Die Individuen in der Gesellschaft bewegen sich in einer unauflöslichen Dialektik von Widerstand und Anpassung (Peter Brückner). Bei der Therapie von Opfern von organisierter Gewalt und Verfolgung wird diese Dialektik oft zu einer schwer erträglichen Spannung. Die Reflexion dieser Spannung durch den Therapeuten/die Therapeutin und das jeweilige Team ist unabdingbar und wichtig. Insbesondere der Affekt der Empörung, welcher auf die gesellschaftliche Verleugnung und das verbreitete »Blaming the Victim« antwortet, muss bewältigt werden. Schlagwörter: Anpassung, Widerstand, Behandlung von Gewaltopfern, Ego States von PsychotherapeutInnen, Verleugnung des Traumas, Blaming the Victim, Empörung
Schüsselwörter: Anpassung, Widerstand, Behandlung von Gewaltopfern, Ego States von PsychotherapeutInnen, Verleugnung des Traumas, Blaming the Victim, Empörung
Life of human individuals in a society takes place in a dialectical relation between adaptation and resistance (Peter Brückner). In the treatment of victims of organized violence and persecution, this dialectical relation is often turning into a stressful tension. The reflection of this tension by the therapist, and also by his or her team, is essential. Especially the personal indignation, which is an answer to the social trauma and the »blaming the victim« has to be managed. Key words: Adaptation, Resistance, Treatment of Victims of Violence, Ego States of the Therapist, Denial of Trauma, Blaming the Victim, Indignation
Keywords: Adaptation, Resistance, Treatment of Victims of Violence, Ego States of the Therapist, Denial of Trauma, Blaming the Victim, Indignation
Mit Peter Brückner, dessen Beiträge zu einer kritischen Psychologie heute nicht mehr viele kennen, kann man sagen, dass wir in einem nicht hintergehbaren »Zusammenhang von Widerstand und Leben« existieren. Was damit gemeint ist hat er u. a. in seiner Kritik an der RAF ausgeführt. (Brückner 1976, 176-180) Die RAF hatte – anknüpfend an die Ghettoisierung und Selbstmarginalisierung der der westdeutschen Linken – den zunächst berechtigten Widerstand (gegen die atomare Bewaffnung, Vietnamkrieg, Neokolonialismus, die Notstandsgesetze, Berufsverbote) totalisiert, das Alltagsleben und die Freude am Leben, das temporäre Glück der Menschen, die immer auch mit einer Anpassung verbunden sind, als Komplizenschaft mit den Unterdrückern verdächtigt und entwertet. Für Brückner sind Glück und Leben auch in einem entfremdeten Kontext möglich. Nur in einem »Amoklauf der Abstraktionen« (Brückner & Sichtermann 1974, 72 ff.) kann man dies vergessen. Zudem gilt, so schreibt Brückner in seiner Autobiographe über den halbjüdischen Jugendlichen im Naziregime: »Ohne ein Stück Anpassung wird man Opfer eines Systems, dessen Eigentum als Gehilfe man nicht sein will.«(Brückner 1980, 110) Auf der anderen Seite kann die Totalisierung der Anpassung – das Ausbleiben oder Aufgeben des Widerstandes gegen Barbarei und Faschismus, der Rückzug in die mehr oder weniger idyllischen Routinen des privaten und beruflichen Alltags – ebenso in den Autonomieverlust und ins Unheil führen. Die Politik bricht dann oftmals umso brutaler in unsere Schrebergärten ein. Wie die Spannung zwischen Widerstand und Leben auszubalancieren ist, hängt sehr von den gesellschaftsgeschichtlichen und lebensgeschichtlichen Faktoren und Möglichkeiten ab. Unter einer faschistischen Diktatur stellt sich die Spannung anders dar, anders als in einer bedrohten Demokratie mit funktionierendem Konsumkapitalismus, für gesunde Alleinstehende anders als für solche, die Kinder haben oder erkrankt sind und so fort. Manchmal hat man Kraft zum Widerstand und manchmal noch nicht oder nicht mehr. Eine reine Alterssache scheint dies aber nicht zu sein. Sonst hätte der 93jährige Stéphane Hessel – ehemaliger Resistance-Kämpfer und Mitwirkender bei der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte – mit seinem Ende 2010 erschienenen Essay »Indignez-vous!«, einem Appell an die Jugend, nicht einen europaweiten Bestseller landen können. (Hessel 2010)
Wenn man heute mit traumatisierten Flüchtlingen und Opfern politischer Gewalt arbeitet, hat man unweigerlich mit einer Spannung zwischen Widerstand und Anpassung und dem Management der eigenen Empörung zu tun. Die Traumaforscherin und Therapeutin Pauline Boss warnt vor einer Verkürzung, welche in der neueren Traumadiskussion und speziell auch in der Diskussion über »Resilienz« feststellbar ist:
»Wir müssen aufpassen, dass wir nicht ein Resilienzmodell übernehmen, das nur den Status quo festigt. Natürlich werden wir nie den Idealzustand erreichen, aber wir können nicht akzeptieren, dass Krieg und Armut uns dauerhaft begleiten und dass dagegen nichts getan werden kann. Wir dürfen uns nicht damit zufrieden geben, dass die Resilienz des Menschen die einzige Antwort ist.« (Boss 2008, 85)
Als vor fast 20 Jahren Judith Herman’s Bestseller »Trauma and Recovery« (1992; dt. »Die Narben der Gewalt« 1993) erschien und das Traumakonzept, die »Posttraumatic Stress Disorder« (PTSD) sowie die damals neu entwickelten Möglichkeiten einer Traumatherapie einer breiteren Öffentlichkeit in der westlichen Welt bekannt machte, war dies auch ein Ausdruck des Widerstandes gegen große und kleine Machthaber, gegen Militärs, autoritäre Psychiater und Gutachter, welche die Folgen von Folter und Missbrauch am liebsten verleugnen und bagatellisieren wollten. »Rentenneurose« war in Deutschland und Österreich lange Zeit eine beliebte Diagnose, um Wiedergutmachungsansprüche von Traumaopfern abzuschmettern. Herman verglich die großen Lager, in denen Menschen gequält werden, mit den kleinen Konzentrationslagern, welche von Familientyrannen inmitten unserer scheinbar friedlichen Alltagswelt errichtet wurden. Hinter dem Durchbruch, der sich in den USA bereits seit 1980 in der neuen psychiatrischen Diagnose »Posttraumatische Belastungsstörung« abgezeichnet hatte, standen unter anderem die Patriarchatskritik und die Kämpfe der westlichen Frauenbewegung und die Proteste der seelisch verletzten Vietnam-Veteranen und ihrer Betreuer im amerikanischen Gesundheitswesen.
Bald darauf begann ein Prozess, den man als »Veralltäglichung und Manualisierung des Traumas« bezeichnen kann. Der Begriff Trauma wurde in der Öffentlichkeit zunehmend inflationär verwendet – was in einer Gesellschaft, wo man mit möglichst sensationsheischenden Formulierungen um das knappe Gut Aufmerksamkeit ringen muss, nicht weiter verwunderlich ist. Die verdrängten Themen von Tod und Sterben (Yalom 2009) und der Trauer wurden gleich auch noch unter den Traumabegriff subsumiert und gewissermaßen mitbehandelt. Immerhin konnte dem unsäglichen Leid der Menschen in den Kriegen des zerfallenden Jugoslawien während der 90er Jahre ein Namen gegeben werden. Das traumatherapeutische Handwerk blühte auf. Eigene Traumatherapien mit klingenden Namen tauchten auf – besonders bekannt wurde das »EMDR«, das zum Beispiel heute die Bundeswehr nach Einsätzen in Afghanistan großflächig verwendet. Das »Debriefing« von traumagefährdeten HelferInnen bei Groß- und Kleinschadensereignissen breitete sich aus. Die Effektivität ist mittlerweile umstritten. Neuerdings haben wir im Traumabereich den Siegesszug der (von der Akupressur her kommenden) Klopftherapie PEP: »Prozessorientierte Energetische Psychologie«, die – trotz ihrer großsprecherischen Selbstbezeichnung – als zusätzliche Technik recht wirksam ist. Alle etablierten Therapieschulen bemühten sich, traumaspezifische Techniken, Curricula oder Manuale zu entwickeln. Analog zu dem was Paul Parin (1990) die »Medizinalisierung der Psychoanalyse« genannt hat, trat die subversive Seite des Traumadiskurses in den Hintergrund. Der aus Verdrängung und Verleugnung vorübergehend aufgetauchte existenzielle Schrecken und der Protest gegen die Unmenschlichkeit, die bei Herman noch spürbar sind, traten zugunsten einer Orientierung an psychiatrisch-medizinischen Manualen und Kassenrichtlinien, an verfeinerten diagnostischen Rastern, an wissenschaftlichen Karrieren, Publikations- und Kongressritualen – teilweise in Richtung auf einen subjektfernen Scientismus – immer mehr in den Hintergrund. In den Worten von Alfred Lorenzer könnte man sagen: Wenn es anfangs noch darum ging, der zerbrochenen oder verstummten Erzählung der Opfer zur Sprache zu verhelfen, und dabei in der »Gegenübertragung« schwierige Affekte zu riskieren sowie an Tabus der Gesellschaft zu rühren, begegnen wir heute in den Fachbeiträgen zum Trauma-Thema immer mehr einer Symbolwelt, in welcher der Zusammenhang zwischen sinnlicher Erfahrung und sprachlicher Symbolisierung in Richtung auf eine bloße »Zeichenbildung«, eine affektentleerte »Buchhaltersprache« aufgegeben wurde.(Vgl. Lorenzer 1970, 1981) Das entspricht u. a. bekannten Mechanismen der Traumaabwehr und bestimmten Traumasymptomen, die gegen das (Wieder-)Erleben der traumatischen Bilder und Gefühle helfen: Vermeidung, Dissoziation, Depersonalisierung (Kriterien C nach DSM-IV). Wilson und Lindy (1994) haben gezeigt, dass es bei vielen unter »Empathiestress« stehenden TraumatherapeutInnen (als Gegenbewegung zur drohenden »Überidentifikation«) zu einem speziellen Reaktionstyp kommt, nämlich zum »Rückzug« in eine Blank-Screen-Fassade, in auffällige Intellektualisierungen usw. Auch das Abtauchen in die scheinbar exakten Ergebnisse und in die Sprache der Hirnforschung kann vom Schrecken ablenken. Das alles ist in Ordnung, solange es reflektiert wird. Die Buchhaltersprache um das Trauma herum fällt im Rahmen der Universitätspsychologie nicht weiter auf, weil diese – nach einigen emanzipatorischen und psychoanalytischen Anwandlungen im Nachklang der 68er Bewegung – ohnehin wieder dabei ist, alles was mit Irritation, Überraschung, Schrecken und der spontaner Begegnung zwischen lebendigen Subjekten zu tun hat, in Richtung auf Erklärung, Prognose, Replikation und Messung handhabbar zu machen.
Praktische Traumatherapie ist für viele interessant geworden und dabei auch lukrativ. Geldverdienen ist keine Sünde. PsychotherapeutInnen sind zunächst einmal HandwerkerInnen, die einen beruflichen Alltag haben und ihre Dienstleistung auf einem Markt verkaufen müssen. Die Rede vom Psychotherapeuten als »Seelenklempner« (der etwas in Fluss bringt) habe ich nie als Beleidigung empfunden. Psychotherapie stellt (nicht unähnlich der Arbeit von Schamanen) im Dialog mit den PatientInnen Verfahren und Rituale zur »Befreiung von eingeklemmtem Leben« zur Verfügung. (Ottomeyer 2006 b) Im Falle von Trauma ist das Leben von einem übergroßen Schrecken eingeklemmt, der mit einer körperlichen Erstarrungsreaktion (Levine 1998) verbunden ist. Bei der Neurose ist das Leben eher vom Über-Ich eingeklemmt. Das Handwerk der Traumatherapie, hat sich – abgesehen von einigen unseriösen Blüten – in den letzten Jahren tatsächlich in Richtung einer bemerkenswerten Differenziertheit und Wirksamkeit entwickelt. Opfer von schwereren Verkehrsunfällen, von denen bis zu 10 % anhaltende posttraumatische Beschwerden bekommen, hat man früher mit ihrem seelischen Leid völlig allein gelassen. Heute weiß man, was traumapräventiv und traumatherapeutisch zu tun ist. Wenn früher für die meisten Kriegs- und Folterüberlebenden der Satz von Jean Amery galt: »Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt«, kann nach dem heutigen Stand der traumatherapeutischen Handwerkskunst doch bei vielen Überlebenden zumindest eine deutliche Symptomlinderung durch Therapie bewirkt werden. (Vgl. unten)
David Becker hat in seinem Buch »Die Erfindung des Traumas« (2006) an den historischen Hintergrund des ersten Trauma-Booms im Vietnamkrieg erinnert. Er argumentiert zu Recht, dass die Reduktion des geplanten Terrors und der Schuld, in welche die US-Soldaten verstrickt wurden und an denen viele zerbrachen, in Richtung auf ein behandelbares klinisches Stress-Phänomen, als ein Nachkriegs-Kompromiss zwischen den politischen Machtinteressen und dem Recht der Invaliden auf Anerkennung ihres Leidens und auf Rehabilitation anzusehen ist. Er kritisiert ebenfalls zu Recht die Entkontextualisierung der gegenwärtigen Traumakonzepte, welche z. B. die »sequenzielle Traumatisierung« (Keilson 1979) zu wenig berücksichtigen. Diese führt dazu, dass die schlechte Behandlung von Opfern organisierter Gewalt in den Aufnahme- oder Post-Conflict-Gesellschaften, das nachträgliche Blaming the Victim ein viel größere Belastung darstellt als die unmittelbare Verletzung der Opfer in der Phase des Terrors. Man könnte von einer gängigen »Reduktion auf Unmittelbarkeit« sprechen. Die anhaltenden Kontexte von Traumatisierung rufen nach einer anhaltenden gesellschaftskritischen Praxis bzw. nach Widerstand – manchmal sogar nach einer »protective violence« (Marshal Rosenberg, mündliche Mitteilung). Becker unterschätzt aber den handwerklichen Fortschritt, den es in der unmittelbaren (»angepassten«) Traumatherapie gegeben hat und gibt in dieser Richtung auch keine hilfreichen Hinweise. (Beckers Arbeit als Projektberater und Supervisor liegt auf einer anderen Ebene.)
Trotz der handwerklichen Veralltäglichung und Routine verspricht die therapeutische Beschäftigung mit Trauma immer noch eine gewisse Aufmerksamkeit von außen und einen erheblichen narzisstischen Gewinn. Sie gilt als so etwas wie das Extrembergsteigen unter den Sportarten. Manche TraumatherapeutInnen pflegen zudem immer noch eine etwas selbstmitleidige Kommunikation. Die Arbeit mit extrem verwahrlosten Jugendlichen, PsychotikerInnen, Suchtkranken und vielen anderen Gruppen dürfte für sich genommen aber genauso anstrengend wie Traumatherapie sein. Der größte Stress entsteht heute nicht mehr so sehr bei der Ausübung des Handwerks, sondern wenn sich Behörden und entwertende Instanzen von außen in die Therapie einmischen, wie das in der Arbeit mit Flüchtlingen regelmäßig der Fall ist.
Der auffälligste aktuelle Streit unter den Trauma-HandwerkerInnen und TraumaforscherInnen im deutschen Sprachraum dreht sich um die Frage, wie viel Stabilisierung und wie viel Trauma-Exposition für die PatientInnen gut ist. Nach Judith Herman gab es einmal einen weitgehenden Konsens, dass Traumatherapie nach den drei Schwerpunktphasen: Stabilisierung, Traumakonfrontation/Exposition und Integration stattfinden sollte. Neuere amerikanische Standardwerke (etwa Wilson & Drozdek 2004) haben sich dem wie selbstverständlich angeschlossen. In der »Psychodynamisch Imaginativen Traumatherapie« nach Luise Reddemann (2001, 2011) ist es zu einer Ausdifferenzierung der Stabilisierungsphase mit Hilfe von Ressourcenarbeit und bestimmten imaginativen Übungen (Innerer Helfer, Sicherer Ort, Baumübung usw.) gekommen. Dagegen behauptet Frank Neuner, (Mit-)Erfinder der »Narrativen Expositionstherapie« (NET) und ein Hauptvertreter der Expositionisten, nach einer Sekundäranalyse von internationalen Studien: »Entgegen der häufig vertretenen Lehrmeinung ist eine Stabilisierungsphase nicht notwendig und negative Effekte sind nicht auszuschließen.« (2008, 109) Hilfreicher sei es für die PatientInnen, wenn möglichst ohne Umschweife eine Traumaexposition mit VT-Methoden, EMDR und/oder NET durchgeführt wird. Neuner stützt sich auf sogenannte RCT-(Randomized Controlled Trial)Studien, die einem psychologischen oder medizinischen Experimentalsetting mit Versuchsgruppen und Kontrollgruppen folgen, wie es von den Krankenkassen und Ärztevertretungen für die Zulassung oder Nicht-Zulassung von entwickelten Medikamenten und Verfahren zunehmend gefordert wird.
Die experimentell orientierte Psychologie holte sich unter Berufung auf medizinische Standards die Traumadiskussion zurück. Ihr Forschungssetting lässt sich so zusammenfassen: »Man setzt dabei Versuchspersonen (Vpn) einer bestimmten Reizbedingung aus ('unabhängige Variable', UV) und registriert, wie sich darauf bestimmte Reaktionen ('abhängige Variable', AV) verändern.« (Kriz 2010, 132) In der Wirklichkeit von TraumatherapeutInnen sind aber reine Störungsbilder (Postraumatische Belastungsstörung, Depression, Medikamentenabusus oder somatoforme Störung usw.) ebenso selten wie reine Interventionen (oder Interventionsabfolgen), welche eindeutig einer Methode (PITT, KIP, VT, KBT, EMDR oder Psychodrama) zuzuordnen wären. Sowohl die abhängigen als auch die unabhängigen Variablen treten in der therapeutischen Versorgungspraxis zumeist in einer (aus der Sicht des Variablendenkens) heillos verunreinigten Form auf. Wirksame Therapie ist oft intuitiv und eklektisch. Zudem muss die passende Therapie in gewissem Sinne für jeden Patienten/jede Patientin neu erfunden werden. Man kann die Bedeutung der RCT-Studien relativieren. Der Methodenexperte Mayring kommt zu dem Schluss: »Je kontrollierter, standardisierter, labororientierter die Situation (Steigerung der internen Validität), desto künstlicher die Reaktionen der Personen, desto schlechter die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse (Verminderung der externen Validität).« (Mayring 2009, 148) Er schlägt eine stärkere Berücksichtigung von Einzelfallstudien, einer »Narrative Based Medicine« und qualitativer Methoden vor. Das RCT-Design der Psychotherapieforschung wäre dann eins unter mehreren, in deren Kombination die stärkste Evidenz liegen würde. (2009, 150)
Fischer und Becker-Fischer (2008) haben Neuners Abwertung der Stabilisierung in der Traumatherapie, die er mit zahlreichen RCT-Studien untermauert, zudem als denkunmöglich und als Wissenschaftsartefakt kritisiert. Man könne mit einem Traumapatienten, der entweder zu Beginn der Therapie oder aber vor dem Beginn der untersuchten Intervention nicht wenigstens irgendwie stabilisiert wurde, in keinem therapeutischen Prozess und in keinem Forschungsprogramm arbeiten. In der Tat lernt jeder EMDR-Therapeut zumindest im deutschen Sprachraum zunächst Stabilisierungstechniken (den »Sicheren Ort«), die der Patient üben muss, bevor man sich an die Exposition wagt. Die aktuellen »Leitlinien zur Posttraumatischen Belastungsstörung« von Seiten der deutschen Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (Flatten u. a. 2011) referieren diese Debatte, treffen aber (zum Glück) keine Entscheidung zugunsten der einen oder anderen Seite.
Wenn man Traumatherapie zum Wohle der PatientInnen voranbringen und die Finanzierung von Versorgungsprojekten absichern will, kommt man bei aller Kritik kaum daran vorbei, sich zumindest teilweise an die laufende Diskussion und Forderung nach einer empirisch-quantitativen Evaluation von Traumatherapien anzupassen. In unserer Kärntner Einrichtung »Aspis. Forschungs- und Beratungzentrum für Opfer von Gewalt« (http://www.aspis.at/) haben wir das getan und in einer Reihe von »naturalistischen unkontrollierten Studien« (so die Sprache der »Leitlinien«) die Wirksamkeit der Therapien mit traumatisierten Flüchtlingen überprüft. Die eingesetzten 11 TherapeutInnen arbeiteten mit einer eklektischen Kombination ihrer jeweiligen Grundausbildung (Psychodrama, Psychoanalyse, VT, Logotherapie usw.) mit einem zusätzlichen Ausbildungsprogramm in »Psychodynamisch Imaginativer Traumatherapie«, welches über mehrere Jahre hinweg in Kärnten von Luise Reddemann angeboten wurde. Das impliziert in den Einzeltherapien eine flexible Kombination von Stabilisierungstechniken und Traumaexposition (z.B. mit der »Bildschirmtechnik«). Obwohl die äußeren Schwierigkeiten für die Flüchtlinge (unsicherer Aufenthalt, Abschiebedrohung, Diskriminierung) oft noch andauerten, zeigen sich im Verlauf der Therapien bzw. am Ende der Therapien messbare Verbesserungen. Diese werden mit Hilfe des »Brief Symptom Inventory« (BSI, Franke 2000) gemessen, der z. B. im Falle einer Einzeltherapie-Studie mit 37 Flüchtlingen (Renner 2009) eine deutliche Symptomreduktion (Gesamtscore GSI) mit einer Effektstärke von -0,77 auswies. Der parallel einsetzte »Fragebogen des Erlebens und des Verhaltens« (VEV-R-2001, Zielke & Kopf-Mehnert) bestätigte die signifikanten Verbesserungen. Noch erstaunlicher waren die Verbesserungen in den Gruppentherapien mit insgesamt 32 tschetschenischen Frauen. (Renner, Lind & Ottomeyer 2008) Hier betrug die Effektstärke sogar -1,65, – ein Wert, welcher nach Ansicht einschlägiger Experten (Grawe, Donati & Bernauer 2001) auch in Abwesenheit einer Kontrollgruppe als deutlicher Hinweis auf die Wirksamkeit einer therapeutischen Intervention gelten kann. Diese Gruppentherapien beinhalten vor allem vielfältige Stabilisierungsübungen (auf einer äußeren und inneren Bühne) sowie eine psychodramatischen Auseinandersetzung mit der aktuellen Alltagswelt der Patientinnen und keinerlei Traumaexposition. Der Erfolg widerlegt zwei in der Traumatherapie-Szene verbreitete Behauptungen: Die Behauptung, dass man mit traumatisierten PatientInnen keine Gruppentherapie machen könne, und die Behauptung, dass Therapien mit dem Schwerpunkt Stabilisierung ohne Exposition keinen Erfolg haben können.
Wahrscheinlich ist die Alternative: Stabilisierung oder Exposition überhaupt irreführend. Sowohl ein überlanges Sich-Aufhalten in der Stabilisierungsphase als auch ein Sich-Anklammern an die protokollgemäßen Abläufe bei den verschiedenen Expositionstechniken können der unbewussten Abwehr des traumatischen Schreckens beim Therapeuten dienen und den Kontakt zu den verletzten Anteilen des Patienten verhindern. (Zur zweiten Variante vgl. den Bericht über eine von mir vorgenommene missglückte Behandlung eines ehemaligen Soldaten mit EMDR in: Ottomeyer 2011, 166-181) Worauf es ankommt, ist das Riskieren eines behutsamen Dialogs mit einem von außen bedrohten und sich selbst extrem fremd gewordenen Menschen. (Vgl. Butollo 2009) Die Fixierung auf die Methoden und das Rechthaben kann, wie wir seit George Devereux (1976) wissen, der Angstabwehr und Dialogvermeidung dienen. Gerade auch im Umgang mit dem Thema Trauma ist in der Alltagskommunikation wie in der Wissenschaft eine »Neunmalklugheit« der Kommentatoren zu beobachten (vgl. Ottomeyer 2011, 99-104), aus der unsere Angerührtheit und unsere Solidarität mit den Unterdrückten völlig gewichen zu sein scheint.
Wer sich als TherapeutIn auf den Dialog mit den traumatisierten Opfern organisierter Gewalt einlässt, kommt in seiner »Gegenübertragung« an bestimmten Dilemmata, welche sie/ihn in Verzweiflung treiben können, nicht vorbei. Zur Veranschaulichung möchte ich zwei verdichtete Fallgeschichten anführen, die ich einem neueren Buch über die Arbeit der Einrichtung »Hemayat« entnehme, die in Wien Kriegs- und Folterüberlebende betreut. (Mirzaei & Schenk 2010) Hier werden die typischen Dilemmata spürbar, die jeder kennt, der in diesem Feld arbeitet:
Zunächst eine Geschichte, die von der Kindertherapeutin Sonja Brauner stammt. (Mizaei & Schenk 2010, 113-118) Sie hat mich beim Lesen besonders erschüttert – wahrscheinlich deswegen, weil ich selbst nicht direkt mit Kindern arbeite und weil meine bereits bewährten Abwehrstrategien aus der Arbeit mit erwachsenen Traumaopfern beim Lesen unterlaufen wurden. Die Therapeutin berichtet von einem 6-jährigen Patienten, der in seinem Heimatland – offenbar in einem Konflikt zwischen Clans -als 4-jähriger entführt worden und von der Mutter, die selbst ein Vergewaltigungsopfer war, völlig verwahrlost in einem Hundezwinger wiedergefunden wurde. Der Hund hatte den Jungen verletzt, später beschützt. Das Kind nimmt das Spielangebot der Therapeutin mit Puppen und Stofftieren an. Dazu gehört, dass am Anfang der Stunde immer wieder zunächst eine Prinzessin – zusammen mit Schlange, Krokodil und Seeschlange, welche die »Entführer« sind – in eine Kiste hinein muss, aus der sie erst am Ende der Stunde wieder heraus darf. Zu den »guten Dingen«, die der Junge kennt, gehören eine Pistole, ein kleiner Teufel und mehrere Autos. Die Abschiebungsdrohung wächst parallel zur gut angelaufenen Psychotherapie nach zwei Negativ-Bescheiden für Mutter und Kind in ihrem Asylverfahren immer mehr an. Unter äußerem Druck nimmt die Mutter die »freiwillige« Rückkehrhilfe an und entscheidet sich, nach Tschetschenien zurückzukehren.
Als nächstes Beispiel eine Geschichte von Erwin Klasek (Mirzaei & Schenk 2010, 97-108): Eine Patientin berichtet über eine schwere Selbstentfremdung, »dissoziative Symptome«, über Selbstmordabsichten und über eine Vorstellung, von der sie immer wieder gequält werde: »Eine Straße werde gemacht, der Beton werde gelegt, und sie verwandle sich in diese Straße. Dann komme die Straßenwalze und fahre über sie, das sei ein schrecklicher Schmerz.« (99) Die Patientin ist vergewaltigt worden, der – heute sehr gestörte – Sohn habe zusehen müssen. Klasek schreibt später den Namen des Vergewaltigers auf einen Zettel und verbrennt diesen vor den Augen der Patientin, wodurch sich diese zu ihrem Erstaunen erleichtert fühlt. Die erfolgreiche Therapie findet aber, wie so oft, unter bedrohlichen, retraumatisierenden äußeren Umstanden statt. Eine Psychologin im Erstaufnahmelager und eine weitere Gutachterin sollen über die Abschiebbarkeit der Patientin entscheiden (weil sie vermutlich über ein »sicheres Drittland« nach Österreich gekommen ist). Der Umstand, dass es ihr dank Therapie schon etwas besser geht, wird gegen sie verwendet. Im ersten Gutachten wird gesagt, dass sie heute »schon wieder ganz gut im Leben stehe«. Durch die Beschreibung der Patientin als »hübsche junge Frau mit gepflegtem blonden Haar und Minirock« im zweiten Gutachten fühlte sich diese zutiefst gekränkt. Sie würde niemals einen Minirock tragen. Schließlich hilft ein weiteres Gutachten über das Vorhandensein einer schweren posttraumatische Belastungsstörung, welches in der Interkulturellen Ambulanz des AKH Wien erstellt wird. Die Rechtsberaterin kann einen Einspruch gegen den Abschiebungsplan der Behörde einlegen. Wie die Geschichte ausgegangen ist, wissen wir nicht.
In Bezug auf Österreich kann man über das Beispiel von Klasek hinaus von einer »Gutachtenverwahrlosung« reden, die bei einer ganzen Reihe von medizinischen und psychologischen Gutachten in den Asyl- und Abschiebeverfahren feststellbar ist (Ottomeyer 2006a) und gegen die trotz Publikation der Missstände von den Behörden nichts unternommen wurde. Aber das ist nur ein Aspekt der Zumutungen. Jeder Zeitungsleser weiß z. B., dass derzeit in Tschetschenien eine Mörderdiktatur von Putins Gnaden an der Macht ist, deren langer Arm sogar mitten in Wien missliebige Menschen töten kann. In den offiziellen Begründungen für erlaubte Abschiebungen von Flüchtlingen aus Tschetschenien (neuerdings direkt in die Russische Föderation) wird diese Realität aufwendig bestritten oder – teilweise mit kopierten und standardisierten Textbausteinen – spitzfindig relativiert. Für die TherapeutInnen ist es äußerst schwierig, nicht permanent empört zu sein. Indignez-vous? Ein Traumatherapeut sollte parteilich auf der Seite der Opfer von Gewalt stehen. Neutralität: nein, Abstinenz: ja – das gilt sogar als Lehrbuchregel (Fischer & Riedesser 2009, 219). Aber wie geht man mit seinem unvermeidbaren menschenrechtspolitischen Engagement um? Es besteht die Tendenz oder Gefahr, zuviel von der Empörung, von der Bereitschaft zum Widerstand in die Therapiestunden hineinfließen zu lassen. Eine Anpassung an die herkömmliche Rolle des ruhig und handwerklich arbeitenden – vielleicht sogar neutral wirkenden – ausgebildeten Therapeuten ist unbedingt erforderlich, damit Traumatherapie gelingt. Die Rolle des laienhaft intervenierenden Ersatz-Sozialarbeiters, welche uns infolge der schlechten Behandlung der PatientInnen durch die zuständigen Stellen, aber auch infolge der Erwartungen der PatentInnen selbst nahegelegt wird, muss ebenfalls begrenzt bzw. an die richtigen Leute und Einrichtungen delegiert werden. Aber was tun, wenn diese Leute und Einrichtungen weit weg sind oder nicht reagieren? Das Nicht-Agieren in Richtung Rollenüberschreitung würde an unterlassene Hilfeleistung grenzen.
Christian Pross (2009) hat in einer qualitativ-empirischen Studie erschütternde Daten zum Gesundheitszustand von MitarbeiterInnen in Traumazentren für verfolgte Flüchtlinge erhoben und Vorschläge zur Stressminderung gemacht (Reduktion der Traumarbeit auf Teilzeitjobs, klare Arbeitsteilung, Supervision, Pflege von Hobbys, Stärkung persönlicher Ressourcen usw.) Er ist einem »Märtyrerkomplex« begegnet.
»Andere benutzen die Metaphern 'Mutter Theresa', 'Samariter', 'Heiligenschein'. Es gab keine Grenzen, man arbeitete bis zum Umfallen mit einer spartanischen Härte im Umgang mit sich selbst und anderen.« (Pross 2009, 102)
Die Metaphern können ergänzt werden. Zur Mutter Theresa tritt in der typischen Gegenübertragung der TraumatherapeutInnen in der Regel noch eine empörte Figur, die ähnlich wie Zorro für die Gerechtigkeit im Umgang mit Verfolgten, Witwen und Waisen eintritt. (»Witwen und Waisen« ist hier buchstäblich zu verstehen, weil die Behörden diese Menschengruppe keineswegs schonen.) Der Zorro muss aber in unserem Fall seinen Degen ständig wieder wegstecken. Er wird gewissermaßen zum ständig aufgeklappten Taschemesser im Hosensack. Zum Wohle des Flüchtlings muss der Helfer – ganz ähnlich wie der direkt Betroffene – gegenüber den Behördenvertretern den Affekt der Empörung beständig zügeln, bitten, freundlich bleiben, so lange es irgend geht. Das ist nicht gerade gesund, fördert bei manchen einen erhöhten Blutdruck. Der behinderte Zorro, der die Mutter Theresa begleitet, bekommt etwas Karikatureskes: »Wir haben alle etwas Don-Quichottisches« sagt einer der Gesprächspartner von Pross.
Mit der Zeit entwickeln die TherapeutInnen (mindestens) zwei unterschiedliche »Ego-States«, also Ich-Zustände, die mit dem Erleben unterschiedlicher Rollen und innerer Anteile verbunden sind, die sich sowohl streiten als auch teamartig kooperieren können. Sie sind Teil der »inneren Familie« (Schwartz 1997). Freud sprach im Zusammenhang mit der »Kriegsneurose« von einem kriegerischen Ich und einem friedlichen Ich, die in einem Menschen durchaus nebeneinander existieren können. (Vgl. Reddemann & Fischer 2010, 271)
TherapeutInnen sollten bekanntlich beruhigend und vertrauensbildend wirken, sie sollten sich mit den PatientInnen in einem sicheren abgegrenzten Raum unaufgeregt von einem therapeutischen Schritt zum nächsten bewegen. Beim notwendigen Intervenieren gegen Maßnahmen, welche von außen und aktuell den Patienten/die Patientin bedrohen, herrschen oft Alarmstimmung und Zeitdruck, begleitet vom Gefühl einer großen Empörung. Man kann von einem (menschenrechts-)politischen und von einem therapeutischen Ego-State sprechen, die eigentlich miteinander befreundet sein sollten. Aber das Umschalten ist oft ein riesiges Problem. Wenn man die Pausen zwischen den Therapien auch noch für Rettungs- und Widerstandsaktionen nutzen muss, kommt man schwer wieder in die freundliche Gelassenheit hinein, die man für die nächste Therapiestunde unbedingt braucht. Gut ist, wenn man sich die Rollen in den Teams aufteilen und sich gegenseitig wieder beruhigen kann. Trauma-Teams können sich über die Gewichtung zwischen den beiden Ego-States heftigst zerstreiten. An der Notwendigkeit des Widerstands gegen die Bedrohung der Rechte von verfolgten Menschen kommen aber Trauma-TherapeutInnen und Trauma-Teams nicht vorbei. Die schlechte Behandlung ihrer PatientInnen scheint immer mehr ein gesellschaftliches Programm.
Einflussreiche Strömungen und politische Gruppierungen in Europa haben seit einiger Zeit die Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisengebieten zur Bedrohung erklärt. Hinter den teilweise grotesken Argumenten, mit denen die Behördenvertreter die Traumata vieler Flüchtlinge für nicht existent, geringfügig oder »im Heimatland behandelbar« erklären, stehen Abwehrleistungen, die wir eigentlich alle kennen, weil wir sie gelegentlich aus Selbstschutzgründen gegenüber dem extremen Schrecken und gegenüber traumatisierten Menschen einsetzen. Der prinzipiellen menschlichen Möglichkeit zur Empathie (Stichwort »Spiegelneuronen«) stehen gleich mehrere massive Ängste gegenüber, die immer wieder zur aggressiven Abwehr des Traumatischen, zu einem beinahe leidenschaftlichen »blaming the victim« führen. Die erste Angst ist die vor einem »psychotischen Kosmos«, vor dem Einbruch einer absolut abgründigen, verrückten Welt, eines real gewordenen Albtraums in die mehr oder weniger ruhige Welt, in der wir unser Urvertrauen aufgebaut haben und allen beunruhigenden Nachrichten zum Trotz unsere Vertrauensroutinen aufrechterhalten. Viele MitbürgerInnen beschuldigen lieber die Opfer als dass sie ihre beruhigende »Just World Theorie« (Montada & Lerner 1998) aufgeben. Die zweite große Angst ist die vor der Versorgungskonkurrenz, die uns aus der Existenz einer größeren Gruppe von schwer traumatisierten und damit vorrangig hilfsbedürftigen Menschen in unserer Mitte erwachsen könnte. Politiker schüren den Neid auf die angeblich arbeitsunwilligen, nach uns ins Land gekommenen Fremden, die – ähnlich wie kleine Geschwister – nicht ordentlich sprechen, die aus vorgetäuschten Verletzungen Zuwendung beziehen und überhaupt »von oben« alles bekommen, was die Einheimischen nicht bekommen. Die dritte Angst ist die Angst vor dem eigenen ganzjährigen Gewissen, welches in den Jahrzehnten des blühenden Konsumkapitalismus (nach dem Motto »Life is a party«) subjektiv störend und ökonomisch dysfunktional geworden ist. In der Adventszeit wird ein konsequenteres Über-Ich akzeptiert (»Licht ins Dunkel«) und belebt sogar das Geschäft. Zu Silvester sollte es aber schon wieder in den Hintergrund getreten sein.
Sogar nach den großen Katastrophen wie 9/11, der Tsunami-Katastrophe Ende 2005, dem Erdbeben in Jamaica 2010, der Atomkatastrophe in Japan 2011 hat es jeweils nur wenige Wochen gedauert, bis der Event- und Konsumkapitalismus wieder funktionierte. Auch Menschenrechtspreise für Therapiezentren, die Folter- und Kriegsüberlebende behandeln, können Teil der gesellschaftlichen Gewissensabwehr sein:
»Das lobende und bewundernde Auf-die Schulter-Klopfen der Mitmenschen, dass man was 'ganz Tolles' macht, ist im Grunde genommen eine Abwehr, die deren eigenem Schutz dient. Sie möchten mit diesen angstbesetzten Abgründen möglichst wenig zu tun haben (…) Die Gesellschaft delegiert gewissermaßen die Aufräumarbeit aus den Trümmern, die sie selbst mit Kriegen, Armut und Flüchtlingselend angerichtet hat, an die Traumahelfer (…).« (Pross 2009, 120)
Bei der Gewissensabwehr spielen interessanterweise die Gesichter und die Augen von Menschen und insbesondere die Gesichter und Augen von Kindern eine wichtige Rolle. Das Antlitz appelliert, so sagt Levinas (2003), an unser menschliches Gewissen und eine elementare Hilfsbereitschaft, nicht unähnlich der ausgestreckten Hand. Deshalb wird an ausgewählten Opfern regelmäßig eine Fratzenbildung (mit Hilfe von Kapuzen, Augenbinden, schwarzen Augenbalken, medialen Verzerrungen aller Art, Kriminalisierung) vollzogen: eine Entantlitzung des Anlitzes, devisager le visage, wie es bei Levinas heißt.
In der Begegnung mit Kindern sind der Appell ans Gewissen und die Hemmung gegen Aggressionsimpulse, welche vom Gesicht und von den Augen ausgehen, besonders groß. Das hat wohl auch mit dem biologisch verankerten »Kindchenschema« des Homo sapiens zu tun. Die Kommandeure der Unmenschlichkeit haben mit den Kindern in den Opferpopulationen immer ein großes Problem gehabt. Für den Massenmord an jüdischen Menschen, den deutsche Truppen nach dem Einmarsch in die Sowjetunion begangen haben, ist dies gut belegt. (Welzer 2005) Die Hemmung lässt sich überwinden, indem man die Kinder als Teil einer kriminellen Familie bzw. zukünftige Kriminelle darstellt, oder aber dadurch, dass man ihre Gesichter und Augen entwertet. Die österreichische Innenministerin Maria Fekter hat dies fertiggebracht, als sie zur Durchsetzung der ihr politisch wichtigen Abschiebung des Mädchens Arigona Zogaj meinte, sie vollziehe die Gesetze »egal, ob mich Rehleinaugen aus dem Fernsehen anstarren oder nicht.« (Der Standard, 14.1.2009) Monate später landete H. C. Strache den Anschlusstreffer: »Hier geht es darum, dass ein Mädchen mit Krokodilstränen einen Rechtsstaat erpressen will (…) Was wir brauchen ist eine neue, soziale Familienpolitik, wo wir mehr in die eigenen Familien investieren, damit sich unsere Familien wieder mehr eigene Kinder leisten können.« (Österreich, 15.11.2009) Vom starrenden Reh zum weinenden Krokodil. Die Fratzenbildung schreitet voran. Eine grobe witzelnde Sprache ist für die Schwächung der verbliebenen Über-Ich-Bastionen in der Psyche immer sehr wichtig.
Die Kinderabschiebungen sind für die politischen Kräfte, die glauben, durch die schlechte Behandlung von Asylsuchenden Stimmen gewinnen zu können, von entscheidender Bedeutung. Wenn das Publikum hier mitmacht, ist ein Durchbruch gelungen. Nachdem Frau Fekter für ihre Arigona-Abschiebung im Sommer 2010 viel Beifall bekam, versuchte sie im Oktober desselben Jahres anlässlich der Wahlen in Wien erneut den ganz Rechten durch eine entschiedene Aktion gegen zwei 8-jährige Flüchtlingskinder, deren Mutter gerade wegen eines psychischen Zusammenbruchs im Krankenhaus war, Stimmen abzujagen. Die Zwillingsmädchen der kosovarischen Familie Komani wurden im Morgengrauen von einer Polizeieinheit abgeholt und zusammen mit ihrem Vater nach einem Zwischenaufenthalt in der Schubhaft (nach Frau Fekter: »keine Schubhaft, sondern eine Anhaltung zur Sicherstellung der Abschiebung mit kindgerechter Unterbringung«) in das ihnen fremde Herkunftsland abgeschoben.
Unglücklicherweise waren Kameras zugegen und zeigten das Missverhältnis zwischen bewaffneten Polizeikräften und den kleinen Mädchen, die schüchtern vor die Tür traten und deren Gesichter und Augen so wirkten, dass man unter keinen Umständen denken konnte, dass sie Teil einer Inszenierung waren. Die Empörung reichte von den Häuptern der kirchlichen Wohlfahrtsverbände über den Bundespräsidenten bis hin zu den Boulevard-Medien und den potentiellen Wählern und wurde so groß, das Frau Fekter schließlich den Chef der Wiener Fremdenpolizei absetzte und die Kinder samt Vater aus dem Kosovo zurückholte. Die Präsidentin und die zwei Vizepräsidenten der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie hatten sich dem Widerstand angeschlossen und die Aktion mit einem bösartigen Experiment zur sicheren Traumatisierung von zwei bereits verletzten Flüchtlingskindern verglichen. (Katharina Purtscher, Paulus Hochgatterer und Leonhard Thun-Hohenstein, in: Der Standard, 22.10.2010) Nachdem alle Parlamentsparteien (mit Ausnahme der Grünen) bei der längst fälligen Verankerung der UN-Kinderrechte in der Österreichischen Verfassung im Januar 2011 Einschränkungen eingebaut haben, welche die Abschiebung von Kindern weiterhin möglich machen, ist die nächste Runde im Kampf um das »Grundrecht« der Mächtigen auf Abschiebung von Flüchtlingskindern eingeläutet. Bemerkenswerterweise haben die Sozialarbeiter in den österreichischen Jugendämtern, welche bei solchen Aktionen – ebenso wie psychologisch-therapeutische Experten – herangezogen werden müssten, sich bereits mehrheitlich geweigert, bei den Aktionen mitzuwirken. Man sucht schon nach regierungsnahen ExpertInnen und Pseudo-NGO’s, die bereit sind, einzuspringen.
Der »Sense of Coherence« (Antonovsky 1997) in der menschlichen Psyche soll eine wichtiger protektiver Faktor gegen Trauma und für die Erhaltung von Gesundheit und Zuversicht sein. Er ist offensichtlich in den gegenwärtigen europäischen Gesellschaften in einem sehr schlechten Zustand. Eine Kohärenzbildung »von innen«, durch das Gefühl, auf dem Markt, in der Arbeit, vielleicht auch in der Liebe eines anderen Menschen wirklich gebraucht zu werden, scheint immer seltener zu werden. Die kollektivistischen Großzelte der nationalen und/oder religiösen Identität (Volkan 2004) werden erneut zu einem wichtigen Halt und Unterschlupf für ein von Erosion bedrohtes Selbst. Das System der kapitalistisch funktionalen Moral besteht aus einem Nebeneinander von Asketismus und Konsumismus, Marktegoismus und Teamgeist, Ellenbogen-Härte und Empathie, Treuegebot und sexueller Offenheit, Gleichberechtigung der Frau und patriarchalischen Wagenburgen. Bereits ohne die Migrantenpopulationen mit einer teilweise anderen Religionszugehörigkeit herrscht im entwickelten Spätkapitalismus eine »tendenzielle Anomie« (Peter Brückner), welche vielen Einwohnern das bedrohliche Gefühl vermittelt, dass die Kohärenz des Lebens und der Moral durch einander widersprechende Parallelwelten bedroht ist. Beim Ehepaar von Guttenberg, welches für viele Deutsche zu einem Hoffnungsträger für eine neue Solidität und moralische Kohärenz geworden war (Frau von Guttenberg machte in einem Bestseller Lady Gaga für den Zerfall verantwortlich), trat hinter der Fassade doch wieder eine unschöne Parallelwelt von Karrierismus und Betrug hervor. Es gibt politische Richtungen, die versprechen, dass mit der Abschiebung von Menschen, die aus anderen Kulturen kommen und eine andere Religion haben, wieder eine Kohärenz, ein zusammenhängendes Identitätsgefühl mit einem »Ende der Parallelgesellschaften« möglich wird. Alle rechten Parteien haben heute den psychologischen Terminus der »Identität« in ihren Programmen. »Daham statt Islam« oder »Abendland in Christenhand« heißen die entsprechenden Parolen in Österreich. Dazu gibt es noch eine starke Tendenz, Menschen, die als Opfer schon vorgezeichnet sind, noch einmal durch Schikanen und Abschiebung zu Opfern zu machen. Bekannt ist neue Studie von Welzer und Neitzel (2011), welche (auf der Grundlage von Abhörprotokollen der Briten und Amerikaner in Kriegsgefangenenlagern) zeigt, wie groß die Bereitschaft unter normalen Wehrmachtssoldaten war, sich nach anfänglichen moralischen Hemmungen an der Jagd auf schutzlose Opfer zu beteiligen. Die Jagd auf solche, die Schutz brauchen, kann von der eigenen Angst, verletzlich zu sein und schutzlos zu werden, ablenken und ein vorübergehend geradezu euphorisches Kohärenz- und Gemeinschaftsgefühl schaffen. Die Verstrickung in Schuld, die dabei schon vage gespürt wird, stärkt paradoxerweise die Bindung an die gewünschte Großgruppe. Kaum etwas verbindet Menschen mehr, als wenn sie bei einer unmoralischen Aktion mitmachen oder mitgemacht haben. Die Geschichte weist leider genug Belege für diese These auf.
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