»Egal was er auch ist, Hauptsache einer von uns«

Eine sozial- und kulturpsychologische Analyse zur Bedeutung von Moral im alevitisch-sunnitischen Verletzungsverhältnis

Dilek A. Tepeli

Journal für Psychologie, 28(2), 101–123

https://doi.org/10.30820/0942-2285-2020-2-101 CC BY-NC-ND 3.0 DE www.journal-fuer-psychologie.de

Zusammenfassung

Dieser Beitrag befasst sich mit den konflikthaften Begegnungen und Beziehungen zwischen Alevit_innen und Sunnit_innen, die wir als ein historisches kollektives Verletzungsverhältnis auffassen können. Dabei reichen die psychosozialen Spuren dieser Figuration bis in die Gegenwart der deutschen Einwanderungsgesellschaft und dokumentieren sich in den Identitätskonstruktionen junger alevitischer Frauen. Als Resultat der erlittenen und historisch tradierten Verletzungen durch die sunnitische Orthodoxie und aus Angst vor Anpassungszwang und Unterdrückung in einer imaginierten sunnitisch-alevitischen Intergruppenehe verschließen insbesondere alevitische Frauen bis heute über Endogamie ihre Gruppengrenze zu den als unmoralisch markierten Sunniten. Anhand einer Gruppendiskussion mit zwei jungen alevitischen Frauen, die mit der relationalen Hermeneutik ausgewertet wurde, wird diese bis in die Gegenwart anhaltende, historisch begründete Grenzziehung durch Zuschreibung mangelnder Moral gegenüber Sunnit_innen rekonstruiert. Der Beitrag bietet damit eine erweiterte, kulturpsychologische Perspektive auf die psychosoziale Funktion von Moral und moralischer Kommunikation in Intergruppenbeziehungen.

Schlüsselwörter: Kollektive Verletzungsverhältnisse, Alevit_innen und Sunnit_innen, Intergruppenbeziehungen, Moral und Moralisierung, Vorurteile und Stereotypen, interreligiöse Ehe, Kulturpsychologie

Summary
»No matter what he is, as long as he is one of us«. A social- and cultural-psychological analysis of the meaning of morality in the hurtful relationship of Alevis and Sunnis

This contribution examines from a cultural-psychological perspective the conflictual relationship between Alevis and Sunnis, which is interpreted as a historical hurtful relationship. The psychosocial traces of this figuration extend to the present day of the German immigration society. They are also manifest in the identity constructions of young Alevi women. As a result of experienced or inherited violations suffered by Sunni orthodoxy and out of fear of pressure to adapt and oppression in a Sunni-Alevi interfaith marriage, especially Alevi women still maintain the group border to Sunnis through endogamy. In analyzing a group discussion with two young Alevi women using relational hermeneutics, I reconstruct how the historically founded group boundaries continue to exist in perceptions and emotions towards an imagined Alevi-Sunni interfaith marriage. Furthermore, I discuss how a cultural-psychological perspective can complement the discussion on the function of morality and moral communication in intergroup relations.

Keywords: Collective hurtful relationships, Alevis and Sunnis, intergroup relationships, moral and moralization, prejudices and stereotypes, interfaith marriage, cultural psychology

Einleitung: Leben in tradierten Verletzungsverhältnissen1

Die konflikthaften Intergruppenbeziehungen zwischen Alevit_innen und Sunnit_innen lassen sich aus einer kulturpsychologischen Perspektive als kollektives Verletzungsverhältnis verstehen. Bis heute sind Begegnungen zwischen Angehörigen dieser beiden religiösen wie ethno-religiösen Gruppen durch Spannungen geprägt, die aus einer langen Geschichte zugefügter und erlittener Gewalt resultieren, deren psychosoziale Auswirkungen transgenerational tradiert werden. Spuren historischer Verletzungsverhältnisse lassen sich etwa in den narrativen Identitätskonstruktionen junger alevitischer Frauen sowie in nach wie vor verbreiteten familiären Haltungen gegenüber einer sunnitisch-alevitischen Ehe nachweisen. Das gilt auch für Personen und Gruppen, die in pluralistischen und liberalen, postmigrantischen Gesellschaften (Foroutan 2019), wie dem heutigen Deutschland, leben. Das theoretische Konstrukt des »kollektiven Verletzungsverhältnisses« bezeichnet dabei

»die sozial bedeutsamen und psychisch wirksamen Hinterlassenschaften ausgeübter und erlittener Gewalt. Verletzungsverhältnisse sind Konstellationen, die nicht zuletzt durch ehemalige Wirklichkeiten und Vergangenheiten konstituiert sind, welche heute noch besondere Verletzungsrisiken in sich bergen und diese in die von ihnen mitbestimmte Gegenwart verlagern und so perpetuieren« (Straub 2014, 86).

Dieser psychologischen Tatsache müssen sich die Betroffenen keineswegs bewusst sein. Sie handeln, kommunizieren und interagieren dennoch im Schatten einer kollektiven Gewaltgeschichte (ebd.). In alevitisch-sunnitischen Begegnungen schlägt sich dies bis heute im häufig ungeklärten und umstrittenen Verhältnis der Alevit_innen zum Islam nieder. Das Alevitentum wird in der Türkei von der sunnitisch-türkischen Religionsbehörde Diyanet nicht als eigenständige Religionsgemeinschaft anerkannt. Auch werden Alevit_innen häufig als »islamische Sondergemeinschaft« betrachtet, obwohl die Zugehörigkeit zum Islam umstritten ist (Dressler 2002, 175; Kaya 2009, 43f.; Gorzewski 2010). Nach aktuellen Schätzungen und laut Angabe des alevitischen Dachverbands (AABF) leben gegenwärtig zwischen 500.000 und 800.000 Alevit_innen in Deutschland. Für die Türkei liegen keine genauen Zahlen vor (Kalbarczyk und Loth 2017, 89). Anders als in Österreich, wo sich Alevit_innen seit 2013 (zum Teil widerwillig) unter dem Dach des Islam organisieren müssen, gelten sie im deutschen Kontext rechtlich als eigenständige, vom Islam unabhängige Religionsgemeinschaft (Aksünger-Kizil 2017, 162). Versteht man das Alevitentum als Religion sui generis, so bildet es in Deutschland die drittgrößte Religionsgemeinschaft nach Christentum und Islam (Kalbarczyk und Loth 2017, 89).

Die scharfe Grenzziehung und Opposition zur sunnitischen Mehrheit, insbesondere in Deutschland, bildet als Reaktion auf die erlittenen Verletzungen einen wesentlichen Bestandteil des alevitischen Selbstverständnisses. Historische Erinnerungen und Erfahrungen kollektiver Gewalt bis hin zur Verfolgung und Vernichtung zahlreicher Alevit_innen bezeugen das (Aksünger-Kizil 2017, 169; Sökefeld 2008a, 2008b). Die damit verwobene Exklusionsgeschichte reicht vom osmanischen Reich bis zur türkischen Republik und setzt sich in den Einwanderungsgesellschaften des 21. Jahrhunderts fort. Zu Recht bezeichnet der Ethnologe Martin Sökefeld (2008a, 2008b) die Grenzziehung gegenüber Sunnit_innen als Basis- oder Meisterdifferenz der alevitischen Identität.

Alevit_innen wurde durch die islamische Orthodoxie seit jeher ein Mangel an Moral und damit verwoben Unreinheit zugeschrieben. Über islamische Rechtsgutachten (fetwas) wurde ihre Verfolgung im Osmanischen Reich legitimiert, da sie in ihrer religiösen Praxis von den geforderten Regeln und Dogmen der sunnitischen Orthodoxie abwichen und als Ketzer_innen gebrandmarkt wurden. Diese Differenz betonen Alevit_innen bis heute immer wieder selbst (Sökefeld 2008a, 9ff.; 2008b, 42; Tezcan 2016, 160). Die Gründe dafür, warum Alevit_innen als Ketzer_innen verunglimpft und verfolgt wurden, sind vielfältig. Eine strikte Geschlechtertrennung ist in ihren Gottesdiensten nicht vorgesehen, ihre Rituale werden in ihrer Gemeinde, dem Cem-Evi (Versammlungshaus der Alevit_innen), durchgeführt. Musik und das spirituelle Semah gehen, ein ritueller Tanz, spielen eine bedeutsame Rolle in der alevitischen Liturgie (Aksünger-Kizil 2017, 169; Tan 1999). Ein seit jeher weitverbreitetes soziales Vorurteil basiert auf dieser fehlenden Geschlechtertrennung bei den Gottesdiensten und führte zu phantasmagorischen Vorstellungen sexueller Promiskuität und der damit verbundenen Zuschreibung fehlender Moral. Über die pejorative Fremdbezeichnung Kızılbaş (dt. »Rotkopf«), welche bereits für die Vorläufer_innen der Alevit_innen Verwendung fand, wurde das Vorurteil des Inzesttabubruchs festgeschrieben. Doch auch ihrerseits blieben Alevit_innen nicht passiv gegenüber den entgegenbrachten moralisierenden Abwertungen, ganz im Gegenteil. Sie setzten sich selbst mit abwertenden Zuschreibungen gegenüber der sunnitischen Orthodoxie zur Wehr und schlossen über das Tabu der exogamen Ehe mit einer sunnitischen Person – insbesondere für Frauen – ihre Gruppengrenzen weitgehend nach außen ab (vgl. Kehl-Bodrogi 1988). All das spricht für die aktualisierende Fortsetzung historischer Verletzungsverhältnisse und zeigt, wie wichtig dafür moralische Kommunikation ist, ohne die radikal ab- und entwertende Bilder und Erzählungen der im äußersten Fall verachteten Anderen gar nicht denkbar wären. Es ist die Attribution moralischer Makel, die die Anderen zu unreinen, schmutzigen und ekligen Fremden machen, die rigide ausgeschlossen und (unbewusst) abjektiert werden »müssen« (vgl. dazu Straub und Tepeli 2021; Straub 2019).

Im vorliegenden Beitrag soll die Bedeutung von Moral und speziell die Zuschreibung fehlender Moral im alevitisch-sunnitischen Verletzungsverhältnis analysiert werden. Dies geschieht am Beispiel der Haltung junger alevitischer Frauen zur – in vielen alevitischen Familien auch in Deutschland nach wie vor umstrittenen und bisweilen vehement abgelehnten – Institution der sunnitisch-alevitischen Intergruppenehe. Das moralische Selbstverständnis von (jungen) Alevit_innen lässt sich als Reaktion auf die (historisch) erlittenen, im Familien- und Gruppengedächtnis fortlebenden und in der komemmorativen Praxis (auch unbewusst) tradierten Verletzungen erklären. Dazu gehören nicht nur die schmerzlichen Erfahrungen physischer Verfolgung und Vernichtung. Dazu zählt auch der andauernde Ausschluss aus einem Anerkennung gewährenden moralischen Raum, den die sunnitische Glaubensgemeinschaft und ihre institutionellen Repräsentant_innen nach wie vor praktizieren und legitimieren. In dieser hegemonialen Konstellation bildet sich seit Jahrhunderten eine moralische Opposition zur sunnitischen Gruppe aus, die die Alevit_innen nun ihrerseits als eine moralisch überlegene Gruppe auszeichnet. Der hier wie dort fremd zugeschriebene Mangel an Moral wird so zu einer bedeutsamen, bleibenden Konstituente der Intergruppenbeziehungen dieser Religionsgemeinschaften – auch in postmigrantischen Einwanderungsgesellschaften.

Psychosoziale Funktionen moralischer Kommunikation: Eine sozial- und kulturpsychologische Perspektive

Im Folgenden möchte ich skizzieren, welche Bedeutung moralische Kommunikation in der alevitisch-sunnitischen Verletzungsbeziehung einnimmt und wie eigene Moralansprüche und (moralische) Überzeugungen der Alevit_innen sich in der Abgrenzung gegenüber Sunnit_innen herausbilden und verfestigen. Es wird ganz allgemein deutlich, dass moralische Kommunikation für die Qualität von Intergruppenbeziehungen und speziell für die wechselseitige Inklusion oder Exklusion maßgeblich sein kann. Dabei umfasst moralische Kommunikation »einzelne Momente der Achtung oder Missachtung einer Person« (Bergmann 1999, 107) (oder eines Kollektivs) und sozial wertende Urteile, die in Form von Moralisierungen vorgebracht werden und das Ansehen einer Person oder sozialen Gruppe beschädigen können (ebd., 107f.). Solchen generellen Aspekten der Moral und des Moralisierens wende ich mich – selbstverständlich selektiv – zunächst zu.

Der Begriff der Moral stammt aus dem Lateinischen und bezeichnet »Sitten«, also Gebräuche und Gewohnheiten, die als (mehr oder weniger) »gut« oder »schlecht« bewertet werden können. Die Moral und ihre normativen Ansprüche erfordern Fragen danach, inwiefern das diesbezüglich betrachtete Verhalten richtig beziehungsweise angemessen ist und handlungsfähige Subjekte den mit der Moral verbundenen Werten und Normen, also den in einer Gruppe (Gemeinschaft, Gesellschaft, Kultur) anerkannten sozialen Prinzipien und Regeln für das Zusammenleben folgen. Moralisches Handeln kann intrinsisch und aus Überzeugung erfolgen, aber auch extrinsisch motiviert sein etwa durch die Aussicht auf Belohnung oder die Furcht vor negativen Sanktionen (vgl. Herzog 2018, 293f.; Beetz 2009, 250). Sitten, Werte und Normen haben stets eine kollektive Dimension. Sie sind Bestandteil einer Gemeinschaft und ihrer kollektiven Praktiken und werden als üblich/unüblich beziehungsweise legitim/illegitim markiert. Sitten und Bräuche, Konventionen und Gewohnheiten, denen bestimmte moralische Standards implizit sind, gelten außerdem als normal oder anomal (vgl. Schweppenhäuser 2003, 15f.). Abhängig davon, wie Moralansprüche begründet werden, verläuft die Grenzziehung zwischen bloßen Gewohnheiten und Konvention sowie persönlichen Anliegen und Vorlieben und Moral im engeren Sinne unterschiedlich, sodass der Geltungsbereich der Moral entsprechend weiter oder enger gefasst sein kann (Herzog 2018, 294; vgl. auch Eckensberger 2007, 507f.).

Verstehen wir aus kulturpsychologischer Perspektive Kultur als ein Regelsystem und Handlungsfeld (Boesch 1991), das Möglichkeiten und Grenzen des Handelns konstituiert, dann repräsentiert die Moral – neben anderen sozialen Regelsystemen wie der Religion, die von moralischen Geboten und Verboten nicht zu trennen ist, oder dem ebenfalls mit der Moral liierten Recht – ein wesentliches Überzeugungs- und Regulationssystem mit einem »Kern der bewertenden Kategorien einer Kultur« (Eckensberger 2007, 505f.). Kultur und Moral verweisen aufeinander und sind interdependent und interdefinierbar. Die verschiedenen normativen Regelsysteme einer Kultur dienen gleichermaßen der Handlungsorientierung und -koordination, sind jedoch unterschiedlich verbindlich. Im Übrigen werden sie von den Subjekten flexibel gedeutet sowie variabel ausgelegt und sind in mehr oder weniger kontinuierlichem Wandel begriffen. Das ethisch-moralische Urteilsvermögen beziehungsweise die moralischen Kompetenzen bestimmen letztlich also darüber mit, wie Menschen bezüglich der moralischen Angemessenheit bestimmter Handlungsweisen denken und wie sie selbst handeln (Eckensberger 2007, 505f.; Schweppenhäuser 2003, 15f.).

Für den vorliegenden Beitrag besonders wichtige Funktionen moralischer Kommunikation bestehen in der sozialen Inklusion und Exklusion im Rahmen von Intergruppenbeziehungen. Werner Herzog erklärt mit dem Bedürfnis nach Distinktion und nach der Aufwertung des eigenen Selbst, dass die Moral nicht universal sein und für alle Menschen gleichermaßen gelten kann. Moralische Unterscheidungen sind demnach psychologisch höchst bedeutsam, ja außerordentlich zweckdienlich:

»Obwohl sie als einzige überlebende Art der Gattung homo biologisch eine Einheit bilden, sind Menschen in der Lage, minimale Differenzen, in denen sie sich unterscheiden, kulturell zu überhöhen, um sich kategorial voneinander abzugrenzen. Indem sie glauben, anderen wesensmäßig überlegen zu sein, können sie diese als ›Barbaren‹, ›Ungläubige‹ oder ›Schweine‹ beschimpfen und aus dem Gültigkeitsbereich der Moral ausschließen« (Herzog 2018, 294).

Moral als Distinktionsmerkmal kann die psychosoziale Funktion der Aufwertung der Eigengruppe erfüllen. Dies führt gleichsam zur Abwertung, Ausgrenzung und symbolischen Verletzung Anderer (vgl. auch Beetz 2009, 255f.). Derartige Ausgrenzungen aus dem Bereich der Moral sind aufs Engste mit Machtansprüchen und -verhältnissen zwischen Gruppen verwoben (Herzog 2019, 293f.). Intergruppenbeziehungen und -konflikte sind demnach eng mit abwertenden Kategorisierungen und Ausschlussmechanismen verbunden, die über die Zuschreibung mangelhafter oder fehlender Moral verlaufen und mit diskriminierenden, stigmatisierenden Unterscheidungen einhergehen, die symbolische Verletzungen etwa in Gestalt gewaltsamer Dyspräsentationen darstellen (Straub 2014, 88). Moral und konkurrierende moralische Positionen können als wesentliche Distinktionsmomente zwischen Personen und Gruppen dienen – oppositionelle moralische Überzeugungen können sogar die wichtigste Basis von Gruppenbildungen sein, die anhaltende Konkurrenzen und Konflikte mit sich bringen. Parker und Janoff-Bulman (2013) verstehen Moral sozialpsychologisch als Standards und Regeln einer Gruppe, die das soziale Miteinander regulieren und soziale Inklusion ermöglichen. Auch sie betonen die Artikulation und Verteidigung der eigenen moralischen Position als einen wesentlichen Aspekt von Intergruppenbeziehungen, insbesondere bei stark moralbasierten Gruppen, wie etwa Abtreibungsbefürworter_innen und -gegner_innen. Moral impliziert nicht nur die Frage, ob eine Handlungsweise oder Person, eine Praxis oder Lebensform besser oder schlechter sei, sondern stellt radikaler die Frage »about right and wrong […]. We may recognize that others hold a different moral position, but we regard them as ›wrong‹ and believe they should share our view of morality« (ebd., o.S.). Ein Verstehen der Gegenposition wird nicht immer angestrebt. Vielmehr werden Differenzen und dabei die Überlegenheit der eigenen Gruppe festgestellt und festgeschrieben. Nicht Verstehen, Verständigung oder Vermittlung, sondern das Be- und Verurteilen sowie Abwerten sind oftmals ein offenkundiger oder verdeckter Bestandteil von Moralisierung und moralischer Kommunikation (vgl. Bergmann 1999, 116f.).

Das bleibt nicht folgenlos für die Interaktion, da auf (stark) abweichende moralische Überzeugungen, Handlungen und Praktiken oftmals mit einem Bedürfnis nach sozialer Distanzierung, nach Ab- und Ausgrenzung sowie bisweilen mit unversöhnlicher Intoleranz und negativen Affekten reagiert wird. Moralische Distinktion umfasst also konkrete sittliche Verhaltensregeln einer Gruppe und geht mit normativen Abgrenzungen einher, die im Medium der moralischen Kommunikation den entwerteten Anderen die Achtung und Anerkennung versagen und sie der kollektiven Ächtung und Verachtung aussetzen (Bergmann 1999, 115ff.; Beetz 2009, 254f.). Sich moralisch im Recht zu wähnen, verbindet die Angehörigen einer Gruppe und bringt sie mitunter gegen Andersdenkende, anders Fühlende und Handelnde auf und gegen sie in Stellung. Über beidseitige Moralisierungen und radikale moralische Entwertungen können soziale Konflikte eskalieren (Beetz 2009, 254f.). Moral ist demzufolge nicht nur ein nach innen verbindendes und befriedendes, sondern zugleich auch ein nach außen polemogen wirkendes Medium. Moral kann die Angehörigen einer Gruppe zusammenschweißen und abweichende Andere ausschließen, sie »verandern« und zu fremden Abjekten machen (Straub und Tepeli 2021). Die Zuschreibung moralischer Differenz oder fehlender Moral ist nicht von Abgrenzungs- und Kategorisierungsprozessen zu trennen, denn »Kategorien für Personen oder Gruppen sind häufig nicht neutraler Art, sondern enthalten evaluative oder auch moralische Konnotationen« (Bergmann 2010, 163f.).

Gruppen – sowohl solche, die auf genuin moralischen Oppositionen basieren und auf deren Grundlage gebildet werden, als auch ethnische oder religiöse Gruppen, für die konfligierende moralische Überzeugungen für den Gruppenbildungsprozess keine notwendige Bedingung darstellen müssen – grenzen sich also hinsichtlich ihrer Werte, normativer Überzeugungen und Positionen voneinander ab, auch wenn der Grad, in dem die Moral für die Distinktion eine Rolle spielt, erheblich variieren kann (Parker und Janoff-Bulman 2013).

Moralische Grenzen und die Amoralität der Anderen im alevitisch-sunnitischen Verletzungsverhältnis

Ethnische oder religiöse Gruppen sind keine natürlich gegebenen Tatsachen, sondern entstehen, wie etwa Barth bereits (1969) ausführte, aus einem sozialen Prozess der Grenzziehung. Die von den betreffenden Gruppen markierten Unterschiede sind keine eindeutigen Tatsachen, sondern werden in relationalen Grenzziehungsprozessen ausgewählt, ausgehandelt und sozial konstruiert (Wimmer 2008, 63f.). Dass diese häufig über Moral verlaufenden, wertenden Kategorisierungs- und Grenzziehungsprozesse ihren Ursprung in einer Etablierten-Außenseiter-Figuration (Elias und Scotson 1990 [1965]) haben können, zeigen die alevitisch-sunnitischen Verletzungsbeziehungen geradezu prototypisch und paradigmatisch (Kaya 2009). Alevit_innen wurden im Osmanischen Reich mit der wertenden Zuschreibung und stark negativ konnotierten Auffassung, Ungläubige zu sein, konfrontiert und durch die hegemoniale sunnitische Orthodoxie aus dem Bereich der Moral weitestgehend ausgegrenzt, wodurch sie offiziell »für vogelfrei erklärt« (Sökefeld 2008b, 11) und staatlicher Verfolgung ausgesetzt waren (ebd.). Dabei werden die intergruppalen Abgrenzungen auch gegenwärtig an verschiedenen Alltagspraktiken, Sitten und Bräuchen wie der Esskultur, der Regelung der Geschlechterverhältnisse, der politischen Haltung, an religiösen Ritualen sowie an weltanschaulichen, philosophischen und religiösen Überzeugungen festgemacht (Taşçı 2006; Gorzewski 2010).

Es gibt eine ganze Reihe von negativen Vorurteilen gegenüber Alevit_innen. Ein sehr wirkmächtiges und hinsichtlich der moralischen Abwertung durch Sunnit_innen besonders erwähnenswertes möchte ich hier exemplarisch erläutern, da es aufs Engste mit der pejorativen und moralisch konnotierten Fremdbezeichnung der historischen Vorläufer_innen der Alevit_innen, den Kızılbaş, verbunden ist. An diesem Beispiel lässt sich die mitunter diskriminierende, stigmatisierende und exkludierende sowie weitere Formen von kollektiver Gewalt zulassende oder vorbereitende Funktion von Moral im Alltag gut veranschaulichen. Der Name »Kızılbaş« umfasst negative Stereotypen und bezieht sich auf eine Person ohne Moral, Ehre und Glauben und speziell auf jemanden, der oder die angeblich Inzest und damit den denkbar frevelhaftesten Tabubruch begehe (Sökefeld 2008b, 43). Dursun Tan erklärt die Bedeutung der interessierenden Bezeichnung konzise:

»Als Kızılbaş (Rotköpfe) seien sie ›Ketzer‹ und ›Kerzenlöscher‹ (sexuell promisk), was sie zu besonders gehaßten Unterdrückungsobjekten der orthodoxen Muslime macht. Sie seien ungläubig, da nicht orthodox, unrein, weil sie sich nicht rituell waschen, sexuell promisk, weil sich alle Männer und Frauen zwecks religiöser Zeremonie im selben Haus versammeln und dort tanzen« (Tan 1999, 71; Herv. im Orig.).

Dadurch, dass die Kızılbaş ihre Gottesdienste aufgrund der Verfolgung im Geheimen und Dunkeln durchführen mussten, befeuerten sie die kollektiven Fantasien ihrer sunnitischen Umwelt, was zu Vorstellungen von unmoralischen inzestuösen »Sex- und Sauforgien« während ihres gemischt-geschlechtlichen Gottesdienstes führte (Tan 1999, 71; Kehl-Bodrogi 1988, 228ff.). Insbesondere die Vorstellung des Inzesttabubruchs kann mit Norbert Elias und John L. Scotson (1990 [1965], 20ff. und 52) als Zuschreibung von Anomie, also von Normen- und Regellosigkeit gedeutet werden. Sie stellen fest, dass abwertende Begriffe für die machtschwächere Gruppe ein Charakteristikum von Etablierten-Außenseiter-Beziehungen sind, um die Außenseitergruppe in ihrem Selbstwert durch die Zuschreibung einer Gruppenschande herabzusetzen und das eigene Gruppencharisma sowie die beanspruchte Machtüberlegenheit zu bestätigen (ebd., 17f.). Die Mitglieder der statusschwächeren Gruppe erhalten Namen, die, wie im Fall der Kızılbaş, starke moralische Abweichungen symbolisieren. Ein weiteres Mittel der Stigmatisierung stellt der Klatsch dar (ebd., 33; Bergmann 1999, 109f.), zum Beispiel über den bereits erwähnten Inzestvorwurf, in dem sexualisierte und aggressive Zuschreibungen amalgamiert werden.2 Auch der phantasmagorische Inzestvorwurf ist als Tabubruch schlechthin eine moralische Herabsetzung und radikale Entwertung (vgl. dazu Freud 1912–13a).

Alevit_innen sind oder waren keine machtlose, unterwürfige Gruppe. Sie reagierten mit Gegenmaßnahmen und Gegenstigmatisierung. Krisztina Kehl-Bodrogi (1988, 230) beobachtete in ihrer Untersuchung in den späten 1980er Jahren beispielsweise, dass jahrhundertealte Vorurteile gegenüber Alevit_innen weiter fortbestanden. Die Kızılbaş/Alevit_innen blieben aber nicht passiv gegenüber abwertenden Unterscheidungen und Ausgrenzungen von Sunnit_innen und setzten sich zur Wehr, indem sie sich als Auserwählte und als »Angehörige der ›erretteten Gemeinschaft‹« (ebd.) verstanden, oder indem sie sich durch Spott und Hohn gegenüber der Religiosität der Sunnit_innen moralisch über diese erhoben (ebd.). In der Beziehung zu den Sunnit_innen sind die Alevit_innen dennoch – jedenfalls in der Türkei – die machtschwächere Gruppe geblieben (Kaya 2009, 24). Das kommt etwa darin zum Ausdruck, dass ihre eigenen moralisierenden Schimpfwörter und Kategorien – wie zum Beispiel »Ungläubige« oder »Yezid« (der Erzfeind der Schiit_innen und Alevit_innen) (Kehl-Bodrogi 1988, 230) – unwirksam blieben, da sie »keinen Stachel« hatten (Elias und Scotson 1990 [1965], 20).

Es ist interessant zu erkunden, wie die Alevit_innen sich selbst und wie sie die Sunnit_innen darstellen – in verschiedenen Ländern, auch im heutigen Einwanderungsland Deutschland. Maykel Verkuyten und Ali Yildiz (2011) untersuchten, wie der europäische alevitische Verband in seiner Zeitschrift Alevilerin Sesi (dt. Die Stimme der Alevit_innen) bei der Darstellung des für Alevit_innen und ihre kollektive Identität bis heute bedeutsamen Massakers von Sivas 1993 ein dualistisches Bild der unterdrückerischen und »bösen« Sunnit_innen zeichnete, das er mit den »guten« Alevit_innen konfrontierte. Diese Gegenüberstellung erfolgte zweifelsohne nicht grundlos, denn während eines alevitischen Kulturfestivals in Sivas 1993 setzte eine aufgebrachte Menschenmenge fundamentalistischer Sunnit_innen das Hotel Madımak, in dem alevitische Intellektuelle untergebracht waren, in Brand, wobei 37 Personen ums Leben kamen (Massicard 2013, 156).

Verkuyten und Yildiz fanden immer wieder selbstwertdienliche Abgrenzungen gegenüber den Sunnit_innen. Die Darstellung der traumatischen Gewaltereignisse in Sivas 1993 in der Zeitschrift Alevilerin Sesi erzeugt und verstärkt dadurch eine moralische Opposition sowie eine Gruppendifferenz hinsichtlich des Glaubens und moralischen Charakters, denn »according to the publications, Madımak illustrates the fundamentalist dimension of Sunni Islam and thereby defines a clear ›us and them‹ distinction« (ebd., 253f.). So definiere sich die alevitische Identität überwiegend über Verfolgung und Widerstand und fuße auf den historischen Kämpfen sowie der daraus entstehenden Notwendigkeit zur Verteidigung (ebd., 255). Die Autoren gehen davon aus, dass diese »unity in pain« eine starke, geteilte moralische Identität, die auf gemeinsamen moralischen Werten und auf einer »inclusive representation of victimhood« beruhe, konstituiere und auch andere unterdrückte Gruppen miteinschließe (ebd., 244 und 260). Verkuyten und Yildiz kommen deshalb in ihrer Analyse zu dem Schluss, dass die alevitische Identität als moralisch überlegene und tugendhafte entworfen werde und damit im Kontrast zur sunnitischen Identität stehe, die als unterdrückerische, unmoralische und boshafte konstruiert werde (ebd., 256f. und 263). Diese kollektive Wahrnehmung dokumentiert sich auch in den Erzählungen der beiden jungen Frauen, wie ich im folgenden Abschnitt zeigen werde.

Wie dargestellt, wurden stigmatisierende Zuschreibungen des moralisch verwerflichen Verhaltens wie der Inzest oder überhaupt des Mangels an Moral genutzt, um die Alevit_innen abzuwerten. Im Folgenden möchte ich anhand eigener empirischer Analysen zeigen, wie die kollektiv erlittenen Verletzungen in der negativen Fremdwahrnehmung der aus Sicht meiner Interviewpartnerinnen unmoralischen, unterdrückerischen Sunnit_innen auch im heutigen Deutschland weiter tradiert werden und wie durch die (zumindest auf kommunikativer Ebene behauptete) Aufrechterhaltung der Heiratsschranke gegenüber sunnitischen Männern die feindschaftliche Grenzziehung zwischen den Gruppen verfestigt wird.

Moralische Verletzung und das Negativbild einer alevitisch-sunnitischen Ehe

In der alevitisch-sunnitischen Etablierten-Außenseiter-Figuration sind Aushandlungen und Kämpfe um die »richtigen«, religiös begründeten Werte und Regeln, soziale Normen und Bräuche mit ihren unterschiedlichen Auslegungen in religiösen Praktiken und Ritualen eng mit Vorstellungen von Reinheit und Unreinheit verschränkt (vgl. dazu Straub 2020). Was als moralisch oder unmoralisch gilt, wird entsprechend an minutiös registrierten Differenzen im Alltag wie etwa dem Konsum von Alkohol, dem Verzehr von Schweinefleisch oder dem Umgang der Geschlechter in relationalen Grenzziehungsprozessen ausgehandelt. Diese über Moral verlaufenden Abgrenzungs- und Distinktions-, Inklusions- und Exklusionsvorgänge werde ich im Folgenden am Beispiel der sozialen Kategorie des weiblichen Geschlechts und der Beziehungsform der interreligiösen Ehe auf Grundlage der Perspektiven alevitischer Frauen analysieren.

Die empirische Grundlage bilden elf von März 2017 bis November 2018 geführte Gruppendiskussionen mit Realgruppen sowie sieben narrative Interviews mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, überwiegend Studierende und Schüler_innen. Einige der Gruppen setzten sich aus alevitischen und sunnitischen Forschungspartner_innen zusammen, andere nur aus sunnitischen oder alevitischen Personen. Die erhobenen Daten wurden mit der an die dokumentarische Methode (Bohnsack 2014) angelehnten relationalen Hermeneutik (Straub 2010) ausgewertet. Die hier verwendete Gruppendiskussion lässt sich als milieu- beziehungsweise gruppeninterne Begegnung von zwei alevitischen Freundinnen verstehen, für die ich die Pseudonyme Handan (27 Jahre alt, Studentin) und Ayla (28 Jahre alt, Studentin) nutze.

Indem ich die von zwei Alevitinnen ausgehandelte, sozial geteilte Fremdwahrnehmung von sunnitischen Männern rekonstruiere und die identitäts- und handlungsrelevanten Äußerungen meiner Forschungspartnerinnen mit der historisch tradierten Figuration und der Verletzungsbeziehung zwischen den Gruppen ins Verhältnis setze, möchte ich verdeutlichen, dass die negative Fremdwahrnehmung und die damit verbundene Zuschreibung fehlender Moral aufseiten der sunnitischen Gruppe mehr zum Ausdruck bringt als das (allgemeine) psychologische Bedürfnis, sich selbst durch die systematische Abwertung von Anderen aufzuwerten. In den von mir ausgewählten Sequenzen ist nicht die moralische Kommunikation an sich der zentrale Gegenstand meiner Analyse, sondern die soziale Erwartung beziehungsweise das Vorurteil meiner alevitischen Forschungspartnerinnen, von sunnitischen Männern in einer imaginierten Intergruppenehe moralisch beurteilt und entwertet werden zu können. Deshalb verwende ich den Begriff der Moralisierung so, dass er primär auf die vorgestellte und erwartete moralische Zurechtweisung und Normierung und einen damit einhergehenden Anpassungsdruck sowie Authentizitäts- und Autonomieverlust in einer gemischt-religiösen Ehe bezogen wird.

Endogame Schließung und geschlechtsspezifischer Erwartungsdruck

Alevitische Frauen lehnen in der angstbesetzten Erwartung, von sunnitischen Männern und deren Familien in ihren Freiheiten eingeschränkt und als weibliche Person unterdrückt zu werden, eine interreligiöse Ehebeziehung mit sunnitischen Männern häufig ab (vgl. Taşçı 2006, 225). Das Spektrum als einengend empfundener Vorschriften reicht dabei von der Kleiderordnung über geschlechtsspezifische Verhaltenserwartungen bis zum religiösen Glauben oder politischen Überzeugungssystem. Die alevitische Kollektivempfindung der Angst vor moralischer Normierung und erwartetem Anpassungsdruck führt zu einer partiellen Schließung der Eigengruppe gegenüber den Sunnit_innen, die an zentraler Stelle durch das Prinzip der Endogamie gewährleistet wird. Erklären lässt sich diese Schließung zum einen mit dem hohen Grad an sozialer Nähe, der in der intimen Beziehungsform der Ehe üblich ist, denn Freundschaftsbeziehungen werden sehr wohl gepflegt. Zum anderen lässt sich die Schließung auch mit der allgemeinen Bedeutung des Endogamiegebots erklären, da eine Ehe in der eigenen ethnischen oder religiösen Gemeinschaft den Zusammenhalt der kulturellen Gruppe nach außen kommuniziert (Thode-Arora 1999, 94f.). Das Besondere an der alevitisch-sunnitischen Figuration ist dabei, dass diese Schließung gegenüber den Sunnit_innen zum Schutz der Eigengruppe und aus Angst vor der Beschädigung und Vernichtung ihrer kulturell-religiösen Identität entstanden und damit als eine psychosoziale Spätfolge historischer Verletzungsverhältnisse aufzufassen ist. So stellte für Alevit_innen in ihren ursprünglich dörflichen Heimatregionen jede Ehe mit Sunnit_innen ein religiöses Tabu dar. Wer dagegen verstieß, lief Gefahr, aus der Gemeinschaft verstoßen zu werden (Balkanlıoğlu 2011, 31). Der soziale Druck, endogam zu heiraten, wurde durch die Gemeinschaft und die Eltern ausgeübt und galt dabei – wie auch bei anderen Gruppen beobachtet wurde – noch stärker für die Frauen als für die Männer (ebd., 31 und 87). Meine Daten belegen diese Asymmetrie.

Selbst- und Fremdwahrnehmung der jungen Frauen und ihre Begründung der Grenzziehung

Das implizite und explizite Wissen darüber, dass eine sunnitisch-alevitische Ehe ein Stigma für die Familien darstellt (Mahçupyan 2017, 23; Taşçı 2006, 225), setzt sich transnational und intergenerational auch in der Diaspora fort. Das belegen die Daten aus meinem Sample eindrücklich. Schauen wir uns zunächst die Begründungen für die Grenzziehung an, indem wir die Eigen- und Fremdgruppenwahrnehmung aus der Perspektive der alevitischen Frauen rekonstruieren. In einem bereits 2012 erhobenem Paarinterview zu bikulturellen Partnerschaften, das ich mit Handan und ihrem Partner Andreas führte, hatte ich erfahren, dass die Eltern sich in ihre Partnerwahl nicht einmischen würden – es sei denn, der Partner wäre sunnitischer Herkunft. Für die Ablehnung dieser Wahl wurden religiöse Gründe und die Angst vor Anpassungsdruck angeführt. In der Erzählung von Handan dokumentierte sich bereits damals die soziokulturelle Tatsache, dass die Eltern keine generelle Endogamieorientierung verfolgen und ein »deutscher« Partner gegenüber einem Sunniten bevorzugt wurde.

Aufgrund dieses sensibilisierenden, meine weiteren Forschungen leitenden Wissens fragte ich in der fünf Jahre später stattfindenden Gruppendiskussion mit ihrer Freundin Ayla noch einmal nach. Dabei stellte sich heraus: Handan teilt mit Ayla die Erfahrung, dass eine sunnitisch-alevitische Ehe von ihren Eltern abgelehnt würde, eine Ehe mit einer nicht-sunnitischen Person beziehungsweise einer – so wird die eingeschränkte Toleranz spezifiziert – »deutschen« oder »europäischen« Person dagegen als unproblematisch angesehen wird:

Und wie standen dann zum Beispiel eure Eltern zu so Sachen wie interreligiöse Ehen, interkulturelle Ehen? Wie stehen eure Eltern dazu?

Handan: Mmh.

Ayla: Total dagegen, verboten auf gar keinen Fall ((lachend)).

((Lacht))

Ayla: Ach ne also ich hab ja schon vorher gesagt, solang es keine Sunniten sind.

Handan: Ja, mmh.

Ayla: Und Hindu und ((lacht)).

Handan: Mmh ((lacht)).

Ayla: Oder afrikanisch ((lachend gesprochen)), Dingens so im europäischen Bereich.

Handan: Ja.

Ayla: haben die so kein Problem.

Mmh.

Ayla: also ehm.

Handan: Sagen wir mal erst mal, erst mal ’n guter Mensch.

Ayla: Ja

Handan: das ist das Wichtigste, aber dann, aber dann besser kein Sunnite, lieber Deutsch.

Ayla: ((lacht))

Handan: ((unverständlich))

Ayla: Ja.

Handan: Ne eh sowas ehm ja nich so religiös, der soll ein, ein weltoffener Mann sein ((leise gesprochen)).

Ayla: Ja aber ich glaub auch ein ganz streng religiöser würd, ein religiöser Mensch würde auch mit unseren, mit uns nicht klarkommen. Das ist auch das Problem, also weiß ich nicht wir Cousins, Cousinen, Bekannten wir, wenn wir uns sehen knutschen wir uns alle ab, Küsschen hier, links und rechts, Umarmung ((lacht)) Umarmung.3 (Handan und Ayla 2017, Z. 1567ff.)

Ähnlich wie auch in anderen von mir befragten Gruppen ist die erste und eindeutig unerwünschte Referenzgruppe der Eltern – hier noch neben anderen, zweitranging abgelehnten Gruppen – sunnitisch. Der Ausspruch »besser kein Sunnite lieber deutsch« oder »europäisch« zeigt die stärker empfundene Nähe gegenüber Mitgliedern der sogenannten autochthonen »Mehrheitsgesellschaft« im (teilweise stark säkularisierten) Einwanderungsland, die in der Wahrnehmung der Eltern den positiven Gegenhorizont zu den (allzu) religiösen Sunnit_innen bildet. Es besteht kein generelles Endogamiegebot. Dieses bezieht sich auf Sunniten und weitere nicht-europäische, religiöse wie auch kulturelle und ethnische Gruppen, die von den Eltern für die Tochter als akzeptable Ehemänner ausgeschlossen werden. Der Grad von empfundener Nähe und Distanz verläuft demnach an unterschiedlichen Differenzmarkern wie Religion, Konfession, Kultur oder Nation sowie damit assoziierten Vorstellungen moralischer Integrität. Dabei sind diese Kategorien keineswegs trennscharf und allesamt nicht wertfrei, da mit ihnen unweigerlich moralische Konnotationen verbunden sind, die sich teilweise überschneiden. Das religiös begründete Tabu, exogam zu heiraten, gilt explizit für die konfessionell markierten sunnitischen Männer, was sich auch in der wiederholten Nennung dieser Gruppe verdeutlicht. Diese Ansicht teilen beide Frauen in ihrem konjunktiven, von elterlichen Erwartungen bestimmten Erfahrungsraum. Sunnitischen Männern wird per se abgesprochen, moralisch integer und aufrichtig sein zu können. Historisches Wissen legt die Vermutung nahe, dass dies nicht allein an den (in der Gruppendiskussion angedeuteten) verschiedenen religiösen Überzeugungen und Orientierungen von Alevit_innen und Sunnit_innen liegen kann.

Festzuhalten ist, dass primär die zugeschriebene moralische Integrität darüber entscheidet, wer als exogamer Ehemann überhaupt infrage kommen könnte. Sekundär wird die spezielle Gruppenzugehörigkeit relevant (eine deutsche Herkunft gilt als akzeptabel, eine afrikanische nicht; eine säkulare Orientierung scheint annehmbar, der hinduistische Glaube nicht). Wir können resümieren, dass die von meinen Forschungspartnerinnen konstruierten Fremdbilder (vorgeblich auch von den Eltern bevorzugten) deutschen und europäischen Männern prinzipiell zugestehen, »gute Menschen« und damit moralisch integer zu sein, sunnitischen (und »hinduistischen« wie »afrikanischen«) Männern diese Eigenschaft aber von vornherein abgesprochen wird. Die bislang lediglich angedeutete, nicht näher spezifizierte An- oder Abwesenheit moralischer Integrität wird – zumindest in der hypothetischen Auseinandersetzung – als maßgeblich für den Prozess der Partnerwahl erachtet.

Aus Sicht der Forschungspartnerinnen stehen sich die moralisch positiv besetzten Personenkategorien »Alevit_innen« und »Deutsche« (sowie andere europäische Gruppen) relativ nahe. Die Sunnit_innen und deren Lebensform werden dagegen als religiös, distant und zugleich als unmoralisch qualifiziert und exkludiert. Die notwendige Bedingung, »ein guter Mensch zu sein«, wird von der heterogenen Gruppe der Sunnit_innen als nicht erfüllt erachtet – ohne dies explizit begründen zu müssen. Erste Andeutungen gibt es jedoch schon. Das Sunnitischsein symbolisiert für die Forschungspartnerinnen eine stark ausgeprägte, womöglich sogar absolut gesetzte oder tendenziell fundamentalistische Religiosität, welche in der Erzählung der Frauen über ihre Eltern einen negativen Gegenhorizont zur eigenen Lebenswelt darstellt und damit das Gegenteil eines »weltoffenen Menschen«. Auch in der Untersuchung von Hülya Taşçı (2006, 188) zeigt sich diese Wahrnehmung: Toleranz gegenüber anderen Religionen wird als alevitisch gedeutet, Intoleranz dagegen den religiösen Sunnit_innen zugeschrieben, die anderen ihre eigene Religion aufoktroyieren wollten (und schon deswegen unmoralisch handeln; vgl. Verkuyten und Yildiz 2011). Sunnitische Männer sind in der Sicht der Alevit_innen also »weltverschlossen« – sie werden als sehr religiös, oftmals kompromisslos, rigide und totalitär gesinnt charakterisiert. Den Sunnit_innen wird über die Zuschreibung eines vereinnahmenden Wesens Totalität, den Alevit_innen dagegen die Fähigkeit für Offenheit und Toleranz gegenüber Pluralität, Alterität, Fremdheit sowie Kontingenz zugesprochen (Straub 2015, 138). Was wir daraus ableiten können, ist, dass eine alevitisch-geteilte Orientierung an Offenheit gegenüber der Welt und speziell den sozialen Welten der Anderen neben der gleichzeitigen Verschlossenheit gegenüber sunnitischen Männern und ihrer als »stark« etikettierten Religiosität bestehen kann, ohne dass dies als Widerspruch oder Orientierungs- oder Wertekonflikt empfunden würde. Die Differenzierung und Zuschreibung moralischer Integrität versus Unaufrichtigkeit und Übergriffigkeit wird auch durch die Gegenüberstellung von (schwachem, undogmatischem) Glauben und (starker, rigider) Religiosität sowie von Offenheit und Toleranz versus Verschlossenheit und Intoleranz bestätigt und bekräftigt.

Den Sunniten wird insbesondere im Umgang mit den Geschlechtern eine dezidierte Ablehnung der alevitischen Lebensweise zugeschrieben. Demgemäß wird ein scharfer Konflikt in einer Intergruppenehe erwartet, da diese Ehe auch die erweiterte Familie tangiert (vgl. Aylas Aussagen über den Umgang zwischen Cousinen und Cousins). Aus dieser nostrozentrischen Wahrnehmung der Anderen heraus, aber auch auf der erfahrungsgesättigten Grundlage intergenerationaler Tradierungen wird eine moralische Inkompatibilität zwischen den beiden Gruppen festgeschrieben. Im Sprechen der beiden Frauen ist jedoch durchaus ein Bewusstsein für Binnendifferenzen in der sunnitischen Gemeinschaft gegeben, denn die Abgrenzung betrifft speziell »ganz streng religiöse« Sunniten. Dennoch bereitet den Frauen die Vorstellung, einen sunnitischen Mann zu heiraten, Unbehagen. Es lässt sich insgesamt beobachten, dass die Frauen von ihren Eltern implizit und explizit zur Wahrung der Gruppengrenze durch das Heiratstabu ermahnt werden und dies verinnerlicht haben.

Das Fremdbild der intoleranten, moralisch verwerflichen Sunnit_innen zeugt von tief verankertem Misstrauen gegenüber dieser Gruppe (Kehl-Bodrogi 1988, 232). Deshalb lässt sich von einer eingeschränkten Offenheit junger alevitischer Frauen sprechen, die mit der empfundenen Nähe und Distanz zu den jeweiligen Gruppen in Zusammenhang gebracht werden kann. Allerdings nicht allein damit, denn es ist kein Zufall, dass die Gruppengrenze just zu den sunnitischen Anderen so scharf gezogen wird. Diese beiden Gruppen verbindet ja eine verletzliche Beziehung zueinander, die aus exzessiven kollektiven Gewalterfahrungen hervorgegangen ist, deren psychosoziale Wirkungen bis in die Gegenwart heutiger Einwanderungsgesellschaften nachvollzogen werden können. Es wäre daher nicht ausreichend, die interessierenden Grenzziehungen lediglich auf ihre psychologische Funktion der Aufwertung der Eigengruppe zu reduzieren (und so verstehend zu erklären).

Die auch von jungen alevitischen Frauen empfundene Angst vor drohender Vereinnahmung durch die sunnitischen Anderen und dem Verlust von Authentizität und Autonomie ist auch geschichtlich verankert und transgenerational vermittelt. Die kollektiv wahrgenommene Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit der alevitischen Lebens- und Existenzweise verdankt sich seit jeher dem Rückzug und der Gegenwehr gegen den Anpassungsdruck durch die sunnitische Orthodoxie (Dressler 2002, 122f.). Daran kann verdeutlicht werden, wie moralische Kommunikation sowie die empfundene und befürchtete Normierung von Identität starke Affekte hervorruft, die besonders auf die soziale Kategorie des weiblichen Geschlechts bezogen sind.

Die Angst vor Assimilation und der Verlust der eigenen Authentizität und Autonomie

Die Interviewerin fragt mehrfach nach, wovor die Eltern sich denn genau fürchten würden. Der Sinngehalt der Furcht wurde zwar von der Interviewerin eingeführt, doch die Reaktion der Befragten lässt erahnen, dass die Frage unmittelbar an ihr eigenes Relevanzsystem anschließt:

Ehm, ich wollte eigentlich grad noch was fragen, zu dem Thema interreligiöse Ehe. Und zwar eh habt ihr ja so ein bisschen auch erzählt, dass eure Eltern dagegen wären wenn ihr jetzt einen sunnitischen Mann heiraten würdet. Die Frage wäre, also ihr habt das ja schon so n bisschen erzählt, aber was glaubt ihr wovor die sich fürchten würden und teilt ihr diese Ansichten oder nicht?

Handan: Die würden sich davor fürchten dass wir ehm uns unterwerfen müssen.

Ayla: Mit Kopftuch ja.

Handan: Was die Religion betrifft, was vielleicht eh den Lebensstil an sich betrifft, dass wir ein Kopftuch tragen müssen, dass wir einfach in unserer Freiheit eingeschränkt.

Ayla: Mmh.

Handan: Eh wären, was lustig ist, weil wir so viel Freiheit.

Ayla: Freiheit ((lacht))

Handan: ((lacht))

Ayla: Wir haben ja grad darüber voll gemeckert ne ((lacht)).

Handan: Ehm ja davor hätten die eben Angst. Die hätten Angst davor, dass wir quasi auf die andere Seite gehen würden. Das wir in die Moschee gehen würden, dass wir uns denen anpassen würden.

Ayla: weil wir ja so religiös sind ((lacht)).

Handan: Mmh, dass wir, dass wir wahrscheinlich das aufgeben würden wofür unsere Eltern gekämpft haben oder was denen wichtig ist Freiheit, Meinungsfreiheit und eh ja, ja, das denk ich, davor hätten die Angst.

Ayla: Also offen haben wir das Thema zum Beispiel nicht so besprochen.

Mmh.

Ayla: Ich hab auch gesagt dass meine Tante mit so einem komischen Sunniten verheiratet ist und sie hatten auch sehr viele Schwierigkeiten wobei auf der anderen Seite ist eine Tante von mir die mit einem Verwandten verheiratet ist und die hat genauso viele Schwierigkeiten also.

Handan: Ja. (Handan und Ayla 2017, Z. 1596ff.)

Dieser kurze Ausschnitt aus der Gruppendiskussion verdeutlicht bereits die Einigkeit der beiden Frauen, dass die Eltern Befürchtungen und Ängste haben, sobald es um ihre eigenen Töchter und eine imaginierte Ehe mit sunnitischen Männern geht. Interessant ist auch Aylas Bemerkung, nicht »so offen« mit ihren Eltern über das Thema gesprochen zu haben. Das heißt, dass die betreffenden kollektiven Wissensbestände und Ängste von den Eltern womöglich nicht direkt, sondern eher nonverbal erinnert und in leiblichen Praxen tradiert wurden (Straub 2014, 83). In der wiedergegebenen Sequenz findet sich auch wieder das Bild von Sunnit_innen als einer Differenzen unterdrückenden, über andere Menschen bestimmenden und diese maßregelnden Gruppe, die im Hinblick auf religiöse Praktiken (z.B. Moscheebesuch) oder auch auf Kleidungsnormen für Frauen (z.B. das Kopftuch) alle Abweichenden zur Anpassung zwingen würde. Es wird antizipiert, in einer alevitisch-sunnitischen Ehebeziehung als alevitische Frau unterdrückt und gewaltsam »bekehrt« zu werden. Das Thema der Authentizität und Autonomie im Sinne der Frage »Werde ich sein können, wer ich bin und wie ich bin und sein möchte?« ist demnach in diese asymmetrische, hegemoniale Figuration eingebettet und ein besonders wirkmächtiger Aspekt der befürchteten moralischen Zurechtweisung und Normierung durch die sunnitischen Anderen. Die kollektiv geteilte Wahrnehmung dieser Anderen zeigt demnach, dass von ihnen eine starke Bedrohung ausgeht, die mit der intensiv empfundenen Angst vor Selbstverlust beziehungsweise der Einbuße von Authentizität und Autonomie einhergeht. Die gefürchtete »Zwangskonvertierung«, die Teil ihres kollektiven Erlebnisgrunds ist, kann als Angst vor »Sunnitisierung« gedeutet werden, die in der Türkei sowohl einen historischen als auch höchst aktuellen Ereignisbezug aufweist (Ağuiçenoğlu 2012, 566).

Die tradierte Grenzziehung gegenüber potenziellen sunnitischen Ehemännern soll die Töchtergeneration vor einer antizipierten »Unterwerfung« bewahren, die sinnbildlich am Symbol des Kopftuchs als Zeichen von Unfreiheit und Zwang festgemacht wird. Denn das Kopftuch steht in dieser Sicht für ein religiöses Dogma (Taşçı 2006, 176). Der geteilte kollektive Erfahrungsraum der jungen Frauen wird durch die Tradierung dieser Angst der Eltern vor Moralisierung und moralischer Normierung, welche sich in Anpassungsdruck, Zwang und dem Verlust einer authentischen alevitischen Lebensweise ausdrückt, strukturiert.

Wider den Ausschluss von Sunniten als Ehegatten: Selbstkritische Reflexionen

In dem Widerspruch, den die Frauen artikulieren und ansatzweise sogar selbst aufdecken, steckt bereits Kritik an ihren Eltern, die sich zwar im Vergleich mit den Sunnit_innen als freier und offener darstellen würden, jedoch ihre eigenen Kinder kontrollieren und deren Entscheidungsfreiheit einschränken, etwa dann, wenn es um die Partnerwahl geht. Beide Frauen setzen sich reflexiv und kritisch mit den von den Eltern angebotenen Einstellungen und Orientierungen auseinander. Am Schluss der zitierten Sequenz wird nämlich herausgestellt, dass die Ehe mit einem Mitglied der Eigengruppe nicht zwingend positiver verlaufen muss und schon diese Überlegung stellt die strenge Dichotomie des »guten« alevitischen und des »schlechten« sunnitischen Mannes infrage. Ayla und Handan kritisieren und verurteilen im Verlauf der Gruppendiskussion letztlich das folgende moralische Gebot ihrer Eigengruppe scharf:

Ayla: […] also ne so ich mein der sagt şey, ne olursa olsun, bizden olsun. [dt.: Dings, egal was er auch ist, Hauptsache einer von uns]

Mmh

Ayla: diyorlar [sagen sie]. Es ist egal was er ist, Hauptsache einer von uns.

Mmh.

Handan: Ja.

Ayla: Aber ehm das find ich nicht, weil unsere, also die kurdischen Aleviten genauso scheiße sein können.

Mmh

Ayla: wie eh wie so ’n türkischer Sunnite.

[…] (Handan und Ayla 2017, Z. 1627ff.)

Aus der Orientierung an der Erfahrung, dass auch Mitglieder der Eigengruppe »scheiße« sein und einen »schlechten Charakter« haben können, kritisieren die beiden Frauen ihr Herkunftsmilieu und dessen moralisierende und homogenisierende Zuschreibungen gegenüber sunnitischen Männern. So widersprechen beide der Orientierung innerhalb ihrer familialen Herkunftsgruppe, dass die Eigengruppenmitgliedschaft und die Endogamie das wichtigste Gebot in der Partnerwahl darstelle. Beide Frauen distanzieren sich von der pauschalen Haltung der Eltern und Verwandten. Das zeigt sich insbesondere an der Kritik gegenüber dem auf Türkisch gesprochenen, unausweichlichen moralischen Gebot beziehungsweise dem Imperativ: »Egal was er auch ist, Hauptsache einer von uns«, welches die Eigengruppenmitgliedschaft zum höchsten Auswahlkriterium macht. Ebenso wird die klare Trennung zwischen den moralisch guten Alevit_innen und den schlechten Sunnit_innen in dieser Sequenz damit untergraben und aufgehoben. Die positive Wahrnehmung der Eigengruppe gerät aus Sicht der Frauen ins Wanken. Dennoch haben sie verinnerlicht, dass eine sunnitisch-alevitische Ehe nicht wünschenswert ist, denn selbst wenn die Frauen einen säkularen sunnitischen Mann heiraten würden, bliebe die Angst vor einer im Alter plötzlich eintretenden Religiosität des Mannes bestehen (Handan und Ayla 2017, Z. 1647ff.). Die Frauen befinden sich also in einem Orientierungsdilemma.

Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass die Familie einen hohen Stellenwert in der Partnerwahl besitzt, just diese soziale Tatsache von den jungen Frauen aber auch kritisch reflektiert und hinterfragt wird. Das Fallbeispiel veranschaulicht, wie sich die psychosozialen Auswirkungen und intergenerationalen Tradierungen von erlittenen Verletzungen im konjunktiven Erfahrungsraum der jungen Frauen reaktualisieren. Auch sie sind nicht frei von Abgrenzungs- und Abschließungsbemühungen, die aus Angst und in der Antizipation drohender Übergriffe und Fremdbestimmungen erwachsen. Strenge Religiosität sowie das damit assoziierte unmoralische Verhalten missionarisch-übergriffiger sunnitischer Männer und ihrer Familien, mithin die Angst vor Selbstverlust, markieren die psychische Notwendigkeit einer scharfen Grenzziehung zwischen Eigen- und Fremdgruppe.

Moralisierung als diskursive Praxis der Inklusion und Exklusion

In der vorgestellten Analyse wird deutlich, dass das Selbstverständnis der Alevit_innen und ihre Gruppenkonstitution nicht ohne den wiederholten Vergleich mit den Sunnit_innen auskommt. Die beiden Gruppen verbindet eine weit in die Vergangenheit zurückreichende Verletzungsgeschichte, die noch die gegenwärtigen Beziehungen merklich prägt. Selbst wer um Verständigung und Versöhnung bemüht sein mag, vergisst nicht (und vergibt und verzeiht vielleicht auch nicht einfach alles) (vgl. Straub 2014). Aus diesem historisch tradierten, kommunikativ und interaktiv vermittelten Verhältnis heraus beziehen die Alevit_innen ihr eigenes Selbst- und auch Moralverständnis, welches in Opposition zu als macht- und herrschaftsorientiert charakterisierten Sunnit_innen bestimmt wird. Es scheint zwar paradox, aber durch die geübte Kritik an dem moralisch verwerflichen Charakter der Sunnit_innen und ihren Regeln, Sitten und Bräuchen, die eng mit Überlegenheitsgebaren und hegemonialen Ansprüchen verbunden werden, werten die Alevit_innen ihre Eigengruppe auf und schreiben nun sich selbst moralische Überlegenheit zu.

Bei den von mir analysierten Sequenzen handelt es sich zwar nur um einen kleinen Ausschnitt aus der komplexen Beziehung zwischen den interessierenden Gruppen. Doch verweisen bereits diese kurzen Passagen und Analysen auf das Muster der Basis- beziehungsweise Meisterdifferenz gegenüber den Sunnit_innen (vgl. Sökefeld 2008a, 2008b), die nicht zuletzt über moralische oder moralisch konnotierte Abgrenzungen verläuft. Auch weitere von mir erhobene Daten und empirische Vergleichshorizonte – wie etwa die jährlichen Erinnerungen an das Massaker von Sivas 1993 durch die alevitische Gemeinde Deutschland (AABF) – bestätigen die bleibende Bedeutung dieser Basisdifferenz in bestimmten Konstellationen, wie etwa einer Ehebeziehung.

Die Analysen legen es nahe, die intergenerational tradierte Bedeutung konkreter historischer (Gewalt-)Ereignisse, aber auch Erzählungen und nonverbale, unbewusste und interaktiv vermittelte aktionale Erinnerungen und Inszenierungen, die sich in den soziokulturellen Erfahrungs- und Erlebnisgründen der Subjekte niederschlagen, psychologisch ernst zu nehmen. Sie prägen das Selbst- und Weltverhältnis und das Handeln von Nachkommen oftmals noch nach Generationen. Exzessive kollektive Gewalt vergeht und verblasst nicht einfach (vgl. Straub 2014, 77–83). Das zeigen viele Begegnungs- und Beziehungsgeschichten – man denke neben Alevit_innen und Sunnit_innen auch an Menschen jüdischen Glaubens und Deutsche nicht jüdischen Glaubens, die nicht nur von Jüdinnen und Juden noch lange als Nachfahren der Nazis betrachtet und gefürchtet werden dürften, oder an die belasteten Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen, die (nicht nur in den Vereinigten Staaten von Amerika oder Südafrika) bis heute im Schatten der Sklaverei und anderer Formen exzessiver kollektiver Gewalt stehen.

Vieles von dem, was sich gegenwärtig zwischen Alevit_innen und Sunnit_innen abspielt – irgendwo auf der Welt –, lässt sich nur verstehen und erklären, wenn wir uns mit ihrem gemeinsamen Gewordensein und mit ihren einseitigen oder beidseitigen Verletzungen auseinandersetzen. Die erlebten und tradierten kollektiven Verletzungen haben ihre psychosozialen Spuren hinterlassen. Es gehört zu den Aufgaben einer kritischen Sozial- und Kulturpsychologie, sie zu rekonstruieren und damit Verständigungsmöglichkeiten zwischen Gruppen zu schaffen, die sonst verschlossen blieben. Dadurch können scheinbar unverrückbare Grenzen in ihrer Genese und Funktion erkannt und womöglich hinterfragt und verschoben werden, denn Grenzziehungen sind stets situative und strategische Operationen, keine Naturgesetze. Das zeigen nicht zuletzt von mir erhobene Daten, die von alevitisch-sunnitischen Freundschaften zeugen und sogar von eingegangenen Ehen erzählen, auch wenn dadurch ein gerade in der alevitischen Gemeinschaft verhärtetes Tabu gebrochen und die Bindung an die Herkunftsfamilie aufs Spiel gesetzt wurde. Aber das ist eine andere Geschichte.

Anmerkungen

[1]
Ich bedanke mich herzlich für die kollegiale Unterstützung durch Ines Gottschalk, Rebecca Thrun und die konstruktiven Anmerkungen und Kommentierungen durch Jürgen Straub sowie die Gutachter_innen des Beitrags.
[2]
In einigen der Passagen wie etwa hier übernehme ich Formulierungen aus einem an anderer Stelle publizierten Aufsatz, den ich gemeinsam mit Jürgen Straub verfasst habe (vgl. Straub und Tepeli 2021).
[3]
Aus Gründen der Lesbarkeit verzichte ich an dieser Stelle auf detaillierte Transkriptionszeichen.

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Die Autorin

Dilek A. Tepeli, M.A. Sozialwissenschaft, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl für Sozialtheorie und Sozialpsychologie der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Identitäts-, Intergruppen- und Habitusforschung, soziale Stigmatisierungs-, Vorurteils- und Ungleichheitsforschung, qualitative Sozialforschung.

Kontakt: aysel.tepeli@rub.de; Homepage: www.forschungskolleg-replir.de/