Haltung bewahren!

Ressentiment als verkörpertes, implizit-moralisches Urteil

Markus Wrbouschek, Natalie Rodax, Katharina Hametner, Sara Paloni & Nora Ruck

Journal für Psychologie, 28(2), 12–33

https://doi.org/10.30820/0942-2285-2020-2-12 CC BY-NC-ND 3.0 DE www.journal-fuer-psychologie.de

Zusammenfassung

Der Beitrag befasst sich mit der Affektgenese moralisch-welterschließender Haltungen und diskutiert diese mit Blick auf das Ressentiment. Dabei fassen wir das Ressentiment mit Rückgriff auf Scheler (1913, 49) als »dauernde psychische Einstellung«, die sich aus der Erfahrung eines (moralischen) Unrechts heraus entwickelt und sich in einer negativen Werthaltung gegenüber verschiedensten Objekten äußert. Anhand einer von uns konstruierten Fallvignette zeigen wir zunächst, dass sich eine präkognitive Einschätzung der Situation, als ein leibliches Zur-Situation-ausgerichtet-Sein, an einer anderen als der die Affekte eigentlich evozierenden Stelle entladen kann, und analysieren, wie diese Verschiebung hin zu einer moralisch-welterschließenden Haltung verstanden werden kann. Auf Basis von Schelers Theorie der Ressentimentgenese argumentieren wir anschließend, dass Ressentimentbildungen als eine spezifische Form moralisch-welterschließender Haltungen verstanden werden können. Abschließend diskutieren wir die in diesem Artikel fokussierte psychogenetische Betrachtung moralisch-welterschließender Haltungen mit Blick auf eine soziogenetische Perspektive. Rückbeziehend auf die Fallvignette greifen wir in einem Ausblick auf, wie bereits bestehende (und weiter zu entwickelnde) sozialwissenschaftliche Perspektiven und Konzepte genutzt werden können, um die psychoaffektive Analyse der geschilderten Situation in sozial- und machttheoretischer Weise zu vertiefen.

Schlüsselwörter: Ressentiment, Scheler, disclosive posture, moralische Emotionen, implizites Werturteil

Summary
Adopt(ed by) the attitude! Ressentiment as embodied, implicit moral judgment

This article addresses the affective development process of a moral attitude in and towards the world and brings this into conversation with concepts of ressentiment. We understand ressentiment in respect to Scheler’s early moral-philosophical approach. He defined it as a »lasting mental attitude« that departs from the experience of a (moral) injustice and is expressed by a negative value-attitude (Werthaltung) towards »other« objects. Drawing on a fictive case example, we will first show that a pre-cognitive assessment of the situation – that means a bodily being oriented towards the situation – can discharge at a point other than the situation that triggers the actual affect. Futhermore, we analyze how the initial affect can gradually shift to becoming a moral, world-disclosing posture. Based on Scheler’s theory of ressentiment development, we argue that ressentiment can be understood as a specific form of a morally disclosive posture. Finally, we discuss the psychological domain of this morally disclosive posture with respect to a socio-genetic perspective. Referring back to the case example and in an outlook, we address how already existing (and future) social scientific perspectives could deepen the psycho-affective analysis by systematically considering the influence of socio-political dimensions of power.

Keywords: Ressentiment, Scheler, disclosive posture, moral emotions, implicit moral judgmenet

Einleitung

In unserem Beitrag entwickeln wir die These, dass Moralisieren im Alltag in vielen Fällen nicht die Form expliziter, propositionaler (d.h. sprachlich-argumentativ verfasster) Werturteile annimmt, sondern sich in Form impliziter, verkörperter Affekthaltungen manifestiert. Solche Haltungen bestimmen wir mit Katherine Withy (2015) und Jan Slaby (2018) als moralisch-welterschließende Haltungen (disclosive postures). Die Perspektive, aus der wir uns dem Thema annähern, ist zunächst eine phänomenologische und psychogenetische. Wir möchten damit zu einer differenzierten, psychologischen Betrachtung moralischer Haltungen anregen. Zugleich möchten wir zeigen, wie der phänomenologisch-psychologische Blick auf Moralität stets aus sich selbst heraus auf soziale Verhältnisse und Machtkonstellationen verweist. Während die Auseinandersetzung mit dieser soziogenetischen Dimension moralischer Haltungen vor allem in kognitivistischen Ansätzen in der Psychologie als jenseits der Grenzen des Fachs liegend ausgeklammert wird, plädieren wir dafür, die psychogenetische und phänomenologische Beschreibung und sozial- und machttheoretische Analyse moralischer Werthaltungen miteinander ins Gespräch zu bringen.

Wir möchten dabei zunächst mit einer – für Leser*innen, die den universitären (Forschungs-)Alltag kennen, wohl nur zu vertrauten – von uns konstruierten Vignette einsteigen:


Ich sitze seit neun Uhr (also mittlerweile schon über zwei Stunden lang) in einem Netzwerkmeeting meiner Forschungsgruppe. Professorin A. berichtet von ihrem großen Erfolg, einer umfangreichen Publikation, die eben äußerst wohlwollend begutachtet wurde und wohl nach kleineren Revisionen zur Publikation angenommen wird. Zufrieden nimmt die Kollegin die Gratulationen der älteren Anwesenden entgegen, man hebt ihren Beitrag als wichtig für die Sichtbarkeit des Netzwerks hervor. Meine Gedanken schweifen ab, mich befällt leichte Übelkeit und das Gefühl, nicht frei atmen zu können. Mein Blick wandert im Raum umher und trifft den schwer zu entziffernden Blick des jüngeren Mitarbeiters A.s, der große Teile des unter A.s Namen verfassten Textes – inklusive die aufwendige Major Revision des Textes – bearbeitet hat. Mir wird bewusst, dass ich genervt und unruhig mit dem Fuß wippe. Die Sitzung dauert an, ich reagiere zunächst gereizt auf die Wortmeldungen der Kolleg*innen, werde schließlich aber von einer spannenden Begriffsdiskussion wieder ins Geschehen hineingezogen …

Später am Tag steige ich hinter einem älteren Herrn im Anzug in die – wie immer überfüllte – U-Bahn. Der Herr steuert zielstrebig auf den letzten freien Platz zu, drängt dabei die junge Schwangere beiseite, die wohl ebenfalls den Sitzplatz im Auge hatte, und setzt sich mit einem hörbaren Brummen hin; mir wird plötzlich erneut übel: »Wieder typisch, diese …« sage ich verärgert vor mich hin, ohne den Satz zu beenden.

Wir gehen davon aus, dass die meisten Leser*innen uns darin zustimmen werden, dass moralische Überlegungen für die geschilderte Situation in Anschlag gebracht werden können. Allerdings fällt auf, dass in der Schilderung der Szenen explizite Wertstellungnahmen (mit Ausnahme des halblaut hingeworfenen Satzes gegen Ende) fast vollständig fehlen. Wie wir in Abschnitt 1 argumentieren, finden moralische Wertungen in dieser und vergleichbaren Situationen dennoch statt, allerdings implizit und präreflexiv. Bennett Helm (2002) bezeichnet solche Wertungen als felt evaluation und hebt damit deren primär affektiven Charakter hervor. Dass Affekte in unserem moralischen Urteilen eine entscheidende Rolle spielen, ist in der psychologischen Emotionsforschung mittlerweile Konsens. In kognitivistisch orientierten Ansätzen werden moralische Emotionen jedoch zumeist als explizite und situative Affektantworten auf spezifische Umweltreize aufgefasst. Die von uns geschilderte Situation passt in dieses Paradigma insofern nicht, als sich eine solche spezifische, klar umrissene und emotional eindeutige Reiz-Reaktions-Konstellation hier nicht findet. So bleibt der Affekt während der Sitzung zunächst im Hintergrund und manifestiert sich in diffusen und globalen Gefühlszuständen (Genervtsein, Unruhe) sowie unspezifischen, körperlich verspürten Empfindungen und Regungen (Übelkeit, Fuß-Wippen). Erst in der zweiten – bei oberflächlicher Betrachtung mit der ersten nicht verbundenen – Situation in der U-Bahn erfolgt eine Affektreaktion (Ärger), die sich nach dem Modell der kognitiven Bewertung interpretieren ließe. Allerdings zeigt bereits die sprachliche Form, in der diese vermeintlich unmittelbare Reaktion erfolgt, dass hier mehr einfließt als das, was evident im U-Bahn-Geschehen begegnet. Wir schlagen daher im zweiten Abschnitt unseres Beitrags eine alternative Interpretation der Vignette vor, die davon ausgeht, dass es sich in dem Beispiel eben nicht um zwei unterschiedliche Situationen handelt, sondern dass zwischen den beiden Sequenzen ein psychogenetischer Zusammenhang besteht. In diesem Sinn verstehen wir die vordergründig diffusen und unspezifischen Affektregungen als Teil einer sich über die beiden Sequenzen hinweg zunehmend herauskristallisierenden Affekthaltung. Gerade das, was die beiden Situationen affektdynamisch miteinander verbindet, gibt uns dann den entscheidenden Hinweis für unsere eingangs formulierte These von der moralisch-welterschließenden Haltung.

In Abschnitt 3 konkretisieren wir das Konzept der moralisch-welterschließenden Haltung aus einer anderen Perspektive. Während die Analyse unseres Beispiels uns eine Miniatur der Affektgenese moralisch-welterschließender Haltungen (im Übergang zwischen zwei zeitlich nah beisammen liegenden Szenen) zeigt, finden wir im Ressentiment eine umfassende, über lange Zeiträume und eingebettet in ein komplexes psychosoziales Geschehen entstehende, Affektkonstellation. Im Rückgriff auf Schelers (1913) Theorie der Ressentimentgenese geht es uns einerseits darum zu zeigen, dass Ressentimentbildungen als eine spezifische Form moralisch-welterschließender Haltungen verstanden werden können, und andererseits, wie in der prozesshaften Entstehung dieser psycho-affektiven Haltung zugleich komplexe soziogenetische Faktoren wirksam werden. Ressentiment fasst Scheler zunächst als eine »dauernde psychische Einstellung«, die sich aus der Erfahrung eines (moralischen) Unrechts heraus entwickelt und in einer negativen Werthaltung gegenüber verschiedensten Objekten äußert (Scheler 1913, 49). Was für Ressentimentbildungen entscheidend ist, ist nach Scheler nicht nur die je eigene moralische und Affektqualität der Ressentiment auslösenden Situation(en), sondern die spezifische Machtkonfiguration, in die das Geschehen eingebettet ist. Daher fassen wir das Ressentiment im Versuch einer knappen Arbeitsdefinition als »complex affective disposition characterised by a ›recollection of past bad treatments‹ (Aeschbach 2017, 41) that leads to a nebulous process of ›self-poisoning‹ (Scheler 1994), and ultimately manifests in an overt, hostile holding a grudge against persons, groups or objects« (Rodax et al. 2020, 2).

Die Auseinandersetzung mit Scheler wird uns am Ende des dritten Abschnitts dazu veranlassen, die in diesem Artikel fokussierte psychogenetische Betrachtung moralisch-welterschließender Haltungen um eine soziogenetische Perspektive zu erweitern. Wir können im gegebenen Rahmen diese zweite Perspektive nicht im Detail entfalten, möchten aber im abschließenden Fazit und Ausblick unser Fallbeispiel noch einmal aufgreifen, um anzudeuten, wie bereits bestehende (und weiter zu entwickelnde) sozialwissenschaftliche Perspektiven und Konzepte genutzt werden können, um die psychoaffektive Analyse der geschilderten Situation in sozial- und machttheoretischer Weise zu vertiefen.

Zur Frage der Moralität in Werterfahrungen und Wertstandards

Wir befragen die in der Einleitung geschilderte Situation also zunächst darauf hin, wie die in ihr manifestierte, unspezifische Affektreaktion phänomenologisch charakterisiert werden kann, um darauf aufbauend zu klären, wie der phänomenale Charakter der Situation mit der Frage der Moralität in Verbindung steht. In unserer phänomenologischen Analyse beziehen wir uns auf Bennett Helms Konzept präreflexiver, verkörperter Wertgefühle – felt evaluations (Helm 2002). Grundsätzlich betrachtet Helm (2002) Emotionen in ähnlicher Weise wie die kognitivistisch-psychologische Emotionsforschung (z.B. Oatley und Johnson-Laird 2014; Scherer 1999), das heißt, er geht davon aus, dass Emotionen intentional auf Situationen und Objekte in unserer Erfahrungswelt gerichtet sind und dass sie diese in ihrem Wertcharakter erschließen. Anders als viele kognitivistische Ansätze, die Affekturteile prinzipiell nach dem Muster expliziter, sprachlich-propositional verfasster Urteile konzeptualisieren – etwa im Sinne der Aussage »Ich fürchte dieses spitzzahnige, krallenbewährte Felltier vor mir.« –, sieht er die Bewertung zunächst in verkörperten und präreflexiven Wertgefühlen fundiert. Die subjektive Wertung sieht Helm insofern bereits in einer verspürten (und oft impliziten) Orientierung auf ein Objekt oder eine Situation präreflexiv vollzogen, einer reflexiven Stellungnahme bedarf es dazu nicht, beziehungsweise tritt eine solche lediglich ausnahmsweise zum affektiven Urteil hinzu. Um den intentionalen Bezug solcher Wertgefühle auf den von ihnen erschlossenen Gegenstand (sei dieser eine mehr oder weniger komplexe Situation wie in unserem Beispiel oder ein umgrenztes Objekt) klar bestimmen zu können, differenziert Helm zwischen drei Momenten, die er als (1) Ziel, (2) formales Objekt und (3) Fokus aufschlüsselt. So beschreibt Helm (2002) im (1) Ziel (target) einer Emotion den konkreten, empirischen Sachverhalt oder Gegenstand, um den es in der Emotion geht. In unserem Beispiel wäre das der von der Person erlebte Ablauf der Netzwerksitzung und hier insbesondere Professorin A.s Leistungsschau. Für Helm ist nun entscheidend, dass sich der Gegenstandsbezug der Emotion nicht in der perzeptiven Präsentation des empirischen Sachverhalts erschöpft. Vielmehr muss nach Helm (2) das formale Objekt, das heißt die spezifische Wertdimension, um die es in dem fraglichen Sachverhalt geht, eigens erfasst sein. In unserem Beispiel kämen etwa Fairness, bezogen auf die Sichtbarkeit der in die präsentierte Publikation einfließenden Beiträge, aber auch Verrat, hinsichtlich der Aneignung studentischer Arbeit durch A., als formale Objekte infrage. Worum es Helm (2002, 15) hier geht, ist zu zeigen, dass erst der Bezug auf eine spezifische Wertdimension die evidente Erfahrung des Emotionsziels dieses affektiv »relevant« macht. Während der wahrnehmbare Ereignisverlauf im Sinne des Emotionsziels (target) mehrere (oder gar keine) Affektreaktionen nahelegen könnte, ermöglicht es die formale Bestimmung, die spezifische Wertqualität der Situation zu erfassen. Erst dadurch wird es auch möglich, zwischen verschiedenen, affektiv-evaluativen Bezugnahmen auf dieselbe Situation zu differenzieren. In phänomenologischer Perspektive wird damit auch die Subjekthaftigkeit intentionalen Orientiertseins deutlich, insofern der Wertcharakter einer Situation eben nicht evident gegeben ist, sondern auf Basis einer evaluativen Bezugnahme auf spezifische Aspekte der Situation erfasst wird. Nach Helm ist allerdings auch das Erfassen eines Wertcharakters noch nicht ausreichend, um den intentionalen Bezug eines Subjekts auf das Objekt der felt evaluation zu beschreiben. Gerade in unserer Situation wird klar, dass die Identifikation des formalen Objekts, um das es hier geht, nicht von der Frage zu lösen ist, wie denn die erfahrende Person selbst relational zu der Szene steht. Mit dem (3) Fokus einer emotionalen Wertung beschreibt Helm die spezifische Bedeutung (»import«, Helm 2002, 15), die die Situation insgesamt (Ziel + formales Objekt) bezogen auf die lebensweltlichen Relevanzsetzungen der Erfahrenden besitzt. In unserem Fallbeispiel würde dann relevant, ob die Situation aus der Position eines Professors B. wahrgenommen wird, der sich in seiner Lehr- und Berufspraxis stark an der Nachwuchsförderung orientiert und für dessen professionelle Relevanzstruktur das formale Objekt eben nicht irgendein Verrat beziehungsweise eine Aneignung per se ist, sondern ein Fürsorglichkeitsverrat, der Bedeutung hinsichtlich des für B. so relevanten Ausbildungs- und Förderungsauftrags eines Professors gewinnt. Die Bedeutung, die die Situation relativ zu der Position B.s hat, und damit die gesamte intentionale Struktur der Situation würde sich grundsätzlich verändern, wenn B. wissenschaftliche Institutionen als kompetitive Orte des Wettbewerbs verstehen würde, an denen Förderung keine Rolle spielt. Noch einmal grundlegender – und hier greifen wir bereits auf die in der Einleitung angesprochene soziogenetische Betrachtung vor – ist festzuhalten, dass der Fokus nicht mehr nur eine Sache der personalen Wertorientierung (Nachwuchsförderung vs. Konkurrenzbehauptung), sondern zugleich eine Frage sozialer Strukturen und Machtpositionen ist. Man mag in diesem Zusammenhang etwa darüber nachdenken, wie die Situation aus der Position einer studentischen Mitarbeiterin erschlossen werden könnte. Aber auch für die Relation zwischen den beiden akademisch Arrivierten ist entscheidend, dass zwischen der Professorin und dem Professor ein Geschlechterverhältnis besteht, das die jeweilige Affektlagerung wesentlich mitbestimmen mag. Wir kommen darauf später ausführlicher zu sprechen.

Für die psychologische und phänomenologische Analyse ist jedenfalls von zentraler Bedeutung, dass keines der drei Momente allein ausreichend für das Zustandekommen der Emotion ist. Vielmehr ist es das Wertgefühl selbst, in dem die Erfahrungssituation (Ziel) mit einer formalen und lebensweltlichen Dimension »aufgeladen« wird. In Helms (2002, 17) Worten: »[A] feeling commits one to the import of both its target and its focus.« Die Emotion impliziert in diesem Sinn eine Relation, die ein lebensweltlich situiertes Subjekt in seinem Verhältnis zu einem Erfahrungsgegebenen orientiert. Es sei an dieser Stelle noch einmal betont, dass mit Helm davon auszugehen ist, dass die so konstituierte Wertrelation (und damit auch die analytisch zu differenzierenden Intentionalitätsmomente) eben nicht im Sinne reflexiver Stellungnahmen, sondern als implizite Affektorientierung, mithin als präreflexive, leiblich verspürte Gefühlsqualität erfahren wird.

Weist die Rede von formalem Objekt und Wertgefühl bereits darauf hin, dass Helms Ansatz für die Analyse moralisch relevanter Situationen genutzt werden kann, so bedarf es einer genaueren Betrachtung, um das Spezifische einer moralischen felt evaluation herauszuarbeiten. Um diesen Bezug herzustellen, greifen wir zunächst kurz auf die psychologische Moralforschung zurück. Elliott Turiel (1983) unterschied grundsätzlich zwischen moralischen und konventionellen Urteilen, wobei eine Situationsbewertung fünf Merkmale aufweisen müsse, um als eine moralische charakterisierbar zu sein. Das erste und für unseren Zusammenhang entscheidende Kriterium betrifft den spezifischen Wertinhalt, auf den hin die Situation in Betracht gezogen wird. Was Turiel als Inhalt bezeichnete, lässt sich mit Helm am ehesten als formales Objekt charakterisieren. Turiel identifizierte zwei Arten von Wertinhalten, die als spezifisch moralisch anzusehen seien: Schaden und Ungerechtigkeit. Diese Charakterisierung wurde in der Folge heftig debattiert und von manchen als reduktionistisch zurückgewiesen (vgl. Berniũnas 2014; Machery 2012). In dieser Richtung argumentiert etwa Jonathan Haidt (2003) in seiner Moral-Foundations-Theorie. Haidt und seine Mitarbeiter*innen attestierten Turiel (1983), er würde der Vielfalt von im Alltag zur Geltung kommenden moralischen Wertgesichtspunkten nicht gerecht. Mit der Moral-Foundations-Theorie schlugen sie einen pluralistischen Ansatz moralischer Wertdimensionen vor, der zwischen fünf Wertdomänen differenzierte. Diese wurden als (1) Fürsorglichkeit/Schaden, (2) Fairness/Betrug, (3) Loyalität/Verrat, (4) Autorität/Subversion und (5) Heiligkeit/Entwürdigung (vgl. Graham et al. 2011) benannt und sollen eine differenzierte Erfassung von moralischen Wertungen ermöglichen (mit dem MFQ [Moral Foundations Questionnaire] wurde etwa ein Instrument zur Messung des Konstrukts vorgelegt). Wir wollen in diesem Zusammenhang nicht näher auf diese Debatte eingehen, halten aber fest, dass in der psychologischen Forschung zunächst die spezifische Wertdomäne – mit Helm gesprochen das formale Objekt der Wertung – über die moralische Relevanz einer Erfahrungssituation entscheidet.

Haidt geht über diese primär formale Bestimmung jedoch hinaus, indem er festhält, dass von Moralität im engeren Sinn nur zu sprechen sei, wenn es um Belange »beyond the direct interests of the self« (Haidt 2003, 854) gehe. Damit spricht Haidt die Relation zwischen der Bewertungssituation und der wertend-erfahrenden Akteur*in an, also das, was Helm als Fokus oder Import bezeichnet. Haidt argumentiert allerdings selbst nicht phänomenologisch und setzt sich auch mit der komplexen Struktur des intentionalen Bezugs moralischer Emotionen auf das von ihnen werthaft Erfasste nicht näher auseinander. Er legt jedoch immerhin nahe, dass zwischen moralischen und bloß konventionellen beziehungsweise individuellen Affekten und Gefühlen ein kontinuierlicher und keineswegs streng kategorialer Unterschied bestehe.

Beziehen wir nun zum Schluss dieser Auseinandersetzung die Ergebnisse auf unsere eingangs präsentierte Fallvignette, so lässt sich mit Blick auf Helms (2002) felt evaluations festhalten, dass die verschiedenen Affektzustände, die die Akteurin beschreibt, als präreflexive, verleiblichte Wertungen des Erlebten bestimmt werden können. Deren moralische Qualität lässt sich dann über die Analyse des formalen Objekts, um dessentwillen die Situation Bedeutung erlangt, erfassen. Allerdings – und das führt uns zum nächsten Schritt in unserer Auseinandersetzung – bleibt das formale Objekt in der Situation implizit. Das hat zum einen mit der präreflexiven Struktur von Wertgefühlen selbst zu tun, aber auch damit, dass das formale Objekt nur relational, das heißt vor dem Hintergrund des Fokus beziehungsweise Imports der Situation bestimmbar wird. Diesen Aspekt greifen wir im Zusammenhang mit der sozialtheoretischen Betrachtung der Situation wieder auf.

Moralische Gefühle als welterschließende Haltung

Bevor wir auf die sozialtheoretische Rückbindung dieser psychologischen Phänomene zu sprechen kommen, wollen wir noch einmal herausstellen, was wir bis jetzt noch nicht an unserem Fallbeispiel erklären konnten. Sowohl Helms (2002) Perspektive als auch die psychologischen Theorien der moralischen Emotion liefern keine Erklärung dafür, wie Situation eins (Netzwerktreffen in der Universität) und Situation zwei (U-Bahn-Fahrt nach Hause) zusammenhängen. Die bisher vorgestellten Theorien gehen weitgehend davon aus, dass die (moralische) Bewertung einer Situation unmittelbar in oder auf eine Situation folgend auftritt und mit einer entsprechenden motivationalen und Handlungskomponente verbunden ist. Die Besonderheit unseres Beispiels liegt aber gerade darin, dass in Situation eins – beim Netzwerktreffen in der Universität – der Affekt implizit schwelt und nicht explizit ausagiert wird. Wie im Beispiel beschrieben, empfindet Professor B. eine Art latentes Unwohlsein, das sich körperlich ausdrückt (Übelkeit, Fuß-Wippen). Dies ließe sich mit Helm zwar als felt evaluation beschreiben, allerdings wäre damit noch nicht geklärt, wie es zu der von uns als These formulierten affektgenetischen Verklammerung zwischen dieser und der folgenden U-Bahn-Szene kommt. Zu einem manifesten Affektausdruck kommt es dort, als er in die U-Bahn steigt und seinem Ärger über den Akt des Vor-sich-hin-Schimpfens explizit Luft macht. Zugleich zeigt sich sowohl in der leiblichen Empfindung (erneute Übelkeit) als auch auf der Ebene des versprachlichten Affektausdrucks (»Schon wieder …«), dass hier etwas wirkt, das nicht allein aus der Evidenz des in der U-Bahn Vorgefallenen herstammt. Die Reaktion scheint hier also nicht in einer Situation zu bleiben, sondern von einer zur nächsten überzuspringen; so könnte es etwa sein, dass die Person das moralisch Empörende in der zweiten Sequenz zugunsten eines anderen concerns, etwa eines stressigen Von-Ort A-nach-Ort B-Hetzens, »übersieht«. Im Folgenden werden wir uns genauer mit der Frage beschäftigen, wie es dazu kommen kann, dass die Person doch gerade auf diese moralische Haltung hin orientiert ist, das heißt, wie sich die Affektdynamik entwickelt, die letztlich eine Verschiebung der moralischen Haltung über verschiedene Kontexte hinweg bewegt.

Zunächst gehen wir davon aus, dass Menschen in ihrem Bestreben, sich in der Welt (nicht nur im moralischen Sinn) zu orientieren, wesentlich durch Affekte geleitet werden (Haidt 2003; Prinz und Nichols 2010). Auch hier ist unsere Perspektive durch phänomenologische Ansätze informiert, denen zufolge sich die Alltagswelt als eine immer schon durch bestimmte Affektqualitäten strukturierte darstellt: »[W]e do not live in a merely physical world; the experienced space around us is always charged with affective qualities (Fuchs 2013, 612f.). Neuere phänomenologische Forschungen (für einen kurzen Überblick siehe Fuchs 2013) unterscheiden dabei zwischen verschiedenen Ebenen affektiver Erfahrung. Vor diesem Hintergrund nutzen wir Katherine Withys (2015) Ansatz im Folgenden, um eine spezifische Weise des alltagsweltlichen Affiziertwerdens näher in den Blick zu nehmen. Konkret geht es um überdauernde, affektive Wertorientierungen, die Withy als welterschließende Haltung (disclosive posture) bestimmt. Dabei geht sie von Heideggers Existenzialanalyse der Gestimmtheit aus:

»They [disclosive postures] are ways of finding ourselves situated, where this means both that they are ways of finding ourselves and our situation (i.e. that they are findingly disclosive) and that they are ways of being situated in the world (i.e. postures)« (Withy 2015, 23).

Erschließen (disclosing) hat also zwei Aspekte, den des passiv-rezeptiven Sich-Vorfindens in der Welt sowie den des aktiv-motivationalen Orientiertseins zu und in der auf diese Weise vorgefundenen Welt. Das affektive Erfassen der (eigenen) innerweltlichen Situation im Sinne der welterschließenden Haltung lässt sich zwar – wenngleich nicht immer und umstandslos – in eine reflexive Thematisierung (etwa im Sinne einer propositional verfassten Beschreibung der eigenen Situation) überführen, setzt diese aber nicht voraus. Affektivität ist hier das Primäre, Reflexivität das Sekundäre und Nachträgliche. Wie insbesondere Slaby (2018) hervorhebt, wird in der Haltung eine (Ein-)Stellung zur Welt zunächst intuitiv, präreflexiv vollzogen. Erst in weiterer Folge können in der Affekthaltung vorbereitete Wertstellungnahmen und entsprechende Handlungsmotive zum Ausdruck kommen (und reflexiv artikuliert werden). Wir können welterschließende Haltungen demgemäß (1) als ganzheitliche, verleiblichte und präreflexive Affekthaltungen bestimmen, die (2) eine passiv-rezeptive und eine aktiv-motivationale Komponente aufweisen und (3) psychologisch und habituell die Grundlage für spezifische Orientierungsleistungen bilden. Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass welterschließende Haltungen in Withys Sinne nicht direkt auf konkrete, singuläre Situationen oder Objekte bezogen sind, sondern als eine generalisierte Orientierung fungieren, deren Verhältnis zu konkreten Situationen oder Anlässen (zu denen auch Personen oder Typen von Personen gehören können) wir im Folgenden noch näher zu untersuchen haben.1 Was hier also zentral wird, ist die Tatsache, dass welterschließende Affekthaltungen insgesamt zur Generalisierung und Verschiebung auf andere Objekte und Situationen tendieren.

Diese Perspektive schärft den Blick dafür, dass die moralische Affekthaltung, die in unserem Beispiel zunächst als latentes Unwohlsein diffus erfahren wird und keinen direkten (reflexiv-kognitiv repräsentierten) Ausdruck bekommt, weiter wirken kann und insofern ein affektdynamischer Konnex zwischen den beiden geschilderten Situationen möglich wird. Die entscheidende Frage ist dann, worin der affektive Zusammenhang der beiden Szenen gründen könnte. Offenbar sind es nicht die äußeren, kontextuellen Merkmale der Situationen, die sich voneinander stark unterscheiden. Es lässt sich aber – betrachtet man etwa das Geschehen aus der Perspektive des oben eingeführten Professors B. – eine formale Ähnlichkeit im Sinne der angesprochenen Vernachlässigung von Fürsorge gegenüber generational Nachfolgenden ausmachen: Der ältere Herr beansprucht den Sitzplatz, der eigentlich einer jüngeren Person zustünde. Der spezifisch an den akademischen Kontext gebundene Fokus auf Nachwuchsförderung (den wir oben als möglichen Fokus B.s bestimmt hatten) ist dabei in eine weitere Orientierung im Sinne eines Generationenverhältnisses übergeführt. Neben dieser Generalisierung kommt aber noch etwas zum Tragen, das sich in dem halblaut gemurmelten »wieder typisch« am Ende der Vignette andeutet. Diese Dimension der situationsübergreifenden Affektverschiebung wird im Folgenden stärker ins Zentrum rücken, wenn wir uns im Rückgriff auf Schelers (1913) Ressentimentheorie mit dem Prozess der Genese solcher Haltungen näher befassen.

Werthaltungen und ihre dynamische Genese am Beispiel des Ressentiments

Um unsere Auseinandersetzung mit moralisch welterschließenden Haltungen am Beispiel von Ressentiments weiter zu konkretisieren, müssen wir zunächst das Spezifische der Ressentimenthaltung mit Blick auf die Manifestation dieser Haltung erläutern. Wir gehen dabei von Schelers (1913) viel rezipierter Beschreibung des Ressentiments als »seelische Selbstvergiftung« (Scheler 1913, 48f.) aus. Dabei charakterisiert Scheler die Haltung des Ressentiments in affektiver Hinsicht nicht als eine einheitliche Gefühlslage. Vielmehr spielen im Ressentiment eine Reihe von »Gemütsbewegungen« und Affekten zusammen. Scheler nennt »Rachegefühl und -impuls, Haß, Bosheit, Neid, Scheelsucht2, Hämischkeit« (Scheler 1913, 49). Was all diese Affekte verbindet, ist nach Scheler eine gemeinsame, motivationale Orientierung auf Wertminderung, die vom Ressentimentgeladenen an immer neuen – und zum Teil recht verschiedenen – Objekten und Anlässen zum Ausdruck gebracht werde. Dabei richtet sich die Ressentimenthaltung als eine generalisierte, passiv-aggressive Geringschätzigkeit und »innere ›Giftigkeit‹« (Scheler 1913, 55) gegen alles, was im Sinne bestimmter Wertgesichtspunkte als vorrangig präsentiert wird. Dies führt Scheler weiterfolgend zu der These, das Ressentiment sei »stets die Haltung des schwächeren Teils«3 (Scheler 1913, 57), das sich an der Vorrangstellung der Stärkeren abarbeite. Aus unserer Perspektive ist die Annahme objektiver Werthierarchien ebenso zurückzuweisen wie die darauf aufbauende Typologie der moralischen Vorzüge. Beides ontologisiert und entkontextualisiert historisch gewordene und gesellschaftlich produzierte Machtverhältnisse und naturalisiert damit soziale Ungleichheit. Dennoch lassen sich aus Schelers Beschreibung des Ressentimentausdrucks zwei wesentliche Hinweise destillieren, die uns an den Ursprung der Ressentimenthaltung führen: Der eine Hinweis betrifft die merkwürdig gehemmte Abfuhr des Ressentimentaffekts, die, affektdynamisch ausgedrückt, auf einen Widerstand hinweist, der die offene Affektabfuhr verhindert; der andere betrifft die Übertragbarkeit der »Tendenz zur Wertdetraktation« (Scheler 1913, 56) auf stets neue Situationen und Objekte. Das legt zumindest den Verdacht nahe, dass unter diesen neuen Objekten auch »falsche Objekte« auftauchen könnten, dass also die Giftigkeit der Ressentimentgeladenen auch Personen oder Gruppen treffen könnte, die diesen negativen Affekt nicht eigentlich »verdienen«. Dies wird uns später wieder zurück zum Moralisieren bringen.

Verfolgt man den Prozess der Ressentimentbildung zurück an seinen Ursprung, so finden wir bei Scheler eine sehr spezifische Erfahrungskonstellation. Ressentimentbildung wurzelt ihm zufolge in Wertdiskrepanzen, das heißt Diskrepanzen zwischen persönlichen Wertansprüchen und faktischen (d.h. gesellschaftlich, politisch, kulturell oder ökonomisch durchgesetzten) Wertverhältnissen. Was hier für Scheler zentral scheint, ist die gleichzeitige Erfahrung einer Wertverkehrung und einer Kränkung, die, wie Aeschbach (2017, 74ff.) argumentiert, als Verletzung der Selbstachtung verstanden werden kann. Was dem eigenen Wertgefühl entspräche, steht in offensichtlichem Widerspruch zu dem, was durch die faktisch verwirklichten Machtkonstellationen als wertvoll gesetzt wird. Bei Scheler bleibt dabei zunächst offen, ob eine solche Kränkung nur in Situationen ausgelöst wird, in denen die erfahrende Person persönlich betroffen ist, oder auch in solchen, in denen die wahrgenommene Wertdiskrepanz aus der Distanz beobachtet wird. Unsere These an dieser Stelle ist, dass für die angesprochene Kränkung die Wertverkehrung vorrangig zu betrachten sei. Scheler selbst schreibt zwar vom Schlag, der mich trifft, er macht aber umgehend klar, dass für die spezifische Dynamik der Ressentimentbildung nicht das factum brutum des Schlags, sondern vielmehr die Frage entscheidend sei, ob der Schlag aus der Perspektive der Getroffenen zu Recht oder ungerechtfertigt erfolgte. Damit ist selbstredend nicht behauptet, der Schlag wäre in seiner rohen Gewaltförmigkeit zu vernachlässigen, oder könnte für sich genommen keine Affektreaktion hervorrufen. Das Argument besagt aber, dass sich die spezifische Dynamik der Ressentimentbildung nicht ereignen könnte, wenn die Verletzung nicht in ein Wertverhältnis eingebettet wäre, die dessen subjektiv berechtigte Verurteilung verunmöglichte.

Stenner hat in einem ähnlichen Zusammenhang vorgeschlagen, zwischen Werterfahrungen und Wertstandards zu unterscheiden (Stenner 2016). Werterfahrungen stellen nach Stenner situativ entstehende, affektive Orientierungen vor dem Hintergrund personaler Relevanzsetzungen dar. Wertstandards oder Normen kämen durch Generalisierung und Abstraktion über mehrere affektiv relevante Situationen zustande. Zwischen Wertstandards und Werterfahrungen bestehe dabei grundsätzlich ein Verhältnis der wechselseitigen Ko-Konstitution – Wertstandards können nur dauerhaft relevant bleiben, insofern Akteur*innen sie immer wieder mit eigenen Werterfahrungen in Verbindung bringen und so als alltagspraktisch relevant erleben. Zugleich ermöglichen Wertstandards aber auch neue Werterfahrungen, indem sie als Schemata zur Einordnung zukünftiger Erfahrungen herangezogen werden können. Das Wechselverhältnis zwischen Werterfahrung und Wertstandard ist bei Stenner unmittelbar an soziale beziehungsweise gesellschaftliche Prozesse der Institutionalisierung von Werten (im Sinne gesellschaftlich-moralischer Normen) gebunden. Darin ist für Stenner einerseits das Potenzial zur Kollektivierung von Werterfahrungen angelegt, andererseits aber kann es auch zur Herausbildung von parodischen Standards, wie Stenner es nennt, kommen: »Instead of a generalization of value, all that is generalized is a ritualistic imitation of the standard, a hollowed out parody of value that, under certain circumstances, can become an obstacle to the realization of actual value« (Stenner 2016, 148).

Wir möchten an dieser Stelle noch einmal unser Beispiel aufgreifen. Die Situation lässt sich im Sinne Schelers als eine Wertverkehrung rekonstruieren – Professorin A. stellt etwas als ihre Leistung aus, das (zumindest zu einem großen Teil) andere getan haben, und verwehrt der Mitarbeiterin die verdiente Anerkennung. Zugleich zeigt der reibungslose Fortgang der Sitzung, dass diese Verkehrung sanktionslos bleibt. Der situative Kontext stabilisiert und bestätigt also den moralischen Fauxpas der Professorin. Von einem parodischen Standard ließe sich in dieser Konstellation etwa dann sprechen, wenn man die gängigen Gepflogenheiten akademischer Meritokratie berücksichtigt, der zufolge akademische Exzellenz üblicherweise jenen attribuiert wird, die bereits (frühere) Verdienste nachweisen können.

Zu dieser Konstellation tritt bei Scheler ein weiteres Moment hinzu, das für die Ressentimentbildung essenziell ist, nämlich die Unfähigkeit, unmittelbar gegen die Wertverkehrung vorzugehen. Dadurch werden Scheler zufolge intensive Ohnmachtsgefühle ausgelöst, unter deren Einfluss der affektive Impuls zurückgedrängt und die motivationale Komponente auf unbestimmte Zeit verschoben wird. Erst unter dem Eindruck der Ohnmacht wird so ein zeitlich ausgedehnter Prozess der innerpsychischen Bearbeitung in Gang gesetzt. Diesen Prozess wollen wir nun im folgenden Abschnitt näher betrachten.

Genese moralisch-welterschließender Haltungen am Beispiel des Ressentiments

Wir verfolgen nun den Prozess der Ressentimentgenese von der ursprünglichen Erfahrungskonstellation (Unrechtsgefühle + Ohnmachtsgefühl) bis zu seiner Manifestation als erschließend-orientierende Affekthaltung. Zwei Aspekte scheinen dabei zentral. Zum einen macht Scheler klar, dass Ressentimentbildung nur unter der Bedingung einer Hemmung und zeitlichen Verzögerung des Affekts möglich ist. Und zweitens führt er aus, dass die initiale Affektregung – etwa der unmittelbar angesichts des erfahrenen Unrechts auftretende moralische Ärger – eine Reihe spezifischer Wandlungen erfährt. Die oben erwähnten Affekte (Rachegefühl, Hass, Bosheit, Neid, Scheelsucht, Hämischkeit), die im Ressentiment gebündelt werden, treten nicht gleichzeitig auf, sondern stellen Phasen der fortschreitenden Modulation des ursprünglichen Affekts dar. Dabei sind zwei Modulationstypen bei Scheler identifizierbar: Einmal verändert sich die Zeitperspektive des Affekts – wo der Ärger noch einen unmittelbaren reaktiven Ausdruck fordert, ist dieser Scheler zufolge bereits beim Rachegefühl auf unbestimmte Zeit zurückgestellt (»Warte nur, einmal krieg’ ich dich doch!«). Das Ressentiment charakterisiert Scheler schließlich als eine Affekthaltung, die weitgehend von jeder konkret-motivationalen Orientierung abgespalten ist. In dieser Hinsicht identifiziert er auch einen ressentimenttypischen Charakter der Kritik, ein rein negativ ausgerichtetes Nörgeln, dem jede Perspektive auf faktische Verbesserung der kritisierten Zustände abhandengekommen sei (Scheler 1913, 60f.).

Wir halten es für wesentlich, Scheler hier nicht so zu lesen, als würde die Handlungsorientierung (im Sinn der motivationalen Komponente welterschließender Haltungen) beim Ressentiment einfach aufgegeben, vielmehr kommt es im Zuge der Ressentimententwicklung zu einer immer weiter gehenden Hemmung und zeitlichen Verschiebung der Affektabfuhr. In gewisser Weise erweitert sich insofern der subjektive Zeithorizont der Vergeltung, ohne dass diese je gänzlich als Bezugspunkt aufgegeben würde. Dennoch geht mit der Zurückstellung der Affektabfuhr eine zweite, wesentliche Modulation des ursprünglichen Affekts einher. Diese betrifft die Intensität und erfahrungsweltliche Unmittelbarkeit der Affektstrebung. In dieser Hinsicht lässt sich Schelers Rekonstruktion als eine Affektmodulation von einem »heißen Affekt« hin zu einem »kalten Affekt« auffassen. Gemeint ist damit, dass die affektive Werterfahrung hinsichtlich ihres Fokus (in Helms Terminologie) eine zentrale Stellung im Rahmen der lebensweltlichen Relevanzstruktur der Betroffenen hat. Im weiteren Verlauf tritt dieser zentrale Bezug zu einem lebensweltlichen Fokus in den Hintergrund und im selben Ausmaß verliert der Affekt seine erfahrungsmäßige Unmittelbarkeit. Wir argumentieren, dass er zu einer latent im Hintergrund wirkenden Affekthaltung im Sinne Withys (2015) wird.

Mit der – zumindest partiellen – Loslösung des Affekts von seinem ursprünglichen lebensweltlichen Fokus wurde bereits eine weitere Frage angesprochen, die für die Ressentimententwicklung entscheidend ist, nämlich danach, was im Zuge der Ressentimentbildung mit dem Objektbezug des Affekts geschieht. Bei Scheler findet sich an einigen Stellen der Hinweis, dass sich das Ressentiment zunehmend vom ursprünglichen Erfahrungskontext löst. Dadurch wird es erst im vollen Sinn zu einer welterschließenden Haltung, die es erlaubt, neue Situationen und Erfahrungen in ihrer vermeintlichen, subjektiven Relevanz zu erschließen. In welcher Weise vollzieht sich nun aber diese schrittweise Entkontextualisierung und Mobilisierung der Ressentimenthaltung? Fassen wir mit Helm die am Beginn der Ressentimentbildung stehenden Werterfahrungen als Wertgefühle (evaluative feelings) auf und folgen wir weiter seiner Differenzierung des intentionalen Objektbezugs solcher Wertgefühle, so fragen wir uns, was mit den einzelnen Momenten des Objektbezugs im Ressentiment genau passiert. Dabei fällt ins Auge, dass das Ressentiment nur dann gänzlich mobil bleiben kann, wenn es sich von seinem ursprünglichen Ziel (target) löst. Nur so ist es möglich, dass Erfahrungskonstellationen jenseits der initialen Unrechterfahrung überhaupt in Betracht kommen können. Hierbei zeigt sich wesentlich, dass das Ressentiment nicht beliebige Situationen und Objektgruppen trifft. Etwa geht das Ressentiment bei der Objektverschiebung nicht wahllos vor, sondern vielmehr scheint etwas vom ursprünglichen Objektbezug durch die Reihe der modalen Affektverschiebungen hindurch erhalten zu bleiben. Nach unserer Einschätzung handelt es sich dabei um das formale Objekt des ursprünglichen Affekts. Das heißt, konstant bleibt das in der ursprünglichen Werterfahrung infrage stehende Wertverhältnis. Im Kontext der bereits erwähnten moralpsychologischen Forschungstradition wäre also die jeweilige moralische Domäne das Bindeglied, das die im Ressentiment verklammerten Erfahrungen aufeinander beziehbar machte. Hinsichtlich der bei Graham et al. (2011, 2013) genannten Sorgedomäne wäre demgemäß zu erwarten, dass Ressentimentbildungen, die in Affektwertungen sorglosen Handelns (etwa in unserem Beispiel im Kontext der universitären Nachwuchsförderung) ihren Ursprung hatten, ins Anprangern einer generellen Sorglosigkeit in anderen Situationen mündet (gegenseitige Solidarität in der U-Bahn), dass aber ein Umschlagen in eine gänzlich andere moralische Domäne nicht aus ein und derselben Prozessentwicklung des Ressentiment folgen könnte.4

Soziogenese des Ressentiments – Auf dem Weg zu einer Sozialpsychologie moralisch-welterschließender Haltungen

Nun aber zu der Frage, inwiefern die individuelle Ressentimentgenese – als Beispiel einer Entwicklung einer moralisch-welterschließenden Haltung – über das konkrete Individuum hinausweist. Wir wollen uns zur Beantwortung noch einmal Schelers Theorie zuwenden, denn er gibt bereits einen Hinweis darauf, dass die Individualgenese des Ressentiments mit einer Soziogenese verstrickt ist. So legt mit Blick auf Stenner (2016) unsere Lesart Schelers nahe, dass das, was Scheler als eine Wertdiskrepanz am Ursprung des Ressentiments bezeichnet, nicht bloß als statische, persönliche Erfahrung im Sinn eines Abgleichs zwischen (moralischem) Ist- und Soll-Zustand, sondern als ein praktisches Scheitern der Wertkonstitution zu fassen ist. Diese ist nun aber nicht mehr nur Sache des erfahrenden Subjekts (der Träger*in des künftigen Ressentiments), sondern zugleich Sache des sozialen Gefüges, auf das sich die Erfahrung des Subjekts bezieht. So lässt sich die praktisch scheiternde Wertkonstitution aus zwei Blickwinkeln beschreiben: Aus der Perspektive der Ressentimentträger*in scheitert sie, insofern es ihr nicht gelingt, ihre Wertorientierungen auf in ihrer Alltagswelt faktisch verwirklichte Standards zu beziehen. Aus der Perspektive des sozialen Praxisfelds stellt sich die Situation zugleich als Gefahr dar, insofern mit der dissidenten Werterfahrung der Akteur*in eine Aushöhlung der normativen Kohärenz des Feldes (im Sinne des parodisch Werdens der Wertstandards) einhergeht. Damit verlagert sich der Fokus der Betrachtung aus der Subjektperspektive, die in unserer bisherigen Rekonstruktion der Psychogenese des Ressentiments zentral war, in eine psychosoziale, in der die subjektive Wertorientierung unmittelbar auf soziale Wertorientierungen, das heißt Praktiken der (kollektiven) Wertstandardisierung bezogen werden muss.

In dieser Hinsicht stellt sich der lebensweltliche Hintergrund, vor dem sich Wertgefühle entwickeln, nicht nur als ein psychologisch relevanter Bezugspunkt dar, sondern vor allem als konkretes, das heißt alltäglich begegnendes, soziales Bezugssystem. Um dies zu verdeutlichen, greifen wir ein letztes Mal auf unser Beispiel zurück. Angesichts der Komplexität des Gegenstands können wir hier natürlich keine erschöpfende Analyse des Beispiels angeben, wir beschränken uns daher darauf, einige mögliche Bezüge anzureißen. Die soziogenetische Analyse ist nun nicht mehr darauf ausgelegt, die Entwicklung der je spezifischen, subjektiv-intentionalen Bezugnahmen auf (verschiedene) Erfahrungskonstellationen nachzuzeichnen, vielmehr geht es um die Frage, welche sozialen Positionierungen in die im Beispiel aktualisierten, erspürend-bewertenden Haltungen hinein wirken. Wir haben bereits oben auf das Geschlechterverhältnis hingewiesen, das erwarten lässt, dass Professorin A. und Professor B. – selbst bei ähnlichem Bildungs- und Einkommensstatus – unterschiedliche Erfahrungen im akademischen Betrieb machen. Zu diesen Erfahrungen gehört regelmäßig und strukturell, dass man die eigene Position unter wesentlich schwierigeren Bedingungen zu behaupten hat als viele männliche Kollegen gleicher Qualifikation. Auch die vorbehaltlose Förderung des (zumal männlichen) akademischen Nachwuchses stellt gerade für Frauen, die die Wirksamkeit männlicher Seilschaften im akademischen Betrieb am eigenen Leib erfahren haben, ein reales Risiko dar. Andererseits mag dies dem Professor B. – strukturell begünstigt durch einen klassischen (und das heißt hier: entlang patriarchal geprägter Erwartungshorizonte verlaufenen) Karriereweg – als Verletzung seines eigenen, gegen traditionell meritokratische Strukturen gewonnenen, Bekenntnisses für die Förderung des akademischen Nachwuchses erscheinen. Wenngleich hier notwendigerweise holzschnitthaft gezeichnet, lässt sich bereits in dieser Gegenüberstellung sehen, wie die intersektionale Verflechtung unterschiedlicher, dabei gleichermaßen strukturell wie biografisch bedingter Erfahrungsgefüge zur spezifischen Wertkonstellation beiträgt. Für Professor B., der in seiner Karriere »bewusst längere Wege ging«, um sich von den paternalen Erfahrungen seiner eigenen akademischen Sozialisierung zu emanzipieren, erscheint das Handeln der Kollegin ebenso notwendig als ein »selbstbezogenes Ellenbogendenken«, wie es der Professorin A. möglicherweise als aus der Not gewonnenes Kalkül erscheint, die eigene Leistung vor Publikum nicht »unter den Scheffel zu stellen«. Nun ist aber weder das Ringen um die Sichtbarkeit noch der (narzisstische) Dünkel gegen den vermeinten Karrierismus eine praktische Auswirkung je persönlicher Wertsetzungen, vielmehr stellen beide affektive Aneignungen der differenziell wirksamen, strukturellen Bedingungen des akademischen Feldes dar, dessen spezifische Dispositivstruktur, innerhalb derer »Anerkennung« durch Kolleg*innen das wichtigste symbolische Kapital darstellt (siehe z.B. Beaufaÿs 2003), sie gerade dadurch, dass sie sich an unterschiedlichen Anerkennungsnormen orientieren, bestätigen. Insofern sind bereits in der lebensweltlichen Hintergrundkonstruktion des initialen Wertgefühls »psychische« und »gesellschaftlich-soziale« Bedingungsgefüge miteinander verzahnt.

Wir müssen aber noch einen entscheidenden Schritt weiter gehen und die von Scheler angesprochene Ohnmacht in diese soziogenetische Betrachtung der Ressentimentbildung einbeziehen – und damit über die von Scheler vorgeschlagene statische Beziehung zwischen sozialer Position/Hierarchie und Ressentimentbildung hinausgehen. Ohnmachtsgefühle verweisen darauf, dass es sich bei der Inkongruenz der Erfahrungsräume nicht lediglich um ein Aufeinanderprallen verschiedener praktisch-moralischer Orientierungsrahmen im Alltag handelt. Dieses findet vielmehr vor dem Hintergrund asymmetrischer Macht- und Herrschaftsverhältnisse statt. Die von Scheler angesprochenen Ohnmachtsgefühle verweisen in soziostruktureller Perspektive auf faktisch verunmöglichtes/limitiertes Handlungspotenzial, das nicht erschöpfend im Rahmen einer Rekonstruktion psychischer Affektdynamiken und -verarbeitungen, sondern nur im Rahmen einer Rekonstruktion soziostruktureller Praktiken und Ausschlüsse adäquat thematisiert werden kann.

Wir können im gegebenen Rahmen die damit eröffnete Perspektive auf Machtverhältnisse und -praktiken im Zusammenhang mit Ressentimentbildungen nicht bis ans Ende verfolgen. Unser Anliegen war es, ausgehend von einer detaillierten Rekonstruktion der Psychogenese und Affektdynamik auf diejenigen Stellen hinzuweisen, an denen sich eine solche soziogenetische Betrachtung anknüpfen lässt. Diesbezüglich haben wir den Fokusbezug (import bei Helm) von Wertgefühlen als Scharnier identifiziert, von dem eine Soziogenese auszugehen hätte. Im Folgenden möchten wir auf einige offene Fragen verweisen, die in nachfolgenden Arbeiten aufgegriffen werden könnten.

Fazit und Ausblick

Unser Ziel war es, uns aus einer sozialpsychologischen Perspektive mit der Frage zu beschäftigen, was es heißt, im Alltag moralische Haltungen zu praktizieren. Dabei haben wir aufbauend auf einem Beispiel den Ausdruck einer impliziten Werthaltung skizziert, die (allenfalls) außerhalb der eigentlichen Situation bearbeitet wird. Wir fassten dies als eine präkognitive Einschätzung der Situation, als ein leibliches Zur-Situation-ausgerichtet-Sein, das sich in einer anderen als der die Affekte eigentlich evozierenden Situation entladen kann, und fragten, wie diese Verschiebung hin zu einer moralisch-welterschließender Haltung verstanden werden kann. Diese erklärte noch nicht deren soziale Situiertheit, jedoch war unser zentrales Argument, dass zunächst eine Psychogenese verstanden werden muss, um – über die Analyse eines formalen Objekts und dessen Verstrickung mit seinem import (Helm 2002) – zur sozialen Situiertheit zurückkommen zu können.

Anhand der Analyse unseres Beispiels leiten wir Folgendes ab:

  1. (Moralisch) welterschließende Haltungen lassen sich auf Erfahrungskonstellationen zurückverfolgen, deren spezifische Struktur die Richtung der weiteren Affektverarbeitung entscheidend prägt.
  2. Im Fall des Ressentiments spielt dabei insbesondere eine Diskrepanz von Werterfahrungen und Wertstandards im Sinne eines parodisch Werdens faktisch gesetzter Standards eine entscheidende Rolle.
  3. Zugleich ist die Ressentimentbildung an das Auftreten intensiver Ohnmachtsgefühle gebunden, die eine spontane Affektabfuhr verhindern und den ressentimenttypischen Prozess der Affekthemmung und -verschiebung in Gang setzen.
  4. Die prozessuale Genese des Ressentiments selbst lässt sich durch eine Veränderung des Zeithorizonts der motivationalen Tendenz des Affekts sowie durch eine spezifische Veränderung des Objektbezugs beschreiben.
  5. In letzterer Hinsicht haben wir herausgearbeitet, dass das Ressentiment als welterschließende Haltung deshalb in einer Reihe unterschiedlicher Situationen wirksam werden kann, weil in ihm die Erinnerung an das faktisch erfahrene, als solches erlebte Unrecht (im Sinne des Affektziels bei Helm) verloren geht, während zugleich das formale Objekt (im Sinne der in der Ausgangskonstellation aktivierten Wertdimension) zum fundierenden Orientierungsmoment der welterschließenden Haltung wird.
  6. Anhand der Untersuchung des lebensweltlichen Bezugs von Wertgefühlen und Ressentiments haben wir schließlich den Punkt identifiziert, an dem die psychogenetische Betrachtung der Ressentimentbildung auf eine zweite, diesmal soziogenetische Perspektive verweist. Dieser Bezug ist notwendig, weil sich die lebensweltliche Relevanzstruktur, auf die sich Werterfahrungen gründen, nicht ausschließlich als psychologisch, sondern im Sinne kollektiver Erfahrungsräume als gelebte Strukturen der Praxis (Bohnsack 2016; Mannheim 1980) erweisen.
  7. Abschließend haben wir erste Hinweise gegeben, in welche Richtung eine soziogenetische Betrachtung der Ressentimentbildung, als von asymmetrischen Machtverhältnissen geprägte Konfrontation von Erfahrungsräumen und demgemäß als ein Konflikt um die faktische Standardisierung von Werterfahrungen, gehen könnte.

An dieser Stelle bleibt eine Reihe von Fragen offen, die wir nun nicht weiter verfolgen können. Wir möchten aber abschließend zumindest einige dieser offenen Fragen, im Sinne von Anregungen zum Weiterdenken, ansprechen:

  1. Auf konzeptueller Ebene stellt sich die Frage, wie aus einer praxistheoretischen und gesellschaftstheoretischen Perspektive mit der Ursprungskonstellation der Ressentimentbildung umzugehen sei. Unsere Darstellung orientierte sich dabei stark an Schelers Beschreibung initialer Unrechtserfahrungen im Ressentiment. Allerdings scheint zweifelhaft, ob eine singuläre Unrechtserfahrung ausreicht, die weitreichende und umfassende Haltung des Ressentiments in Gang zu setzen. Mit Bezug auf den sozialen Kontext, das heißt dauerhaft asymmetrische Machtverhältnisse und die dadurch perpetuierte Unrechtserfahrung scheint es uns eher plausibel, statt von einer Ursprungssituation zu sprechen, einen Prozess der dauerhaften Parodisierung von Standards anzunehmen.
  2. Im Zusammenhang damit wäre näher zu untersuchen, wie sowohl aus psychogenetischer als auch aus soziogenetischer Perspektive die Vermittlung und Verdichtung vielfältiger Ohnmachtserfahrungen bis hin zur generalisierten Ressentimenthaltung vonstatten geht. Es erscheint uns zentral, eine empirische Rekonstruktion derjenigen Übersetzungsprozesse im Alltag vorzunehmen, durch die ein formaler Gesichtspunkt an der Erfahrung gewonnen und in immer neuen Kontexten aktualisiert wird. Dabei ist zu erwarten, dass der formale Gesichtspunkt selbst in diesen Übersetzungsprozessen nicht als erfahrungsinvariante Konstante fungiert, sondern im Zuge der Prozessgenese immer wieder reformuliert und konkretisiert wird. Der Formalismus, der schließlich die Ressentimenthaltung kennzeichnet, ist dann nicht so sehr ein von Anfang an gesetzter Werthorizont, sondern vielmehr selbst Teil und Effekt der Psycho- wie Soziogenese des Ressentiments.
  3. Zuletzt wäre in nachfolgenden Arbeiten genauer auszuarbeiten, was im Rahmen der Soziogenese des Ressentiments als Machtwirkung beziehungsweise Praxis zu verstehen sei. An einigen Stellen unseres Beitrags haben wir den Begriff der Modulation verwendet. Obwohl hier nicht weiter ausgeführt, scheint uns dieser – von Deleuze (1992), Massumi (1995) und Hui (2015) entlehnte – Begriff für eine dynamische, in Prozesse des Werdens beziehungsweise der Formgebung intervenierende, demgemäß immersive Machtform (Mühlhoff 2018) geeignet, die Affektdynamik der Ressentimententwicklung zu erfassen. Darüber hinaus wäre auf der Ebene der konkreten Alltagspraxis die Frage zu stellen, an welche diskursiven, ökonomischen etc. Strukturen (etwa im Sinne affektiver Arrangements, Slaby 2018, Affektökonomien, Ahmed 2004, o.Ä.) die Soziogenese des Ressentiments anknüpfen kann.
  4. In der soziogenetischen Betrachtung des Ressentiments ist auch die Frage angelegt, inwiefern das Ressentiment als von der unmittelbaren – je individuellen – Erfahrung abgehobenes Phänomen anschlussfähig für Prozesse der Kollektivierung sei. Wenn Ressentimentbildungen vor dem Hintergrund kollektiver Erfahrungsstrukturen stattfinden und wenn weiter die initialen Erfahrungskonstellationen nicht als singuläre Ereignisse, sondern als Serien von äquivalenten Erfahrungen zu konzipieren sind, dann ergibt das prinzipiell die Möglichkeit, dass sich auch andere, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, in die Konstitution des Ressentiments als einer dann gemeinschaftlichen Affekthaltung einschalten können.5
  5. Zuletzt kommen wir noch einmal zum Anfang zurück. Unser Anliegen war es ja zunächst nicht nur, über die beispielhafte Analyse anhand des Ressentiments Einsichten zu gewinnen, die möglicherweise auch auf andere moralisch welterschließende Haltungen übertragbar sind. Auf dieser Basis lässt sich die Frage aufwerfen, wie mit Wertkonflikten im Alltag jenseits von Ressentimentbildungen umzugehen sei, beziehungsweise umgekehrt, welche Formen der Kollektivierung möglicherweise auch vor dem destruktiven Abdriften von Individuen und Gruppen ins Ressentiment schützen könnten. Wir hoffen, dass diesbezüglich die hier vorgestellten konzeptuell-theoretischen Perspektiven Anstoß zur weiteren Beschäftigung und insbesondere zur empirischen Auseinandersetzung mit der alltagsweltlichen Genese moralisch welterschließender Affekthaltungen geben können.

Anmerkungen

[1]
In dieser Hinsicht ähneln welterschließende Haltungen eher dem, was in der Psychologie als Affektdisposition, im Englischen als sentiment (Frijda et al. 1991, 206–16) bezeichnet wird: eine längerfristige, affektive Disposition, die Handlungen gegenüber einem Objekt motiviert. Allerdings ist die Affektdisposition (sentiment) im Hinblick auf ihren Objektbezug wesentlich spezifischer, als dies bei der welterschließenden Haltung der Fall zu sein scheint.
[2]
Oft auch mit »Missgunst« gleichgesetzt (siehe https://www.duden.de/rechtschreibung/Scheelsucht [Zugriff 02.11.2020]), bezeichnet Scheelsucht den wiederkehrenden Impuls, Objekte abzuwerten (Detraktion).
[3]
Scheler kommt zu diesem Schluss nicht zuletzt vor dem Hintergrund seiner eigenen Moralphilosophie, die auf der Annahme objektiver Werthierarchien gegründet ist und einen Versuch darstellt, gesellschaftliche Verhältnisse und Machtasymmetrien auf moralische Wertverhältnisse zu gründen. So interpretiert Scheler etwa den gesellschaftlichen Ausschluss von Frauen als Hinweis auf deren »objektive« Wertunterlegenheit. Darin Nietzsche aufgreifend, prangert Scheler das Ressentiment als eine Haltung an, die von moralisch minderwertigen Individuen und Gruppen gegen die Vornehmen eingesetzt werde und darauf hinauslaufe, die natürliche Wertordnung in ihrem Sinne zu verkehren. Es liegt auf der Hand, dass aus gegenwärtiger Perspektive ein affirmativer Anschluss an diesen Aspekt der Scheler’schen Theorie nicht möglich oder jedenfalls nicht wünschenswert ist. Wir kommen darauf unten zurück.
[4]
Es stellt sich hier die Frage, inwiefern eine Generalisierung entlang derselben Wertdomäne im Ressentiment prinzipiell nur in negativer Richtung, d.h. als ein Konstatieren des generellen Mangels erfolgen kann. Am hier verwendeten Beispiel der Sorgedomäne lässt sich das etwa am alltagssprachlichen Gebrauch des Wortes »sich sorgen um …« zeigen, der stets auf einen konkreten Gegenstand der Sorge bezogen ist. In diesem Sinne gibt es keine generalisierte Sorge. Sehr wohl aber kennt die Alltagssprache in negativem Sinne eine verallgemeinerte Sorglosigkeit, die – ähnlich wie wir es für die Affekthaltung des Ressentiments zeigen – als eine Art erworbene Charakterdisposition wahrgenommen wird. Wir danken Jürgen Straub für den Hinweis auf diesen möglichen Aspekt.
[5]
Anknüpfend an ein Lehrforschungsprojekt an der SFU Wien und Berlin geht dieser Frage das Projekt »Collective Ressentiments. A Qualitative Research on Ressentiments as Psychosocial Processes in Everyday Contexts« nach, das von der Wiener Projektgruppe des internationalen Forschungsclusters RECHANGE unter der Leitung von Ass.-Prof. Dr. Katharina Hametner durchgeführt wird (International Research Cluster).

Literatur

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Die AutorInnen

Markus Wrbouschek, Mag., Psychologe, lehrt an der Fakultät für Psychologie der SFU Wien qualitative Methoden, Wissenschaftstheorie und Sozialpsychologie. Forschungsschwerpunkt im Bereich der Emotionspsychologie und Methodologie qualitativer Sozialforschung.

Kontakt: markus.wrbouschek@sfu.ac.at

Natalie Rodax, MSc., Psychologin, lehrt an der Fakultät für Psychologie der SFU Wien in den Bereichen qualitative Methoden, Wissenschaftstheorie und wissenschaftliches Arbeiten/Schreiben. Forschungsschwerpunkte im Bereich der qualitativen Methodologie und Methodenentwicklung sowie der Sozial- bzw. Kulturpsychologie.

Kontakt: natalie.rodax@sfu.ac.at

Katharina Hametner, Ass.Prof., Psychologin, Studiengangsleiterin des Master-Studiengangs Psychologie, Leiterin des Fachbereichs für Qualitative Methoden an der Fakultät für Psychologie der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien und Leiterin des Projekts »Collective Ressentiments. A Qualitative Research on Ressentiments as Psychosocial Processes in Everyday Contexts« im Rahmen des Research Clusters »Ressentiment and Change Potential«. Forschung in den Bereichen Sozialpsychologie, soziale Ungleichheit und Ressentiments sowie kritische Migrations- und Rassismusforschung.

Kontakt: katharina.hametner@sfu.ac.at

Sara Paloni, Dr. phil., Politikwissenschafterin. Derzeit Leitung eines Forschungsprojekts über das Zusammenleben in Wien und das Entstehen politischer Orientierungen. Koordinatorin eines internationalen Forschungsclusters zum Thema Ressentiment und Konflikttransformation an der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien. Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte: Geschlecht und Politik, Intersektionalität und politische Bildungsarbeit.

Kontakt: sara.paloni@sfu.ac.at

Nora Ruck, Ass.Prof., Vizedekanin für Forschung und Studiengangsleiterin des PhD Studiengangs in Psychologie an der Fakultät für Psychologie der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien. Forschung zu Geschichte und Theorie der Psychologie und zu feministischer Psychologie. Forschungsprojekt »The Psychological is Political« (FWF) zur Geschichte feministischer Psychologien in Wien.

Kontakt: nora.ruck@sfu.ac.at