« von neu auftauchenden Fragestellungen oder Erkenntnissen überrascht worden?

CS:

Ich möchte hier auf eine Beobachtung während der Performance eingehen: Im auffälligen Gegensatz zu den meisten anderen Aufführungen waren die Studierenden in meiner Lehrveranstaltung sehr zurückhaltend beim Rufen der Spielbefehle. Im weiteren Seminarverlauf haben wir über die Partizipation und die entstandene Gruppendynamik diskutiert. Viele Teilnehmer*innen erzählten, dass sie Hemmungen hatten, einzugreifen, weil sie das aus der Gruppe der ungefähr 80 Studierenden hervorgehoben hätte und sie damit nicht mehr Teil dieser Gruppe gewesen wären. Nur als die Stille zu unangenehm und die Spannung im Raum zu groß wurde, hätten sie sich verantwortlich gefühlt, die Performer*innen »nicht stehen zu lassen«, und partizipiert. Außerdem wollten sie uns nicht herumkommandieren, keine »Macht« über uns ausüben. Ein Student sagte, er habe versucht, die Inszenierungsideen der anderen Rufenden vorherzusehen und zu unterstützen oder eben sich ganz herausgehalten, um diese Einfälle nicht zu sabotieren. Er habe die anderen Seminarteilnehmer*innen respektieren wollen. Reine Spielfreude wurde als Interventionsmotiv nur vereinzelt genannt. Im Vergleich zu unseren Erfahrungen beispielsweise in der Informatik, wo das Publikum regelmäßig eine diabolische Freude daran entwickelt, das KLICK-System zum Absturz zu bringen, waren die Studierenden der Sozialpsychologie also extrem vorsichtig. So haben wir uns dann gemeinsam gefragt: Wieso wirkt es so bedrohlich, sich aus der Gesamtgruppe herauszulösen und die Stimme zu erheben? Wieso darf man sich nicht exponieren? Kann es sein, dass sich dieses Phänomen besonders in sozialen Studiengängen beobachten lässt, weil dort eine erhöhte Sensibilität erwartet wird? Als Wegweiser auf dieser Spur dienten mir dann wieder Ziehe und Stubenrauch, die Bildungsforscher, die du ja bereits zu Beginn unseres Dialogs in Zusammenhang mit dem Vorgriff auf Selbstzustände zitiert hast:

»Der Gefahr, mittels der neuen kulturellen Ansprüche bewertet, kritisiert, gekränkt und verletzt zu werden, muss begegnet werden, und zwar nach außen wie nach innen hin. Ein solcher Schutzmechanismus scheint uns in der weit verbreiteten Neigung zum Zurücknehmen des eigenen Handelns zu liegen. Wer sich nicht exponiert, kann auch nicht festgelegt werden. Wer nicht festgelegt werden kann, entgeht möglicher aggressiver Abwertung. […] So zurückgenommen und so uneindeutig das geforderte Verhalten ist, so eindeutig und aggressiv ist oft die Moralität, mit der anderes Verhalten bewertet wird. Gerade wer sich selbst sehr zurückgenommen und sehr uneindeutig verhält, kann so ein Denken und Bewerten offenbaren, das sich ständig in dichotomen Gegensätzen und Einordnungsmustern bewegt! Wer sich exponiert, wer auffällt, gilt so rasch als ›dominant‹, ›stellt sich in den Vordergrund‹, ›gibt an‹. Die Gruppe bewacht sich selbst darin, ja keinen ausscheren zu lassen« (Ziehe und Stubenrauch 1982, 102, 104).

So haben wir also während und nach der KLICK-Performance ungeplant die Studienkultur in der Psychologie performativ selbst erforscht.

Ver-rückte Positionen

JH:

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in Qualifikationsprojekten wie denen des ZPS und durch Interventionen wie denen des TdV zu einem guten Teil gelernt wird, in einer Zeit zunehmender gesellschaftlicher Zentrifugalkräfte Zusammenhänge zu gestalten, die einen Dialog unterschiedlicher Wissenskulturen ermöglichen und fördern. Zur Begegnung zwischen den Künsten und den Wissenschaften führt beispielsweise der Philosoph Wilhelm Berger – einem Schema Wolfgang Krohns (2012, 7) folgend– aus:

»Der Generalisierung, der Komplexitätsreduktion durch Abstraktion, der Wertfreiheit, der Ähnlichkeit zwischen den Objekten, der Einschränkung des Zufalls, dem Nutzen durch Verallgemeinerung und dem ästhetischen Ideal der Eleganz auf der Seite der Wissenschaften stehen die Individualisierung, die Komplexitätserhöhung, die Wertgeladenheit, die Differenz zwischen Objekten, die Bedeutung des Zufalls, der Nutzen durch das Besondere und schließlich das ästhetische Ideal der Fülle auf Seiten der Künste gegenüber. Die wissenschaftliche Perspektive mag tatsächlich Darstellungsformen und Methoden für künstlerische Tätigkeiten anbieten, umgekehrt mögen künstlerische Darstellungsformen neue wissenschaftliche Fragen aufwerfen. Die wesentlichste Produktivkraft der Begegnung zwischen den Künsten und dem Philosophieren, den Künsten und den Wissenschaften ist aber die wechselseitige Störung. Sie hat zur Voraussetzung, dass die Seiten nicht verwechselt, aber Grenzen überschritten werden« (Berger 2014, 214).

Solche differenzbewussten Grenzüberschreitungen setzen allerdings bei allen Beteiligten wiederum die Souveränität voraus, im Dialog der Wissenskulturen die eigene Souveränität aufs Spiel zu setzen. Nur wer sich im »Unverständlichen« aufzuhalten vermag, kann neue Sprachen erlernen.

»Wird diese Begegnung konkret als sozialer Vorgang betrachtet, so ver-rücken sich Positionen, wenn heterogene Akteure aufeinandertreffen. […] Der Vorgang kann nicht deduktiv […] deklariert, sondern nur induktiv, […] in und aus der Situation der Begegnung heraus, erprobt werden« (ebd., 214–15).

Hier deutet sich schließlich die Frage nach einem weiteren Entwicklungspotenzial der performativen Forschung an: inwieweit nämlich das Ver-rücken der Positionen in der differenzbewussten Grenzüberschreitung selbst ethnografisch zu erforschen ist. Einen Beitrag in diese Richtung leistet aktuell die Philosophin und Dramaturgin Anna Seitz im Rahmen ihrer Dissertation »Performative Forschung und Performanz in der Forschung«. Es handelt sich um »eine Aufführungs- und Inszenierungsanalyse akademischer Forschungs-, Lehr- und Lernweisen und ihrer gesellschaftlichen Wechselwirkungen«, in der sie unter anderem anhand einer Auswahl von Mikrostudien an verschiedenen Hochschulen darlegt, welche Transformationsprozesse sich in performativen Akten zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst nachweisen lassen. Arbeiten wie diese dürften sich als außerordentlich hilfreich erweisen, wenn es darum geht, herauszufinden, was wirklich passiert, wenn Sozialforschung eine performative Wende vollzieht.

Anmerkung

[1]
Jörg Holkenbrink, Regiesseur, Mentor und Freund, ist am 03.04.2020 nach längerer Krankheit und dennoch plötzlich verstorben.

Literatur

Bebek, Carolin. 2018. »Vom Innern und vom Äußern. Eine Bildungswissenschaftlerin und Performerin wandert zwischen den Welten«. In WISSEN FORMEN. Performative Akte zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst. Erkundungen mit dem Theater der Versammlung, hrsg. v. Anna Seitz und Alice Lagaay, 37–49. Bielefeld: transcript.

Bebek, Carolin und Jörg Holkenbrink. 2015. »DENKRÄUME IN BEWEGUNG SETZEN. Performance Studies: Möglichkeiten der Transformation in fächerübergreifenden Studienprojekten mit dem Theater der Versammlung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst«. In Teaching is touching the future. Academic Teaching within and across Disciplines, hrsg. v. Heidi Schelhowe, Melanie Schaumburg und Judith Jasper, 76-82. Bielefeld: UVW.

Beck, Ulrich. 1986. Risikogesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Berger, Wilhelm. 2014. Was ist Philosophieren? Wien: UTB.

Dörpinghaus, Andreas. 2009. »Bildung und Zeit: Über Zeitdispositive und Lebenszeitregime«. In Zeitgewinn und Selbstverlust. Folgen und Grenzen der Beschleunigung, hrsg. v. Vera King und Benigna Gerisch, 167–82. Frankfurt a.M.: Campus.

Fischer-Lichte, Erika 2004. Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Fischer-Lichte, Erika. 2010. Theaterwissenschaft. Tübingen: UTB.

Holkenbrink, Jörg und Anna Seitz. 2017. »Die subversive Kraft der Verletzlichkeit. Ein Dialog über Wissenskulturen und ihre Aufführungen«. In Wissenskulturen im Dialog. Experimentalräume zwischen Wissenschaft und Kunst, hrsg. v. Doris Ingrisch, Marion Mangelsdorf und Gerd Dressel, 97–110. Bielefeld: transcript.

Keupp, Heiner, Thomas Ahbe, Wolfgang Gmür, Renate Höfer, Beate Mitzscherlich, Wolfgang Kraus und Florian Straus. 2008. Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Krohn, Wolfgang. 2011. »Künstlerische und wissenschaftliche Forschung in transdisziplinären Projekten«. In Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft, hrsg. v. Martin Tröndle und Julia Wärmers, 1–20. Bielefeld: transcript.

Lagaay, Alice und Anna Seitz, Hrsg. 2018. WISSEN FORMEN. Performative Akte zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst. Erkundungen mit dem Theater der Versammlung. Bielefeld: transcript.

Mey, Günter. 2018a. »Performative Sozialwissenschaft und psychologische Forschung«. In Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, 2., akt. u. erw. Aufl., hrsg. v. Günter Mey und Katja Mruck. Heidelberg: Springer Reference Psychologie. https://doi.org/10.1007/978-3-658-18387-5_29-1.

Mey, Günter. 2018b. »Identität«. In Stichwörter zur Kulturpsychologie, hrsg. v. Carlos Kölbl und Anna Sieben, 189–94. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Mey, Günter und Paul Sebastian Ruppel. 2018. »Qualitative Forschung«. In Sozialpsychologie und Sozialtheorie. Bd. 1: Zugänge, hrsg. v. Oliver Decker, 205–44. Wiesbaden: Springer VS.

Pewny, Katharina. 2011. Drama des Prekären. Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance. Bielefeld: transcript.

Ziehe, Thomas und Herbert Stubenrauch. 1982. Plädoyer für ungewöhnliches Lernen. Ideen zur Jugendsituation. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Die Autor und die Autorin

Jörg Holkenbrink war Leiter des Zentrums für Performance Studies der Universität Bremen (ZPS) und künstlerischer Leiter des Theaters der Versammlung (TdV). Als Regiesseur inszenierte er vorwiegend an den Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Kunst. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehörten u.a. Performative Forschung und Lehre, Wissenskulturen im Dialog und ihre Aufführungen.

Kontakt: Zentrum für Performance Studies, Universität Bremen, FB 12, Postfach 330440, D-28334 Bremen; E-Mail: tdvart@uni-bremen.de

Clara Schliessler, M. Sc., hat an den Universitäten Bremen und Osnabrück Psychologie, interkulturelle Psychologie und Performance Studies studiert und arbeitet derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kompetenzzentrum für Rechtsextremismus und Demokratieforschung der Universität Leipzig. Vorher war sie an den Universitäten Heidelberg und Bremen in Forschung beziehungsweise Lehre tätig. Zu ihren Schwerpunkten gehören psychoanalytische Sozialpsychologie, transkulturelle Psychologie und qualitative Forschungsmethoden. Seit 2011 ist sie Performerin und Ensemblemitglied im Theater der Versammlung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst.

Kontakt: Clara Schließer, Zentrum für Performance Studies, Universität Bremen, FB 12, Postfach 330440, D-28334 Bremen; E-Mail: tdvart@uni-bremen.de