Der Artikel stellt das Ergebnis einer grounded theory zu einem psychodramatischen Störungs- und Therapieverständnis der Dissoziation vor. Zur Erwärmung für die Thematik führt der Mythos der Medusa in ein symbolisches und szenisches Verständnis ein. Der theoretische Schwerpunkt wird in diesem Beitrag auf die psychodramatischen Vorstellungen zur Entwicklung des »Selbst« und die durch frühe und komplexe Traumen hervorgerufenen Verletzungsfolgen in der »Selbst«-Struktur gelegt. Anschließend wird die an zwei prototypischen Therapiefällen entwickelte Kernkategorie des »Gemeinsam-in-den-Spiegel-Schauens« als ein das Integrationsniveau förderndes Prinzip in der psychotherapeutischen Behandlung, im Speziellen von Frauen mit verletzter Selbststruktur, erläutert. Als eines der Resultate konnte diese gemeinsame Außenperspektive im psychodramatischen Handlungsraum als »Spiegelposition« verankert werden. Die Außenperspektive eröffnet eine Metaebene und ermöglicht dadurch Selbstregie.
Schüsselwörter: Psychodrama, grounded theory, Frauenforschung, Dissoziation, Spiegelposition, Selbstregie
This article is the result of a grounded theory applied to the psychodramatic understanding of dissociation and its therapy. As a warm-up to the topic the myth of Medusa inducts into the comprehension of scenes and symbols. The theoretical focus is on the psychodramatic perception of the developing self and on the aftermath of violation in the »self« structure caused by early complex traumata. The following part expounds the core concept called »Looking at the mirror together.« It was developed on two prototypical cases and outlines a principle in the psychotherapeutic treatment supporting integration, especially for women with injured »self« structure. As one of the results this shared external perspective could be rooted in the psychodramatic space of action as »mirror position«. The external perspective opens up a meta level which enables self-direction.
Keywords: psychodrama, grounded theory, women's studies, dissociation, mirror position, self-direction
Psychodrama ist eine in Österreich gesetzlich anerkannte, eigenständige, der humanistischen Tradition verpflichtete Therapiemethode, die auf der therapeutischen Philosophie und psychodramatischen Ethik von Jakob Levy Moreno (1889 – 1974) basiert. Diese im Gegensatz zu Freuds »Couch-Psychiatrie« von Moreno selbst als »Shakespear’sche Psychiatrie« bezeichnete Therapieform (Ottomeyer 2004, 59) zielt auf die »Befreiung von eingeklemmtem Leben« durch spontan-kreatives Handeln in so genannten ProtagonistInnen- und Stegreifspielen ab. Dabei werden KlientInnen «,zum zweiten Mal' in belastende Prozesse hineingeführt, allerdings unter hilfreichen Bedingungen, die er oder sie dann auch von außen reflektieren kann« (Buer 2004, 43). Dieses »wahre zweite Mal« ermöglicht eine Erweiterung des zur Verfügung stehenden Rollenrepertoires und dient letztendlich dem Ziel, zur/zum selbstbewussten Protagonistin/en des eigenen, realen Lebens zu werden.
Unter dem Begriff Psychotrauma werden stark stresserzeugende Ereignisse subsummiert, die keine aktiven Handlungsmöglichkeiten wie z.B. Flucht oder Kampf offen lassen. Bei diesen werden einerseits monotraumatische Ereignisse von komplexen und chronischen Traumata unterschieden, andererseits psychogene Reaktionen auf aktuell belastende Lebensereignisse von strukturellen Störungen abgegrenzt, die durch frühe und komplexe Traumatisierungen erworben wurden. Die im ICD-10 zur Verfügung gestellten Klassifikationsmöglichkeiten bilden nur ein grobes Orientierungsraster für die Erfassung der verschiedenen Folgeerscheinungen. Sie nehmen bedauerlicherweise aufgrund ihrer phänomenologischen Ausrichtung oft keinen Bezug auf die traumaspezifische Ätiologie von Symptomen. In den aktuellen Diskussionen bezüglich der Klassifikation traumainduzierter Störungsbilder wird häufig von einer »disorder of extreme stress not otherwise specified« als Synonym für komplexe posttraumatische Belastungsstörungen mit unterschiedlichem Schweregrad der Dissoziation und vielfältigen Symptomen gesprochen. Eine sehr differenzierte Beschreibung traumaspezifischer Folgeerscheinungen und ihrer diagnostischen Einordnungsmöglichkeiten, die über die gängigen ICD-10-Schemata hinausgehen, ist bei Michaela Huber, einer der anerkanntesten Trauma-ExpertInnen im deutschsprachigen Raum, zu finden (Huber 2003 a,111ff).
Michael Schacht (2009) hat Überlegungen zu einem psychodramatischen Störungsverständnis der Borderline-Persönlichkeitsstörung, der Depression und der Angststörung angestellt. In Anlehnung daran wurde im hier beschriebenen gegenstandsbezogenen Theoriebildungsprozess[1] (Kastner 2011) versucht, ein psychodramatisches Störungsverständnis der Dissoziation zu entwickeln, um im Weiteren ein Therapieverständnis für die Arbeit mit früh und komplex traumatisierten Frauen mit dissoziativer Struktur zu gewinnen. Im Psychodrama bietet v.a. die Theorie zur Rollenentwicklung ein den Paradigmen der modernen Traumaforschung entsprechendes Modell für die Erklärung der traumaspezifisch verletzten Selbststruktur im Allgemeinen, sowie der dissoziativen Selbststruktur im Besondern.
»Nicht wenige PsychodramatikerInnen haben aber schon lange vor der neueren Traumadiskussion erfolgreich mit traumatisierten PatientInnen gearbeitet«. Dieser Satz von Klaus Ottomeyer (2004, 348) kann – neben vielen anderen PsychodramatikerInnen – besonders treffend auf ihn selbst angewandt werden. Ottomeyer betreut in verdienstvoller Weise schon sehr lange Traumaopfer, insbesondere traumatisierte Flüchtlinge und Asylsuchende, und zeichnet auch für maßgebliche neuere Publikationen zur psychodramatherapeutischen Traumabehandlung verantwortlich (z.B. Ottomeyer 2004, 348ff; Ottomeyer, Lackner 2009, 53ff; Ottomeyer 2011). Moreno selbst hat in seinem visionären Engagement als »Anwalt der Randgruppen« (Fürst 2004, 21f) das Psycho- und Soziodrama als heilsame begegnungs- und empowermentfördernde Methode entwickelt. So hat er in der Arbeit mit Prostituierten in Wien »Am Spittelberg« bereits im Jahr 1913 versucht, diesen Frauen durch die Entwicklung eines solidarischen Bewusstseins die verlorene Würde wiederzugeben. Seine Idee einer Gesellschaft des Miteinander hat er mit psychodramatischen Techniken u.a. im Flüchtlingslager Mitterndorf bei Wien, in der Kammgarnfabrik Bad Vöslau, in einem Mädchenheim in Hudson, in der Strafanstalt Sing Sing und in einem von ihm aufgebauten Sanatorium in Beacon Hill weiter verfolgt (ibid., 22).
Eine der bekanntesten griechischen Mythen führt uns in ihrer gängigen Interpretation (Ranke-Graves 1984, Ovid 2008) sehr klar die Traumatisierungs-Dramaturgie vieler Missbrauchsopfer vor Augen. In kaum einer der mir bekannten Deutungen und Nacherzählungen dieses Mythos wird aber auf die Missbrauchsthematik eingegangen, vielmehr wird die Neid- und Eifersuchtsthematik unter Frauen in den Blick genommen. Die Formulierung »ward sie vom Herrscher des Meers entehrt« muss Ovid (2008, 150) zugutegehalten werden.
Pallas Athene verwandelt nämlich die schöne Gorgo Medusa und auch ihre unsterblichen Schwestern in hässliche, beim Anblick Erstarrung und Versteinerung auslösende Monster, als Medusa von Poseidon im Tempel der Pallas Athene sexuell begehrt und geschwängert wird. Angesichts des Ungleichgewichts der Machtverhältnisse kann dies nur als sexuelle Gewalt und damit schwere Traumatisierung – und zwar in doppelter Hinsicht – gewertet werden. Unter brutaler Ausnützung von Autoritätsverhältnissen unterwirft der übermächtige Gott Poseidon – noch dazu in Pferdegestalt, also mit tierischer Gewalt – die sterblich-verletzliche Tochter von Phorkys und Keto seinem sexuellen Begehren. Und es ist die ebenfalls übermächtige Pallas Athene, die nicht Poseidon wegen seiner Tat zur Rechenschaft zieht, sondern Medusa als Nebenbuhlerin »in ihrem Haus« (= Tempel) bestraft – das klassische Szenario sexuell missbrauchter Mädchen.
Dieser blinde Fleck gesellschaftlicher Interpretationsmuster hat schon den späteren Sigmund Freud dazu bewogen, seine ursprünglich mit den Opfern solidarische Haltung zu revidieren. Die damals noch als Hysterie beschriebenen dissoziativen Traumafolgen wurden daher in den späteren Werken, nicht wie in den führen Arbeiten, den traumatisierenden Ausgangsbedingungen, sondern den verdrängten sexuellen Phantasien der kindlichen Opfer, zugeschreiben und als Konversionsstörungen bezeichnet (Kämmerer 2001, 292).
Diese Deutung führte nicht selten zu einer Reinszenierung traumaspezifischer Szenen mit hohem Risikopotential für Retraumatisierungen nach folgendem Muster:
die Tat selbst wird verleugnet, verdrängt, bagatellisiert, eingefroren, abgespalten, vergessen
das Opfer und nicht der Täter/die Täterin wird pathologisiert
der Täter/die Täterin bleibt im Dunkeln und entzieht sich der Verantwortung.
Konsequenterweise gilt es also, diesem Gender-Bias in der Arbeit mit Klientinnen durch Selbstreflexion zu begegnen und sich das entsprechende Wissen und Handwerkszeug anzueignen um folgenden therapierelevanten Fragen gerecht werden zu können.
Was hilft früh und komplex traumatisierten Frauen dabei, die zum Selbstschutz entwickelte dissoziative Erstarrung und Fragmentierung zu überwinden und in konstruktive Kräfte »umzuwandeln«?
Was hilft früh und komplex traumatisierten Frauen dabei, dem Grauenhaften der Kindheit begegnen zu können, ohne dabei neuerlich vor Schreck zu Stein zu erstarren?
Was hilft den PsychodramatherapeutInnen dabei, den zutage tretenden Bildern des Grauens standzuhalten und bei der Konfrontation damit nicht selbst zu erstarren oder auszubrennen?
Im Mythos ist es Perseus, hier auch verstehbar als verinnerlichtes Prinzip der kämpferischen Selbstbehauptung, der die Aggression konstruktiv nutzt und sich dem Schrecken (in der Therapie) stellt. Dafür bedarf es einiger therapeutischer Hilfsmittel und einer langen vorbereitenden Reise, um diese zu erwerben. Von Hermes bekommt er ein eigens geschmiedetes Sichelschwert, von den Nymphen eine Tarnkappe, geflügelte Schuhe und einen Mantelsack. Und es ist auch diesmal Pallas Athene als Göttin der Weisheit, die Perseus den verspiegelten Schild schenkt, mit dem er der schlafenden Medusa begegnen kann, um ihr den Angst und Erstarrung auslösenden Kopf (als Ort der schrecklichen Erinnerungen), abzuschlagen. Anstelle des Schlangenhauptes entsteigen Medusas Körper der Riese Chrysaor mit dem Goldschwert und das geflügelte Pferd Pegasus, das von DichterInnen geritten wird. Aus den wegspritzenden Blutstropfen sollen sich die Korallen gebildet haben.
In der Traumatherapie hat der Einsatz imaginativer Ressourcentechniken v.a. mit Luise Reddemann und der Psychodynamisch Imaginativen Traumatherapie (2001) weite Verbreitung gefunden und gehört mittlerweile zum state of the art der Traumatherapie. Im Psychodrama kann zudem diese sogenannte »surplus-reality« durch Inter- oder Intramediärobjekte symbolhaft und handelnd auf der Psychodramabühne in Szene gesetzt werden. Denn es bedarf auch in der Therapie einer langen vorbereitenden Reise, um die notwendigen Hilfsmittel für das Wagnis einer Konfrontation mit den grauenhaften und schambesetzten Erinnerungen erwerben zu können. Daher geht es in der Traumatherapie zunächst darum, Ressourcen zu entwickeln und das traumatische Geschehen mit seinen flashbacks stoppen zu lernen (Tarnkappe). Dafür braucht man/frau Phantasie, mit deren Hilfe er/sie an einen inneren »Sicheren Ort« gelangen kann (geflügelte Schuhe) und es bedarf eines »inneren Tresors« (Mantelsack), an dem die schrecklichen Erinnerungen aufbewahrt werden können, ohne immer wieder eine Schreckensstarre auszulösen.
Auch in der Traumatherapie braucht es Mut und Beherztheit (umgangssprachlich: Schneid) für das »wahre zweite Mal« (geschmiedetes Sichelschwert). Aber vor allem darf man/frau sich nicht ungeschützt der Konfrontation mit dem Schlangenhaupt der Erinnerungen nähern. Es ist dafür ein schützender Schild vonnöten, der die Bilder der Vergangenheit nicht direkt, sondern aus einer gewissen inneren Distanz heraus, wie im Spiegel gesehen, zeigt und somit erträglich macht. Dies stellt auch das Fazit meiner eigenen Forschungsbemühungen dar, die der Frage nachgegangen ist, was Frauen mit frühen und komplexen Traumata hilft, begegnungs- und therapiefähig zu werden und im weiteren »Selbst«-Regie zu erlangen. Die dafür geschaffene Spiegelposition schützt aber nicht nur die Klientin, sondern auch die Therapeutin, da sie ihr eine Hilfsregie aus einer sicheren Position heraus, aber im direkten Kontakt mit der Klientin im Hier und Jetzt (hic et nunc) ermöglicht. Und im weiteren Sinn kann die zum Selbstschutz der TherapeutInnen notwendige Inter- und Supervision gleichermaßen als »Spiegelposition« verstanden werden.
Wenn die Konfrontation solcherart gerüstet gelingt, dann kann daraus eine neue Stärke z.B. in Form von Selbstbehauptung bzw. Selbstbewusstsein (Riese Chrysaor) und kreative Spontaneität z.B. in Form von künstlerischem Ausdruck (geflügeltes Pferd Pegasus) entstehen, auch wenn die Vergangenheit nicht ungeschehen gemacht werden und niemand die völlige Unversehrtheit wiederherstellen kann. Das bedarf auch einer Trauerarbeit zum Unwiederbringlichen (Blutstropfen), die die Trauma-Szenen im erkalteten Zustand als längst vergangene Erinnerungen erkennen lässt (Korallen).
Die notwendigen vorbereitenden Reiseetappen werden als bekannt vorausgesetzt und sollten daher nur anhand des Mythos markiert werden, während der zentrale Aspekt der Konfrontation mit dem »zweiten Mal« anhand der Forschungsergebnisse in den folgenden Abschnitten ausführlicher thematisiert wird.
»Zwischenmenschliche Begegnung lässt die Nervenverbindungen wachsen, aus denen die Psyche entsteht«, betont Daniel Siegel (1999, cit. Huber 2003a, 98) und nimmt damit gleichzeitig sowohl das Heilsame der Begegnung, als auch die Erfahrungsabhängigkeit der hirnphysiologischen Entwicklung und der Entstehung des Selbst in den Blick. Diese Erfahrungsabhängigkeit kann psychodramatisch auch als »Rollen entstehen nicht aus dem Selbst, sondern das Selbst entsteht aus Rollen« (Moreno 1982, cit. Hutter, Schwehm 2009, 317) übersetzt werden. Nach Moreno kann eine Rolle »als letzte Kristallisation aller Situationen in einem bestimmten Handlungsbereich« (1982, cit. Schacht 2003, 25). oder nach Michael Schacht als innere Repräsentation vergangener Rolleninteraktionen (Schacht 2003, 25) verstanden werden. Unter Rollenkonfigurationen dagegen versteht Michael Schacht generalisierte, prototypische Rolleninteraktionen zwischen mehreren Beteiligten, die vielfach sozialen Skripts folgen. Diese Skripts könne man sich gewissermaßen als standardisierte Drehbücher für wiederkehrende Rolleninteraktionen vorstellen.
Karoline Hochreiters Ausführungen zum Selbst als Rollensystem (2004, 140) zufolge stellt sich Moreno den Aufbau des Selbst so vor, dass sich allmählich aus verschiedenen Rollentypen Cluster bilden würden. Nach Moreno seien Rollen die Vorläufer des Selbst und strebten nach Vereinigung und damit zur Clusterbildung. In den verschiedenen Entwicklungsphasen würde sich das psychosomatische (0. bis 15/18. Lm.), das psychodramatische (18. Lm. bis 4./6. Lj.) und das soziodramatische (ab dem 4./6. Lj.) »Partialselbst« herausbilden. Dabei bündeln sich durch Handlungsverbindungen (operational links) die einzelnen Rollen der psychosomatischen, der psychodramatischen und der soziodramatischen Ebene in Form von »clustering« zu physiologischen, psychodramatischen und sozialen »Partial«- oder »Teil«-Selbsten. Sprache wird dabei zum Werkzeug der Selbstinstruktion und der Selbstregulation. Dadurch erst können sich die entwickelten Rollencluster narrativ zur komplexen Struktur des Selbst verknüpfen.
Das wirklich integrierte, ganze Selbst müsse sich durch Handlungs- und Kontaktglieder erst entwickeln, »damit wir nach ihrer Vereinigung identifizieren oder erfahren können, was wir das Ich-Selbst oder das ICH ('me' or the 'I') nennen. Auf diese Weise kann die Hypothese eines latenten metapsychologischen Selbst mit der Hypothese eines entstehenden Handlungs-Selbst (emerging operational self) versöhnt werden« (Moreno 1962, cit. Hutter, Schwehm 2009, 318ff). Die Seele könne man sich dabei als Ganzheit vorstellen, die sich aus Millionen kleiner Anfänge entwickle und selbst schöpfe. Erst wenn die Handlungskompetenzen der unterschiedlichen Rollenebenen im Augenblick, »in der Dynamik der Gegenwart, des Jetzt und Hier, hic und nunc« (Moreno 1966, cit. ibid., 130) aktiviert werden können, kann ausreichend flexibel und angemessen auf die Erfordernisse der sich ständig verändernden Lebenssituationen reagiert werden.
Michael Schacht (2003, 108) und in weiterer Folge Sabine Spitzer-Prochazka (2008, 63) haben dafür das Bild der baumartigen Struktur bzw. des Baumes der inneren Repräsentation geprägt, wobei sich dieser Baum umgekehrt zur Natur von den feinen Ästen beginnend über die Partialselbste, als dickere Äste, immer mehr zu einem Stamm verbinde.
Moreno hat in seiner »Rollentheorie und das Entstehen des Selbst« schon 1962, die jüngsten Erkenntnisse der Traumaforschung vorwegnehmend, die unheimlichen Vorgänge der Dissoziation vorstell- und erklärbar gemacht. Infolge der traumaspezifischen kognitiven Verarbeitungsmechanismen wird durch die Dissoziation der Prozess der Rollenclusterung und der integrierten Selbst-Entwicklung nachhaltig gestört. Eine psychodramatische Definition dissoziativer Identitätsstörungen oder Phänomene könnte lauten, dass durch Traumatisierungen zu Konserven erstarrte, unverbundene Rollencluster entstehen, wobei durch unterschiedliche Lagen unterschiedliche Rollencluster, sowie unterschiedliches soziales Handeln aktiviert werden, ohne narrativ verknüpft zu werden. Die Betroffenen agieren dadurch ohne Selbstregie und sind daher nicht die ProtagonistInnen im eigenen Leben, sondern werden ohne Regie über das gesamte Rollenrepertoire je nach Lage »angespielt«. Dieser Verlust der Selbstregie äußert sich in einem geringen Strukturniveau, das auf Stress lediglich nach einem »alles oder nichts«- bzw. »entweder-oder«-Prinzip (Strukturniveau 0 und 0-1) antworten kann (vgl. Schacht 2009).
Die folgende Abbildung zeigt eine von mir für die Dissoziative Identitätsstörung modifizierte Version des bereits von Sabine Spitzer-Prochazka (2008, 63) weiterentwickelten »Baumes der inneren Repräsentation« von Michael Schacht. Das Modell dient der Veranschaulichung meiner Vorstellung vom integrierten, unverletzten »Selbst« mit einer Clusterung von soziodramatischen, psychodramatischen und psychosomatischen Rollen, die aber untereinander über den gemeinsamen Stamm in Verbindung stehen und eine progressiv funktionale Rollenaktivität je nach Gefordertheit der Lage ermöglichen. Daneben habe ich das Bild einer dissoziativen Binnenstruktur gestaltet, die keine innere Verbindung der unterschiedlichen Rollen aufweist, also dissoziiert/bruchstückhaft und dysfunktional bleibt und im Kern eine Bewältigungsrolle als Gastgeberposition bereithält. Durch die dissoziative Fragmentierung gibt es insbesondere bei der dissoziativen Identitätsstörung letztendlich zwar viele innerpsychische ProtagonistInnen, aber keine Regisseurin, viele Äste ohne gemeinsamen Stamm.
Abb. 1: »Baum der inneren Repräsentation« bei »integrierter« Selbststruktur (li) und bei »dissoziierter« Selbststruktur (re) (Kastner 2011, 24)
Ausgangsmaterial der gegenstandsbezogenen Theoriebildung, die nicht theorie- sondern datengeleitet vorgeht, war die Gesamtheit an Fallprotokollen jener Klientinnen, die in ihrer frühen Kindheit schwerwiegende psychische Verletzungen erlitten und daher mit dissoziativen Traumafolgesymptomen zu kämpfen haben. In dieser Phase, die sich mit der Datensuche befasste, wurden sogenannte Kodes herausgearbeitet, die eine Kategoriebildung und eine Dimensionalisierung der einzelnen kategorialen Eigenschaften ermöglichte. Die Fallprotokolle führten zu folgenden Kategorien: Verletzungsarten, Verletzungsfolgen, Schutz- und Trosterfahrungen, Bewältigungsstrategien und Therapiekompetenz.
Nach und nach wurde deutlich, dass manche der Klientinnen trotz schwerwiegender Traumatisierungen in der frühen Kindheit und eines hochpathologischen Herkunftsfamiliensystems, in der Lage waren eine Außenperspektive auf das innerpsychische Geschehen zu entwickeln. Weiters konnte bei jenen Klientinnen, die zur Außenperspektive fähig waren, eine höher entwickelte Therapiekompetenz und eine geringere Abbruchtendenz beobachtet werden. Mit dem dafür eigens entwickelten Begriff der »Cluster-Regisseurin« wurden also jene Klientinnen beschrieben, die eine Art Außenregie über die abgespaltenen inneren Anteile übernehmen konnten. Ihnen wurden die »Cluster-Akteurinnen« gegenübergestellt, die diese exzentrische Position nicht einnehmen konnten und daher je nach Situation (bzw. Lage) ohne Regie über das eigene Rollenrepertoire »angespielt« wurden.
Für den nächsten Schritt, der in der grounded theory axiales Kodieren genannt wird, wurde eine Sortierlogik nach Prototypen gewählt. Dafür wurden zwei Klientinnen, die sich als besonders prototypisch für die Cluster-Regisseurin im einen Fall, im zweiten Fall für die Cluster-Akteurin erwiesen haben, untersucht. Durch die vergleichenden Analysen ursächlicher und intervenierender Bedingungen in der Biografie, der Konsequenzen und Folgewirkungen auf das Strukturniveau und der Handlungen und Interaktionen im Therapieverlauf konnte ein paradigmatisches Modell der Wirkzusammenhänge entwickelt werden und ein wiederkehrendes Grundprinzip im Sinne einer Kernkategorie wurde emergent. Konkret hatte sich in den Biografieanalysen das Vorhandensein eines loyalen sekundären Bezugsobjektes (manchmal auch nichtmenschlicher Art), das einen gemeinsamen Blick auf das traumatisierende, aber vertraute Geschehen ermöglicht, als eine das Strukturniveau erhöhende Variable herausgestellt. Dieser Wirkmechanismus wurde daher auch für die Therapie als integrationsfördernde Kategorie übernommen. In der Zusammenschau aller Daten in der letzten Theoriebildungsphase, die als selektives Kodieren bezeichnet wird, schien schließlich das gemeinsame Einnehmen einer Außenperspektive als zentrales Konzept die höchste Integrationskraft für die datenbasierte Theoriebildung im Sinne der grounded theory zu besitzen.
Im Psychodrama wird das Einnehmen der Außenperspektive, um z.B. in einem ProtagonistInnenspiel gemeinsam mit dem/der Leiter/in auf die entwickelte Szene zu schauen, als eine Variante der »Spiegeltechnik« beschrieben (vgl. Lammers 2004). Die in der Analyse emergent gewordene Kernkategorie sollte nicht nur die Außenperspektive, sondern auch die konkrete Begegnungs- und Handlungserfahrung ausdrücken. Abduktiv wurde gerade dieser Anspruch durch die Metapher des »Gemeinsam-in-den-Spiegel-Schauens« verdichtet und als »Spiegelposition« in Abgrenzung zur Spiegeltechnik, die das konfrontativere Spiegeln meint, im psychodramatischen Handlungsraum implementiert.
Auch Klaus Ottomeyer (2004, 348) fordert für die Arbeit mit Traumatisierten die Anwendung der aus der Theatertechnik abgeleiteten »Teichoskopie«, d.h. über die Mauer schauen. Die Betroffenen sollen dabei nicht in die (gespielte oder im Monodrama aufgestellte) Szene hineingehen, sondern der Spiegeltechnik entsprechend von außen und von dem/der Therapeuten/in als Hilfs-Ich begleitet die Szene beobachten und erst nach und nach an eine Integration des dissoziierten Geschehens durch Hinein- und Hinauswechseln herangeführt werden. Ein Rollentausch mit dem/der Täter/in ist dabei kontrainduziert. Erst wenn genügend stabile, nicht traumatisierte bzw. funktionale Rollen entwickelt und zur freien Wahl verfügbar gemacht wurden, könne an eine Bearbeitung der traumatisierenden Szene herangegangen werden, um ein »wahres zweites Mal« zur »Befreiung von eingeklemmtem Leben« zu ermöglichen.
Reinhard T. Krüger (2002, 121) bezeichnet diesen Prozess der Reinszenierung des Traumas als »Nadelöhr« und erweitert dafür das von Hildegard Pruckner entwickelte 3-Bühnen-Modell um den »Sicheren Ort« auf vier verschiedene Arbeitsräume oder Bühnen. Er nennt den Begegnungsraum »Kontroll- oder Regieraum«, für dessen Existenz während der Traumasitzungen der/die Therapeut/in der Garant sei. Dort werden die einzelnen Schritte abgesprochen und die Zustimmung der ProtagonistInnen für jeden Teil der Arbeit auf der Spielbühne eingeholt. Die Spielbühne wird unterteilt in den »Handlungsraum« und den »Beobachtungs- und Erzählraum«. Zwischen ihnen kann hin- und hergewechselt werden.
Im Falle einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung mit dissoziierten Rollenclustern kann die Ursprungsszene oft gar nicht reinszeniert werden, da sie dem content-center des Gedächtnisses nicht zugänglich ist und dem prozeduralen Unbewussten entspringt. Sie inszeniert sich aber ungewollt, also phänomenologisch, auf den verschiedenen Bühnen: auf der Begegnungsbühne durch Beziehungsstörungen mit wiederkehrender Begegnungsabsage (Schacht, Pruckner 2010, 240ff), durch einige Besonderheiten im Einsatz psychodramatischer Techniken auf der Spielbühne (vgl. Schacht 2009; Krüger 2002; Hintermeier 2010; Ottomeyer 2004; etc.) und durch Reinszenierungen mit Retraumatisierungsrisiko in der Alltagsrealität. Menschen mit strukturellen Störungen auf Störungsniveau 0 und 0-1 bedürfen daher verstärkt der therapeutischen Hilfs-Ich-Kompetenzen im Sinne eines Nachnährens und schützenden Anleitens.
In Anlehnung an die bestehenden Modelle kann dem Resultat dieser grounded theory zufolge im Rahmen eines ProtagonistInnenspiels auf der Psychodramabühne zwischen drei Positionen hin-und hergewechselt werden. In der von mir als »Ressourcenzone« bezeichneten Position werden die Hilfsmittel erworben, um einer Konfrontation mit dem »zweiten Mal« standhalten zu können (Tarnkappe, geflügelte Schuhe, Mantelsack, Sichelschwert und auch der verspiegelte Schild). In der zweiten Position kann sich die »szenische Darstellung« des »zweiten Mal« herauskristallisieren und durch das Hineinwechseln in verschiedene Rollen (nicht in die Täterrollen!) eine affektive Erfahrung ereignen.
In der von mir als »Spiegelposition« beschriebenen Verortung verbindet sich der Kontroll- und Regieraum mit dem Beobachtungs- und Erzählraum und bietet eine sichere Position für eine »teichoskopische« Annäherung an das »zweite Mal«. Von dort aus kann bei dissoziativen Störungen in der Selbst-Struktur ein Überblick über dissoziierte innere Anteile gewonnen werden mit dem Ziel, durch die Außenperspektive auf das fragmentierte innerpsychische Geschehen zunehmend regiefähig zu werden. Schließlich muss bei dissoziativen Personen die Frage gestellt werden: Wie viele (innere) Personen suchen eine AutorIn? Erst wenn die bislang vereinzelt agierenden inneren AkteurInnen miteinander in Verbindung treten können und auch noch eine gemeinsame AutorIn finden, werden KlientInnen zu RegisseurInnen des eigenen Lebens und zu ProtagonistInnen im eigenen Leben.
Diese dritte Position unterstützt also die als Mentalisierung beschreibbare Fähigkeit zur Selbst- und Emotionsregulation. »Im Gegensatz zu einer rein kognitiv orientierten Theorie des Geistes ('Theory of Mind' oder ToM) wird Mentalisierung als entwicklungspsychologische Errungenschaft betrachtet, die eng mit der Entwicklung von Bindungsrepräsentationen und Affektregulation verbunden ist« (Taubner, Nolte, Luyten, Fonagy 2010, 244). Mentalisierung setze dabei die Fähigkeit zu Als-ob-Handlungen voraus. Bolm schreibt über das von Allen, Bateman, Fonagy et. al. entwickelte Mentalization-Based Treatment (MBT) als spezielle Behandlungsmethode für Borderline-PatientInnen: »Im 'Als-ob-Modus' ist kognitive Exploration möglich, zur Vermeidung von Stillstand geht es aber auch um Zugang zu Affekten und Fantasie« (Bolm 2010, 211).
In diesem Sinne dient die »Spiegelposition« der kognitiven Exploration. Sie stellt den verspiegelten Schild in der Therapie dar. Hier treffen sich KlientIn und TherapeutIn, um gemeinsam das Schlangenhaupt zu besiegen und der Kreativität und Spontaneität zum Durchbruch zu verhelfen – damit eingeklemmtes Leben befreit werden kann!
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Eine ausführliche Beschreibung der Methode und ihrer Anwendung kann in der elektronisch abrufbaren Masterthese der Autorin eingesehen werden. Ein methodenvergleichender Artikel (GT und PD) mit dem Titel "Vom Blick aus dem Muster zum Blick auf das Muster" ist in Vorbereitung und wird demnächst in der "ZS für Psychodrama und Soziometrie" erscheinen.
Die folgenden Abschnitte stellen eine Vereinfachung und eine um einige Aspekte erweiterte Zusammenfassung dar, sind aber in einigen Passagen mit dem Originaltext ident.