Entlastungsgespräche unter KollegInnen nach kritischen Ereignissen – ein Konzept für Pflegepersonen

Clemens Hausmann

Zusammenfassung

Pflegepersonen sind im Berufsalltag einer Fülle von wiederkehrenden Belastungen, manchmal aber auch extremen, potentiell traumatischen Situationen ausgesetzt (z.B. in Notfallaufnahmen, auf psychiatrischen und pädiatrischen Stationen, in der Intensivmedizin, Langzeitpflege, Angehörigenbetreuung uvm.). Ein erstes Gespräch zur Entlastung und Stabilisierung nach einem kritischen Ereignis findet oft unter KollegInnen statt. Der Artikel beschreibt eine einfache, klar strukturierte Gesprächsform, die diese spontane Hilfe effektiv gestaltet und zugleich auf einfache Weise in den Arbeitsablauf integrierbar ist. Das Entlastungsgespräch basiert auf dem Defusing-Konzept nach Mitchell/Everly (2001) und greift neuere Erkenntnisse zu organisationsinterner Traumabewältigung (Rick et al. 2006) sowie allgemeine Grundsätze psychologischer Stabilisierung am Arbeitsplatz (Hausmann 2010) auf. Es ist speziell für Pflegepersonen adaptiert und wird seit 2008 in mehreren österreichischen Krankenhäusern sowohl in der Ausbildung zur Diplompflegefachkraft als auch in der Weiterbildung für Mitarbeiter in Notfallaufnahmen und für Praxisanleiter vermittelt. Praktische Erfahrungen in der Umsetzung des Konzepts sowie notwendige Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Implementierung werden diskutiert. Schlagwörter: Kritische Ereignisse, Entlastungsgespräch, Pflege, CISM, Trauma

Schüsselwörter: Kritische Ereignisse, Entlastungsgespräch, Pflege, CISM, Trauma

Summary

Nurses may be exposed not only to daily stressors, but also to extreme, potentially traumatic situations. A first talk with a colleague can help to find relief and to regain emotional stability. This article presents a simple, clearly structured intervention based on spontaneous support offered by colleagues or friends. It can be easily embedded into the nurses' working routine. The proposed talk is developed upon Mitchell/Everly’s defusing-concept (2001) and recurs to new findings concerning coping with trauma and psychological stabilisation on the workplace (Rick et al. 2006; Hausmann 2010). It has been specially adapted for nurses and is part of their trainings in several Austrian hospitals. First experiences with implementing this enhanced social support, as well as necessary frame conditions, are discussed.

Keywords: Critical incidents, relief talk, nurses, CISM, trauma

Kritische Ereignisse

Pflegepersonen erleben wie viele andere Berufsgruppen (Ärzte, Sanitäter, Polizisten, Feuerwehrleute, Psychologen) im Berufsalltag manchmal extreme Situationen, die zunächst schockierend oder kaum erträglich scheinen. Diese Ereignisse überschreiten die »kritische Marke« der normalen Verarbeitungskapazitäten und beanspruchen in höchstem Maß die Bewältigungs- und Anpassungsfähigkeit der Betroffenen. Kritische Ereignisse (Everly/Mitchell 2002) liegen außerhalb dessen, was selbst im erweiterten beruflichen Bezugsrahmen normal ist. Dazu zählen plötzlicher oder qualvoller Tod eines Patienten/einer Patientin, extrem entstellende Verletzungen, Tod während einer Pflegehandlung, Suizid eines Bewohners/einer Bewohnerin, persönliche Bekanntschaft mit Schwerkranken/Verletzten, eigene akute Gefährdung durch Attacke oder Arbeitsunfall u. v. m. Bereits ein einzelnes kritisches Ereignis kann sehr belastend und potentiell traumatisch sein.

Beispiele

Die unmittelbaren Reaktionen auf ein kritisches Ereignis sind zumeist Gefühle der Hilflosigkeit bzw. Machtlosigkeit der Situation und den eigenen Reaktionen gegenüber, innere Lähmung, Entscheidungs- oder Handlungsunfähigkeit sowie Schuldgefühle (Hausmann 2010). In den Tagen und Wochen danach berichten viele betroffene HelferInnen über Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Gereiztheit, Nervosität, Niedergeschlagenheit, Gefühlsarmut, ungewöhnliche körperliche Erschöpfung und anderes. Im schlimmsten Fall können kritische Ereignisse zu psychischen Störungen führen, die klinisch-psychologisch bzw. psychotherapeutisch behandelt werden müssen (Teegen 2003).

Ein erstes Gespräch zur Entlastung und Stabilisierung sollte bereits in den ersten Stunden nach dem kritischen Ereignis stattfinden. Die meisten Betroffenen möchten am liebsten mit einer erfahrenen Kollegin oder einer vertrauenswürdigen Person der eigenen Berufsgruppe sprechen (Hausmann 2011). Ein Gespräch mit einem Psychologen/einer Psychologin wird von vielen als »zu groß«, möglicherweise auch als stigmatisierend abgelehnt (»So schlimm war es auch nicht«, »Ich bin ja nicht verrückt«).

Tatsächlich werden auf vielen Stationen und Abteilungen spontan entlastende Gespräche geführt, zumeist jedoch improvisiert und ohne speziellen Plan. Problematisch können solche Gespräche werden, wenn sie unter Zeitdruck stattfinden, die vorhandene Stressreaktion durch zusätzliche Emotionalisierung oder Überengagement verstärken, mit sozialer Kontrolle, Freiheitsbeschränkung oder Verpflichtungsgefühlen verbunden sind oder einfach falsche Tipps vermitteln (Kaluza 2011).

Es liegt daher nahe, diese spontanen Unterstützungsgespräche behutsam zu verbessern und so zu strukturieren, dass die psychische Stabilisierung rasch und den Bedürfnissen der Betroffenen entsprechend gefördert wird.

Psychologische Stabilisierung

Aus notfallpsychologischer Sicht beginnt nach dem äußeren Ende eines akuten kritischen Ereignisses die Phase der psychologischen Stabilisierung (Hausmann 2010). Dabei dauert der »innere Ausnahmezustand«, in dem sich die Betroffenen befinden, noch einige Tage an. Die meisten Betroffenen sind in dieser Zeit offen für psychosoziale Unterstützung. Das Hauptziel ist, zurück zu Routine und Normalität zu finden und die Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen. Dabei spielt die Unterstützung durch das soziale Netzwerk – KollegInnen, Freunde, Familie – eine entscheidende Rolle. Psychosoziale und notfallpsychologische Stabilisierungsmaßnahmen können die Bewältigung wesentlich fördern und beschleunigen.

Die Hauptelemente der psychologischen Stabilisierung (Hausmann 2010) sind:

Psychologische Stabilisierungsmaßnahmen werden auch »frühe Interventionen« genannt. Ihre Grundsätze wurden von verschiedenen Autoren und Expertengruppen zusammengefasst (Bisson et al. 2007; Orner/Schnyder 2003). Als besonders wirksam haben sich Interventionen erwiesen, die sich auf folgende Schwerpunkte konzentrieren:

  1. Informationsvermittlung (über normale Reaktionen nach einem Notfall oder Trauma, hilfreiche Bewältigungsstrategien, Möglichkeiten weiterer Hilfe),

  2. Fakten (Was genau ist geschehen? Wie geht es weiter?).

Emotionale Aspekte (Was war das Schlimmste?) werden manchmal von den Betroffenen selbst angesprochen, sollten aber in den ersten Tagen nicht forciert werden (Rick et al. 2006).

Wichtig ist, den Betroffenen mehrere Gespräche anzubieten (mindestens zwei), um sicherzustellen, dass alle – auch verzögert auftauchende – Fragen beantwortet werden und hilfreiche Bewältigungsstrategien gut umgesetzt werden. Auch ein möglicher weiterer Betreuungsbedarf kann im Rahmen mehrerer Gespräche besser abgeklärt werden. Einzelne, für sich stehende Interventionen im Sinne von »ein Gespräch und das war’s« (»hit and run«) können bei den Betroffenen den Eindruck erwecken, sie würden technisch abgefertigt oder mit ihren Problemen letztlich doch allein gelassen.

CISM – Konzept und Kritik

Das umfassendste und vor allem bei Einsatzkräften und Blaulichtorganisationen breit implementierte System zur psychologischen Stabilisierung nach kritischen Ereignissen ist das Critical Incident Stress Management (CISM). Es wurde in den 1970er- und 1980er-Jahren von Jeffrey Mitchell und George Everly aus verschiedenen Einzelinterventionen entwickelt und zu einem strukturierten mehrteiligen System von Maßnahmen ausgebaut (Mitchell/Everly 2001; Everly/Mitchell 2002; Flannery 1999).

CISM-Maßnahmen sind strukturierte Gespräche in den Stunden und Tagen nach einem kritischen Ereignis. Dieses wird von den Beteiligten nochmals aus ihrer Sicht erzählt und zusammengefasst. Weiters werden die bisherigen psychischen Reaktionen besprochen, und zwar als normale Reaktionen eines normalen Menschen auf ein nicht normales Ereignis. Tipps zur weiteren Verarbeitung sowie ein Ausblick auf mögliche weitere Reaktionen und nächste Schritte runden die Interventionen ab.

Die wichtigsten CISM-Maßnahmen (Everly/Mitchell 2002) sind:

Die CISM-Maßnahmen zielen auf die Reduktion von Häufigkeit, Dauer und Schweregrad der Stressbelastung nach einem kritischen Ereignis sowie auf die Nachsorge und Weiterbetreuung durch Spezialisten, falls notwendig. Es handelt sich um strukturierte Gespräche mit klarem Anfang und Ende. Diese Struktur wirkt als »Gegenmittel« gegen das Chaos nach einem kritischen Ereignis und hilft, die vielen offenen Fragen in eine gewisse Ordnung zu bringen. Weiters soll die persönliche Bewältigung gefördert werden. Eine längerfristige Betreuung wird nicht angestrebt. Vielmehr geht es um einen möglichst guten inneren Abschluss des Ereignisses CISM und insbesondere das Debriefing als »Hauptintervention« wurden einer umfassenden und nicht immer sachlichen Kritik unterzogen (Übersicht in Hausmann 2009a, 2010; Hawker et al. 2010). Insbesondere die mögliche Nichtbeachtung individueller Copingstrategien (durch sozialen Druck, etwas sagen zu müssen sowie durch Emotionalisierung), eine mögliche Retraumatisierung aufgrund zu früher Konfrontation mit dem Ereignis sowie Gefahren einer unsachgemäßen Leitung durch nicht qualifizierte Personen wurden betont. Dem gegenüber stehen positive Berichte vieler TeilnehmerInnen, die CISM-Interventionen als sehr hilfreich und entlastend gefunden haben, sowie das generelle Bedürfnis beinahe aller Betroffenen nach Gespräch und Unterstützung während der Stabilisierungsphase. Empirische Untersuchungen zur Wirksamkeit liefern bis jetzt kein einheitliches Bild. Es zeigt sich jedoch, dass korrekt durchgeführte Debriefings die akute Stressbelastung und Langzeitbelastungen effektiv reduzieren können; sie wirken allerdings nicht präventiv in Bezug auf PTBS (Beck et al. 2007).

Ein wesentliches Ergebnis der sogenannten »Debriefing-Debatte« und der Kritik an unpersönlichen, quasi mechanisch angewandten Standard-Interventionen (Rick et al. 2006) war die Suche nach adaptierten, den jeweiligen Arbeitsbedingungen und Gewohnheiten der Betroffenen angepassten Interventionen.

Entlastungsgespräch unter KollegInnen

Ein erstes Gespräch zur Entlastung und Stabilisierung nach einem kritischen Ereignis sollte möglichst noch am selben Tag, ansonsten möglichst bald in den folgenden Tagen stattfinden (nicht warten bis zum nächsten Supervisionstermin!). Es kann von einer erfahrenen Kollegin oder einer der Betroffenen nahestehenden Person geführt werden, die selbst nicht in das kritische Ereignis involviert war.

Das Entlastungsgespräch soll helfen, emotional und gedanklich zurück »auf den Boden« zu kommen und die berufliche Routine wieder aufzunehmen. Die individuellen Reaktionen werden normalisiert und das soziale Netzwerk aktiviert. Das Gespräch sollte an einem ungestörten Ort stattfinden.

Das vorgeschlagene Entlastungsgespräch basiert auf dem Defusing-Konzept von Mitchell/Erverly (2001). Den Autoren folgend soll ein Defusing (wörtlich »Entschärfung«) in den ersten 12-24 Stunden nach einem kritischen Ereignis durchgeführt werden und 30-60 Minuten dauern. Es gliedert sich in 1. Einleitung, 2. Exploration, 3. Information. Implizit wird davon ausgegangen, dass sich die Gesprächspartner nicht persönlich kennen. Der Leiter/die Leiterin des Gesprächs (ein geschulter Peer oder Mental Health Professional) nimmt eine gewisse Expertenrolle ein, was die Folgen und Bewältigungsmöglichkeiten in Bezug auf das Ereignis betrifft. Das Defusing wurde primär für Einsatzkräfte entwickelt und hat dementsprechend in viele sogenannte Peersysteme Eingang gefunden (z.B. Rotes Kreuz, ÖBB, Polizei). Im Pflegebereich haben sich allgemeine Peersysteme nicht durchgesetzt. Da sich die Gesprächspartner persönlich oft gut kennen, wird eine formelle Einleitung, in der Grund und Ziele des Gesprächs genannt werden (Defusing-Schritt 1), rasch als »künstlich« empfunden, die Vermittlung grundlegender Informationen über Stress und seine Bewältigung (Schritt 3) oft als überflüssig. Auch eine Gesprächsdauer von 30-60 Minuten ist im Pflegealltag meist unrealistisch.

Das Defusing wurde deshalb speziell für Pflegepersonen adaptiert und zu einem allgemeinen Entlastungsgespräch erweitert (Hausmann 2009b, 2010). Seine Struktur ist den Möglichkeiten des Pflegealltags angepasst. Es wird seit 2008 in mehreren österreichischen Krankenhäusern vermittelt und von Pflegepersonen angewandt. Die folgende Darstellung ist eine nochmals überarbeitete Version, die Rückmeldungen und Erfahrungen der Pflegepersonen berücksichtigt.

Ablauf des Entlastungsgesprächs unter KollegInnen

Das Entlastungsgespräch unter KollegInnen behandelt nach einander drei Themen: Fakten, Reaktionen und nächste Schritte. Es dauert 10-20 Minuten.

1. Exploration der Fakten

Das Gespräch beginnt möglichst einfach mit einer Beschreibung des kritischen Ereignisses: »Was ist passiert? Erzähl mir.« Das Verbalisieren fördert die kognitive Verarbeitung und hilft, die Ereignisse zeitlich zu ordnen. Dadurch kann die Betroffene auch etwas Abstand zu ihnen gewinnen. Wichtig ist, bei den Fakten zu bleiben (keine Interpretationen, Diskussionen, Rechtfertigungen). Durch behutsames Nachfragen kann die Erzählung in Fluss gehalten werden (»Was hast du als nächstes getan? Was ist dann passiert?«), sodass man selbst ein ungefähres Bild der Ereignisse und des Ablaufs gewinnt.

Manche Betroffene erzählen zunächst eher bruchstückhaft oder unvollständig. Das kann als Ausdruck des inneren Chaos verstanden werden, in dem sich viele kurz nach dem Ereignis noch befinden. Klares, sachliches Erzählen hilft, die Eindrücke zu ordnen und sich dabei zu beruhigen. Andere fassen sich sehr kurz und gehen in ihrem Bericht nicht ins Detail. Auch das kann aktuellen Bedürfnissen entsprechen (Distanzierung, die Sache hinter sich bringen). Insgesamt sollte niemand im Gespräch gedrängt werden, über Dinge zu sprechen, wenn er/sie das nicht will.

2. Exploration der Reaktionen, Normalisieren

Wenn die Fakten klar sind und die Betroffene innerlich etwas Abstand gewonnen hat, fällt es den meisten leichter, auch über sich zu sprechen. Mit einfachen Fragen kann der aktuelle Zustand exploriert werden: »Wie geht es dir jetzt?«, »Was geht dir im Kopf herum?« Diese Fragen sind vor allem als Angebot zu verstehen. Die unterstützende Kollegin sollte der Betroffenen genau und freundlich zuhören, ohne die Reaktionen zu diskutieren oder das Gespräch in die Länge zu ziehen.

Für die meisten Menschen ist es hilfreich, wenn man das Besondere an der Situation betont und zugleich die Reaktionen normalisiert: »Vielen, die so etwas (zum ersten Mal) erleben, geht es so (ähnlich) wie dir jetzt.« Wichtig ist, dass man erst normalisiert, wenn die Reaktionen geschildert werden (nicht schon vorher oder während des Erzählens, sonst könnte das Normalisieren wie Desinteresse klingen: »Ja ja, das ist normal, hör auf«). Wichtig ist weiters der Hinweis, dass diese Reaktionen von allein abklingen und dass der Betroffene selbst etwas dazu beitragen kann, dass es leichter wird.

Die Betroffene entscheidet selbst, wie viel sie jetzt schon über ihre Reaktionen und Gefühle spricht. Manche sind dazu noch nicht bereit. Keinesfalls sollte man in dieser Phase nachbohren oder belastende Emotionen aktiv herausarbeiten. Wenn Gefühle ausgedrückt werden, bietet das Gespräch eine erste Möglichkeit zur Entlastung. Wenn sie ausgeklammert bleiben, braucht die Betroffene jetzt etwas anderes.

3. Nächste Schritte, Tipps

Im dritten Teil des Gespräches nimmt die unterstützende Kollegin eine aktive Rolle ein. Es werden die nächsten Stunden besprochen: »Was wird/soll als nächstes passieren?«, »Was möchtest du jetzt tun?«, »Was brauchst du?«. Der Schwerpunkt liegt auf konkreten Handlungen sowie auf der Aktivierung des sozialen Netzwerkes: »Wie lange hast du heute Dienst?«, »Was hast du für heute noch vorgehabt?«, »Mit wem willst (oder wirst) du heute noch sprechen?«

Eine baldige Rückkehr zu Routinetätigkeiten ist den meisten am liebsten. Wichtig ist, dass die Betroffene dabei keinen zusätzlichen großen Belastungen ausgesetzt ist. Ein vorzeitiges Heimschicken (»Geh nach Hause und erhol dich«) ist problematisch, da es oft stigmatisierend wirkt (»Die hält nichts aus«). Keinesfalls sollte die Betroffene alleine nach Hause fahren. Auch den restlichen Tag allein zu verbringen kann Ängste, Zweifel und Schuldgefühle weiter verstärken. Besser ist es für die meisten Betroffenen, Zeit mit anderen (Kollegen, Freunden, Angehörigen) zu verbringen und auch in den nächsten Tagen mit mindestens einem Menschen ehrlich darüber reden zu können, wie es einem wirklich geht. Körperliche Aktivität hilft den meisten, zurück in den Alltag zu finden und nicht ins Grübeln zu verfallen.

Das Gespräch endet, wenn die Betroffene einen Plan für die nächsten Stunden sowie die Gewissheit hat, dass auch in den nächsten Tagen wirksame Unterstützung für sie bereit steht. Weitere, vielleicht nur kurze Kontakte (»Wie geht es dir heute?«) in den folgenden Tagen runden die Unterstützung ab und signalisieren gleichzeitig, dass man auch weiterhin für die betroffene Kollegin da ist, falls sie noch etwas braucht.

Bei anhaltender psychischer Belastung kann weiterführende professionelle Hilfe angezeigt sein (durch PsychologIn oder Arzt/Ärztin). Falls nötig, sollte man konkrete weitere Unterstützung anbieten (mit Name, Adresse, Telefonnummer). Wie viele weitere Kontakte dem ersten Gespräch folgen und wie lange sie dauern, hängt von den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten und Bedürfnissen des Betroffenen ab.

Beispiel

In die Notaufnahme eines Krankenhauses wird gegen 2 Uhr früh ein alkoholisierter Mann mit unklaren Bauchbeschwerden eingeliefert. Nach wenigen Minuten wird er verbal aggressiv; seine ebenfalls alkoholisierten Freunde können ihn nicht beruhigen. Als die diensthabende Diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester (DGKS) ihn auffordert seine Jacke auszuziehen, versetzt er ihr ein Stoß, der sie zu Boden wirft. Dann beginnt er in der Ambulanz zu randalieren. Erst die hinzueilende Ambulanzärztin sowie ein weiterer Pfleger können den wüste Drohungen ausstoßenden Mann bändigen. Sie rufen die Polizei; als diese eintrifft, hat der Mann das Krankenhaus bereits verlassen. – Bei der morgendlichen Dienstübergabe berichtet die DGKS kurz von dieser Attacke, wobei ihr die Erschütterung durch den Vorfall noch immer anzumerken ist. Die Stationsleiterin setzt sich im Anschluss mit ihr zu einem Entlastungsgespräch, das den beschriebenen Schritten folgt und etwa 10 Minuten dauert. Danach möchte die DGKS nach Hause, um sich auszuschlafen; ihr Partner werde für sie da sein. Den nächsten Dienst möchte sie wie geplant antreten. Für die folgende Woche wird eine interdisziplinäre Besprechung zum Umgang mit aggressiven Patienten und Angehörigen angesetzt.

Diskussion

Das vorgeschlagene Entlastungsgespräch basiert auf dem Defusing-Konzept von Mitchell/Erverly (2001), weicht aber bezüglich Dauer und konkreter Durchführung davon ab. Inhaltlich folgt es den Empfehlungen von Rick et al. (2006), indem es den Schwerpunkt auf die Fakten des Ereignisses (»Was ist geschehen?«) und die Informationsvermittlung legt (»Wie geht es weiter?«), während emotionale Aspekte nicht forciert werden. Zugleich enthält es die Hauptelemente der psychologischen Stabilisierung (Hausmann 2010), wobei der Aktivierung des sozialen Netzwerks und der Förderung hilfreicher Bewältigungsprozesse besondere Bedeutung zukommt. Allein die Tatsache, dass sich eine Kollegin für die Betroffene Zeit nimmt, um knapp und sachlich über das kritische Ereignis zu sprechen, wird von vielen als »institutionelle Zuwendung« aufgefasst. Sie fühlen sich ernst genommen und in ihrer professionellen Kompetenz angesprochen (»Wie gehen andere damit um?«). Das Ereignis wird dabei weder kleingeredet noch dramatisiert. Diese sachlich-fördernde Haltung unterstützt jüngere KollegInnen, mit für sie neuen Situationen besser umzugehen, während es erfahrenen hilft, rasch ihre fachlichen und persönlichen Ressourcen zu aktivieren (Beispiele dazu in Hausmann 2011).

Die einfache Struktur des Entlastungsgespräches folgt den situationsbezogenen Bedürfnissen der Betroffenen. Durch das klare Vorgehen kann die oft nur improvisierte kollegiale Unterstützung verbessert und effektiver gestaltet werden. Die vorgeschlagene Gliederung gibt der unterstützenden, das Gespräch führenden Kollegin einen Leitfaden und soll zugleich häufige Fehler hintanhalten (Emotionalisierung, soziale Kontrolle, Bagatellisierung; Kaluza 2011).

Die relativ kurze Dauer von 10-20 Minuten kommt den Erfordernissen und Möglichkeiten des Pflegealltags entgegen. Ein kürzeres Gespräch wäre der subjektiven Schwere eines kritischen Ereignisses (im Unterschied zum bloßen Vorfall) nicht angemessen, ein längeres im laufenden Betrieb kaum unterzubringen. Das Gespräch sollte lang genug sein, um das Erlebte ernsthaft zu erfassen und die nötigen Ressourcen zu aktivieren, und zugleich kurz genug, um das Geschehene nicht aufzubauschen oder die Betroffene zu stigmatisieren (»So schlecht geht’s ihr also«).

Für Pflegepersonen, die mit konkreten betroffenen KollegInnen konfrontiert sind, ist die Durchführung eines Entlastungsgespräches oft nicht schwer. Die Schritte folgen logisch aufeinander, der Ablauf ergibt sich fast von selbst. Wichtig ist vor allem, dass die Bedeutung der psychischen Stabilisierung nach kritischen Ereignissen im Team klar kommuniziert wird und entsprechende Maßnahmen von der Leitung gefördert und eingeplant werden. Insgesamt dienen Entlastungsgespräche der sekundären Prävention (Reduktion von Folgeproblemen nach eingetretener Belastung) und entsprechen damit den Grundsätzen der Betrieblichen Gesundheitsförderung (Faller 2010).

Die konkrete Vorgehensweise kann in verschiedenen Fort- und Weiterbildungen, aber auch bereits in der Grundausbildung vermittelt werden. In Österreich ist das Konzept gut in das Curriculum für die Ausbildung in Allgemeiner Gesundheits- und Krankenpflege (ÖBIG 2003) integrierbar. Es wird seit 2008 im Rahmen von halbtägigen Kommunikationsseminaren an verschiedenen Schulen für Allgemeine Gesundheits- und Krankenpflege der Bundesländer Salzburg und Oberösterreich vermittelt und geübt. Es ist weiters ein wichtiger Bestandteil von Praxisanleiter- und Psychohygiene-Fortbildungen sowie der Weiterbildung gemäß § 14 Gesundheits- und Krankenpflege-Weiterbildungsverordnung »Pflege in Ambulanzen und Notaufnahmen«.

Die Rückmeldungen der Pflegepersonen, was die konkrete Durchführung und allgemeine Anwendbarkeit betrifft, sind durchwegs positiv. Bei Unterbesetzung oder Personalmangel wird allerdings die Dauer von 10-20 Minuten als noch immer zu lang eingeschätzt. Weitere Kritikpunkte zu Ablauf und Formulierungen gingen in den hier präsentierten Vorschlag ein. Eine empirische Überprüfung der Wirksamkeit sowie der Zufriedenheit bei Intervenierenden wie Betroffenen ist in Vorbereitung.

Literatur

Beck, Thomas, Kratzer, Dietmar, Mitmansgruber, Horst & Andreatta, Pia. (2007): Die Debriefing Debatte – Fragen nach der Wirksamkeit. In: Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft und Psychologische Medizin, 5, 9-20.

Bisson, Jonathan, Mark Brayne, Frank Ochberg & George Everly (2007): Early Psychosocial Intervention Following Traumatic Events. American Journal of Psychiatry, 164, 1016-1019.

Everly, George & Jefrey Mitchell (2002): CISM – Stressmanagement nach kritischen Ereignissen. Wien: Facultas.

Faller, Gudrun (Hg.) (2010): Lehrbuch Betriebliche Gesundheitsförderung. Bern: Huber.

Flannery, Raymond (1999): Critical Incident Stress Management and the Assaulted Staff Action Program. International Journal of Emergency Mental Health, 1999, 2, 103-108.

Hausmann, Clemens (2009a): Debriefing pro und contra – Anspruch, Wirksamkeit, Weiterentwicklungen. In Andreas Stupka (Hg.), Zweites Österreichisches Symposion für Psychologie im Militär. Wien: Schriftenreihe der Landesverteidigungsakademie, 2009, 99-114

Hausmann, Clemens (2009b): Psychologie und Kommunikation für Pflegeberufe. Ein Handbuch für Ausbildung und Praxis. 2. aktualisierte und erweiterte Auflage. Wien: Facultas.

Hausmann, Clemens (2010): Notfallpsychologie und Traumabewältigung. Ein Handbuch. 3., vollständig revidierte und aktualisierte Auflage. Wien: Facultas.

Hausmann, Clemens (2011): Das erste Jahr in der Pflege. Einstiege in den Pflegeberuf. Wien: Facultas.

Hawker, David, Jau Durkin & Debbie Hawker (2010): To debrief or not to debrief our heroes: that is the question. Clinical psychology & psychotherapy, epub ahead of print, 2010 Dec. 19. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/21171143, Zugriff am 7.7.2011.

Kaluza, Gert (2011): Stressbewältigung. 2. Auflage. Berlin: Springer.

Mitchell, Jeffrey & George Everly (2001): Critical Incident Stress Debriefing. Third revised edition. Ellicot City: Chevron.

ÖBIG (2003): Offenes Curriculum für die Ausbildung in Allgemeiner Gesundheits- und Krankenpflege. Wien: Österreichisches Bundesinstitut für Gesundheitswesen.

Orner, Roderick & Ulrich Schnyder (2003): Reconstructing early intervention after trauma. Oxford, New York: Oxford University Press.

Rick, Jo, Siobhan O’Regan & Andrew Kinder (2006): Early Intervention Following Trauma. A controlled longitudinal study at Royal Mail Group. Brighton: Institute for Employment Studies. http://www.employment-studies.co.uk/pdflibrary/435.pdf, Zugriff am 1.10.2009.

Teegen, Frauke (2003): Posttraumatische Belastungsstörung bei gefährdeten Berufsgruppen. Prävalenz – Prävention – Behandlung. Bern: Huber.

Autorenhinweis

Clemens Hausmann

Klinischer Psychologe und Gesundheitspsychologe am Krankenhaus Schwarzach/Pongau und in freier Praxis; Notfallpsychologe, Traumatherapeut (EMDR); Lehrbeauftragter der Universität Salzburg. Arbeitsschwerpunkte: Krisen, Notfall/Trauma, Pflege.

Dr. Clemens Hausmann Kardinal Schwarzenberg'sches Krankenhaus Kardinal Schwarzenbergstraße 19 A-5620 Schwarzach/Pongau Österreich

E-Mail: info@clemens-hausmann.at