Günter Mey, Debora Niermann, Petra Panenka & Nicole Weydmann
Journal für Psychologie, 31(2), 155–180
https://doi.org/10.30820/0942-2285-2023-2-155 CC BY-NC-ND 4.0 www.journal-fuer-psychologie.deAuf kursorische Bemerkungen zu den in den letzten 20 Jahren zu beobachtenden Veränderungen der Thematisierung von Lehren und Lernen qualitativer Forschung folgen von allen Diskussionsteilnehmenden zunächst kurze Erfahrungsberichte, um einige Herausforderungen in und mit der Lehre qualitativer Forschung zu pointieren. Im Anschluss werden nicht nur einige Besonderheiten der qualitativen Forschung aufgrund ihrer Essentials (Offenheit, Kommunikativität, Reflexivität) herausgestellt, sondern vor dem Hintergrund der zunehmenden Didaktisierung und Digitalisierung auch Anforderungen einer erfahrungsbasierten Lehre konkretisiert. Darüber hinaus werden auch Ansprüche dahingehend formuliert, in welcher Weise die Methodenausbildung zu reformieren ist, die nicht nur weit über den Ausbau der hochschulischen Strukturen hinausweisen, sondern auch ein grundsätzlich anderes Verständnis der Gestaltung der Lehr-Lern-Arrangements bedeuten.
Schlüsselwörter: Offenheit, Partizipation, Bologna-Reform, Forschendes Lernen, Reflexivität, Lehrwerkstätten, Digitalisierung, Erfahrungswissen, Scholarship of Teaching and Learning
Current Transformations of Teaching and Learning Qualitative Research
A Discussion
After remarks on the changes in the discussion about teaching and learning of qualitative research over the last 20 years, all panelists report their experiences to point out some challenges in and with teaching in this field. Subsequently, some unique features of teaching and learning qualitative research are discussed due to its essentials (openness, communication, reflexivity). Regarding the increasing didactization and digitalization, the panelists concretize the requirements of experience-based teaching. They also bring forward affordances for reforming learning and teaching methods, which go far beyond the expansion of university structures and entail a fundamentally different understanding of the design of arrangements for teaching and learning.
Keywords: openness, participation, Bologna reform, research-based learning, reflexivity, teaching workshops, digitalization, experiential learning, Scholarship of Teaching and Learning
Die Diskussion wurde am 29. Juli 2023 im Rahmen des Symposiums beim 18. Berliner Methodentreffen Qualitative Forschung (BMT) an der Freien Universität Berlin geführt. Von der Aufzeichnung wurde mittels des Programms f4x zur automatischen Spracherkennung ein Transkript erstellt,2 das zunächst von Günter Mey aufbereitet und sodann in einem mehrmaligen Abstimmungsprozess unter allen Beteiligten überarbeitet wurde. Die Redebeiträge wurden hierbei sprachlich geändert, alle Publikumsbeiträge entfernt, Passagen gekürzt bzw. um bei der Vorbereitung der Diskussion vermerkte Aspekte erweitert und schließlich um Literaturangaben ergänzt. Die Originalversion der Podiumsdiskussion ist als Video abrufbar auf der Dokumentationswebseite des BMT.3
Günter Mey: Wir haben beim BMT bereits 2006 und 2010 das Thema Lehren und Lernen diskutiert (Flick et al. 2014), sodass sich die Frage stellt, warum das Thema nun ein drittes Mal verhandelt wird. Dafür sehe ich drei Gründe. Zunächst ein historischer: Das BMT wurde Anfang des Millenniums initiiert und dann 2005 das erste Mal ausgerichtet, da qualitative Forschung damals, so die Diagnose, an Hochschulen und Universitäten einen schweren Stand hatte. Sie befand sich oftmals in der Peripherie und wurde marginalisiert. Es gab zwar auch schon zu der Zeit einige Übersichtsbände und erste Lehrbücher, aber wie qualitative Forschung zu praktizieren ist, war zumindest in vielen Fachdisziplinen und an vielen akademischen Orten – jenseits der Hochburgen – eine Leerstelle (Mruck und Mey 2000). Jahrelang konnte ich bedenkenlos auf ein Zitat von Christel Hopf und Walter Müller (1994, 43f.) zurückgreifen.
»Bedauerlich ist […], daß im Rahmen der Universitätsausbildung qualitative Verfahren nicht den Stellenwert haben, den sie wegen ihrer Bedeutung für die Auseinandersetzung mit elementaren Fragestellungen […] haben müssten. So ist die Ausbildung in den Methoden der empirischen Sozialforschung an den meisten Universitäten sehr stark durch die Ausbildungsansprüche im Bereich der quantitativen Verfahren bestimmt. Kein Wunder, wenn Studierende und Absolventen […] vielfach Probleme mit der Umsetzung elementarster Anforderungen an qualitative Forschung haben. Mit der Aufnahme von Feldkontakten, mit der Durchführung teilstandardisierter Interviews, mit der Fähigkeit zu beobachten, Beobachtungsprotokolle zu schreiben oder die Angemessenheit von Transkriptionen zu beurteilen.«
Heute würden wir diese Diagnose mutmaßlich anders formulieren, auch wenn an einigen Orten und auch in den Lehrplänen einiger Studiengänge es mitunter wie Mitte der 1990er Jahre zugehen mag. Sicherlich würden wir heute auch problematisieren, dass qualitative Forschung so vielfältig geworden ist, dass es kaum möglich erscheint, in der Lehre auch nur ansatzweise entsprechende Angebote zu unterbreiten (Keller 2014).
Ein zweiter Grund, warum das Thema Lehre-Lernen zentral scheint, ist seine Bedeutung für die Güte unserer Forschung. Denn wir wollen am Ende qualitativ hochwertige Studien präsentieren. Aber ebenso relevant ist eine gute Ausbildung für die weitere Etablierung und Entwicklung der qualitativen Forschung. Hier erinnere ich an das »Memorandum für eine fundierte Methodenausbildung«,4 das wir 2008 vorgelegt haben und das von 20 Fachgesellschaften ratifiziert wurde (Mey 2008; Mey und Mruck 2014, 20). Damit wurde eine Lehre eingefordert, die in Umfang und Arbeitsform den methodischen Ansprüchen der Forschungspraxis Rechnung trägt und für die besondere Charakteristik qualitativer Forschung sensibilisiert, also vom Forschungsdesign über die Plausibilisierung von Methoden bis hin zu Berücksichtigung forschungsethischer Richtlinien. Um eine solche Lehre zu ermöglichen, heißt es im Memorandum, dass an Hochschulen »ausreichend Lehrmittel und kommunikative Räume wie Interpretations- und Analysegruppen […] durch Bereitstellung angemessener Ressourcen (Räume, Anrechnung auf Lehrdeputat) und Strukturen nachhaltig sicherzustellen« sind. Wie weit wir mit dieser Forderung gekommen sind, haben wir 2022 begonnen auf dem Symposium »Zur Organisation Qualitativer Forschung«5 zu diskutieren. Nebenbei ist daraus eine Initiative zur Vernetzung der existierenden Methodenzentren angestoßen worden, da die damaligen Podiumsteilnehmenden (Alexa M. Kunz, Katharina Miko-Schefzig, Debora Niermann und Ursula Offenberger) sich mit anderen formiert haben und im Juni 2024 eine Auftakttagung in Frankfurt am Main ausrichten (zu Methodenzentren: Kalkstein und Mey 2021; Miko-Schefzig in diesem Heft). Wie sehr eine übergeordnete Vernetzung und der Austausch unter Lehrenden qualitativer Methoden weiterhin nötig ist, zeigen auch die jüngsten Entwicklungen. Die Initiative von Nicole Weydmann 2022 über die Mailingliste QSF_L als Aufruf zur Vernetzung und zum Austausch über qualitative Methodenlehre hat für viel Resonanz gesorgt.6 Dies scheint mindestens ein Indiz für die Ausbreitung qualitativer Forschung zu sein, vielleicht aber auch für nach wie vor anhaltende Missstände.
Drittens müssen wir schließlich über qualitative Forschung und über deren Lehre reden, da wir uns in einer rasant wandelnden Welt bewegen und damit auch die Frage der Veränderung immer mitzudenken ist (Riegler et al. in diesem Heft). Nach der Transformation durch die Bologna-Reform hatten und haben wir mit Fragestellungen zu kämpfen, die durch sehr kleinteilige Modularisierung entstanden sind und der zunehmenden Rede vom kompetenzorientierten Lernen, Lehren und Prüfen. Einige sprechen auch von einer Überdidaktisierung und andere gar von einer Verschulung. Infolgedessen ist auch zu konstatieren, dass sich eine Veränderung von Lehrmaterialien vollzieht. Es werden eine Fülle zunehmend digitaler Schulungsmaterialien produziert (Ülpenich in diesem Heft), zahlreiche Lehr- und Erklärvideos auf YouTube bereitgestellt und vieles mehr. Diese Entwicklung wirft die Frage auf, ob es uns überhaupt als Lehrende physisch vor Ort noch benötigt oder, wenn wir schon vor Ort sind, welche Folgen dies für die Konzipierung der Lehre hat und wie wir unsere Lehr-Lern-Arrangements gestalten. Insofern wollen wir heute auch stärker auf diese Transformationen eingehen, die sich durch die Didaktisierung einerseits und die Digitalisierung andererseits hinterrücks ergeben haben. Hinterrücks, weil wir uns in einem Kontext bewegen, der sich nicht nur über verschiedene Spannungsfelder charakterisieren lässt (Stamann, Lehwald und Ruppel 2023), sondern auch die Frage nahelegt, ob mit der Diskussion um Lehren und Erlernen vielleicht ganze andere Fragen als Hidden Agenda auch für die Ausformung der qualitativen Forschung mitverhandelt werden. Die Stichworte wären hier etwa Vergleichbarkeit, Überprüfbarkeit, Standardisierung. Vor diesem Hintergrund bewegen wir uns in einem Spannungsfeld zwischen Kanonisierung von Forschungsmethoden einerseits und einer zunehmenden Pluralisierung andererseits. Zu fragen ist aber auch, wie es sich mit dem Erlernen methodisch-technischen Wissens auf der einen Seite und mit der Bedeutung der Enkulturation und damit der Einübung einer qualitativen Haltung auf der anderen Seite verhält. Schließlich ist zu erörtern, inwieweit über die Digitalisierung von Lehr-Lern-Arrangements nicht nur die für qualitative Forschung bedeutsame Priorisierung leiblicher Kopräsenz und analoger Verfahren unterlaufen wird, sondern mehr noch die didaktische Vorstrukturierung institutioneller Lernprozesse gerade für eine Aneignung qualitativer Forschungskompetenzen hinderlich ist, die Offenheit, Selbstreflexivität und selbstgesteuerte Gestaltungsprozesse beim Forschen umfassen.
Günter Mey: Wir starten damit, dass jede der Teilnehmer*innen ein Beispiel aus der eigenen Lehre qualitativer Forschung einbringt, sei es eines, das als Best Practice verstanden werden könnte oder auch ein Worst Case, um besondere Schwierigkeiten zu verdeutlichen.
Nicole Weydmann: Im Laufe eines Semesters bin ich alltäglich mit außerordentlichen Erlebnissen in der Lehre konfrontiert. Mein heutiges Beispiel stammt aus diesem Semester und ich habe dabei kein Best-Practice-Beispiel gewählt, als vielmehr eine Episode, die verdeutlichen kann, wie komplex und vielschichtig die Herausforderungen an Lehrende im Alltag sind. Zugetragen hat sich dieses Beispiel im zweiten Semester des Studiengangs »Angewandte Gesundheitswissenschaften« im Seminar »Einführung in die qualitative Forschung« an der Hochschule Furtwangen. Die Studierenden durchlaufen in diesem Seminar erstmals einen qualitativen Forschungsprozess, von der Entwicklung einer Fragestellung, über die Datenerhebung bis hin zur Analyse und Verschriftlichung. Idealerweise führen sie in diesem Rahmen pro Person ein Interview oder eine Fokusgruppendiskussion durch und zu einer thematisch ähnlich gelagerten Frage durchlaufen sie auch das angekoppelte quantitative Methodenseminar. In diesem Semester hatte ich eine Gruppe, die sich mit Fragen des Zusammenhangs von Armut und Gesundheit auseinandersetzen wollte und für das qualitative Methodenseminar die Frage entwickelt hat: »Welchen subjektiven Zusammenhang gibt es zwischen dem Bezug von Bürgergeld und dem eigenen Bewegungsverhalten?« Die kleinen Forschungsgruppen nutzen ihre Fragestellungen in der Regel, um nahe Bezugspersonen, wie Freunde, Eltern, Großeltern oder andere Verwandte, zu befragen. Die Frage des Feldzugangs und damit verbundene ethische Implikationen haben wir im Seminar diskutiert, ohne jedoch explizit jede Gruppe einzeln in ihrem Forschungsvorgehen zu befragen. In diesem Semester hörte ich bei einer Gruppe dann nur beiläufig auf dem Flur, dass deren Mitglieder planten, mit einem Sixpack Bier im Park nach Empfänger*innen von Bürgergeld Ausschau zu halten, um eine Ad-hoc-Fokusgruppe abzuhalten.
Was sollte ich tun? Das Thema Forschungsethik und auch Fragen der stigmatisierenden Zuschreibungen hatten wir zuvor anhand verschiedener Beispiele gemeinsam erörtert und diskutiert. Diese schienen aber bei dieser Studierendengruppe nicht wirklich angekommen zu sein. Daher fragte ich mich nun, ob ich den Studierenden diesen Feldzugang untersagen musste. Ich entschied mich, nachzufragen, ob dies eine ernsthafte Planung einer Rekrutierung oder doch vielmehr ein schlechter Scherz wäre; ich hatte gehofft, damit ein nochmaliges Überdenken anzustoßen. In der darauffolgenden Woche haderte ich immer wieder damit, ob ich das Vorgehen der Studierendengruppe hätte unterbinden müssen. Die Forschungsgruppe erzählte in der nächsten Sitzung dann auch prompt, dass sie Bier gekauft hatten und tatsächlich in den Park losgezogen waren. Allerdings wurde ihnen dann doch direkt bei ihrer Suche nach Gesprächspartner*innen für ihre Fokusgruppe deutlich, dass es den Personen im Park nicht unmittelbar anzusehen war, ob sie Bezieher*innen von Bürgergeld wären. Sie hatten es mit zwei verschiedenen Gruppen ausprobiert, aber gemerkt, dass sie sich mit ihrem Vorgehen und ihren Zuschreibungen sehr unwohl fühlten. Dieser missglückte Feldzugang hat letztlich einen wichtigen Reflexionsprozess bei den Studierenden angestoßen, den diese dann in ihrem Forschungsbericht reflektiert haben. Daher kann ich im Nachhinein bestätigen, dass dieser Erfahrungsraum ein wichtiger Lernimpuls für diese Studierenden war und vermutlich nicht zu Schaden bei den Beteiligten im Park geführt hat. Diese Wendung war jedoch nicht zwangsläufig und ich erzähle dieses Beispiel heute, da es vor Augen führen kann, mit welchen komplexen Anforderungen und Rollenaushandlungen Lehrende qualitativer Methoden konfrontiert sind: Welche Erfahrungsräume des Lernens ermöglichen oder schaffen wir für Studierende? Wie viel Rahmung und Begrenzung muss vorab durch Lehrende entwickelt werden oder eben auch nicht? Wie weit reicht die Verantwortung von Lehrenden im Kontext Forschenden Lernens und welches Maß an Selbstverantwortung kann vorausgesetzt werden?
Petra Panenka: Ich habe ein Lehrbeispiel gewählt, das bei mir Fragen in Bezug auf die Partizipation Studierender an Lehrveranstaltungen weckte und sowohl zu einer neuen Konzipierung der Lehrveranstaltung als auch damit einhergehend zur Auseinandersetzung mit meiner Lehrhaltung führte. Es stammt aus dem dritten Semester des interdisziplinären Masterstudiengangs »Interkulturelle Bildung, Migration und Mehrsprachigkeit« an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe, in welchem das Modul nach dem Forschenden Lernen (Huber und Reinmann 2019) konzipiert ist. Das Modul besteht aus einer Blockveranstaltung zu Beginn des Semesters und im Anschluss der Durchführung eines in der Regel qualitativen Forschungsprojekts. Die Blockveranstaltung sollte den Studierenden jeweils ermöglichen, ihr Forschungsprojekt durch die (Weiter-)Planung des Forschungsdesigns zu beginnen. Jedoch zeigte sich nach kurzer Zeit in der Lehrveranstaltung, dass für die wenigsten die Konzipierung eines Forschungsdesigns zu diesem Zeitpunkt sinnvoll war. Manche hatten bereits ein Forschungsdesign geplant, andere dagegen wollten ihre Fragestellung bewusst erst später entwickeln. Letzteres traf insbesondere zu, wenn sie ihre Fragestellung in Kooperation mit Personen einer Organisation oder Einrichtung – wie beispielsweise NGOs oder Flüchtlingsunterkünften – konkretisieren wollten. In beiden Fällen hatten die Studierenden trotzdem recht konkrete Vorstellungen, mit welchen Lerninhalten sie sich eingehender auseinandersetzen wollten. Hierzu zählten insbesondere die Vertiefung von Expert*inneninterviews (Bogner, Littig und Menz 2022) und ein »Einüben« der Leitfadenerstellung mit der SPSS-Methode7 nach Cornelia Helfferich (2022).
Ich erkannte, dass das angestrebte Lernergebnis in Form einer konkreten Planung der einzelnen Forschungsdesigns zu eng gefasst war. Für viele Studierende war dieses Lehrziel zu dem Zeitpunkt nicht sinnvoll. Meine Ad-hoc-Lösung war eine dialogische Aushandlung der Lernziele und -formen mit den Studierenden, das heißt, eine gemeinsame Re-Konzipierung der Lehr-Lern-Arrangements für das verbleibende Blockseminar. Damit ging die Veränderung zu einer partizipativen Lehrhaltung einher, mit der ich das Seminar im nächsten Jahr von Beginn an durchführte. Zwar bewährte sich diese Herangehensweise, jedoch würde ich nicht von Best Practice sprechen, da der Erfolg gerade stark von den Vorerfahrungen und der Fähigkeit zur Mitbestimmung vonseiten der Studierenden abhängig ist. Ebenso stellt sich die Frage, wie bei einer solchen Mitbestimmung geprüft werden kann. In meinem Fall hatte ich das Glück, dass nur eine Studienleistung ohne Note in dieser Lehrveranstaltung vergeben wird.
Debora Niermann: Ich hatte auch überlegt von einem Studienforschungsprojekt zu berichten, und es ist sicher kein Zufall, dass es das ist, was uns einfällt, wenn wir nach einprägsamen Lehr-Lern-Erfahrungen gefragt werden. Dann habe ich mich aber entschieden, über das andere zu sprechen, nämlich wie ich selbst qualitative Forschung gelernt habe. Nicht, weil das ein ausnahmsloses Best-Practice-Beispiel ist, sondern weil Cornelia Helfferich, von der ich an der Evangelischen Hochschule Freiburg Anfang der 2000er Jahre grundständig qualitative Sozialforschung lernen durfte, den laufenden Lehrbetrieb, den sie als Fachhochschulprofessorin zu stemmen hatte, enorm klug mit ihren unzähligen groß angelegten interpretativen Studien verbunden hat. Von dieser Verwobenheit haben insbesondere wir Studierende enorm profitiert. Für mich hieß das, dass ich vier Wochen nach meiner ersten Einführung in die qualitative Sozialforschung in einen real laufenden Forschungsprozess involviert sein konnte. Für die Familienplanungsstudie »Frauen Leben II« (Helfferich, Klindworth und Kruse 2011) konnte ich als Interviewerin tätig sein und später als Hilfskraft regelmäßig an Analysegruppensitzungen teilnehmen. Bis heute ist mir sehr präsent, mit welcher Selbstverständlichkeit Cornelia Helfferich uns bei Besprechungen mit den Auftraggebenden, wie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, mit am Tisch sitzen hat lassen. Das hat bei mir die Vorstellung, wie reflexive Wissenstransfers aussehen können und wie es gelingen kann, qualitativ-interpretative Logiken in solchen Kontexten überzeugend zu kommunizieren, nachhaltig geprägt. Diese Durchlässigkeit von Forschung und Lehre war und ist ein enormes Qualitätsmerkmal herausragender Methodenlehre. Das andere, wofür ich Cornelia Helfferich bis heute dankbar bin, ist, dass sie einen sehr realistischen Blick in die Bandbreite an Emotionen gegeben hat, die mit qualitativen Forschungsprozessen verbunden sind. Da ist erstmal das Phänomen der Begeisterung, in der Entwicklung neuer Ideen, von Forschungsdesigns oder auch bei Aha-Momenten in der gemeinsamen Datenanalyse. Ich bin aber auch sehr froh, dass sie gleichzeitig viel über die Schwierigkeiten gesprochen hat, die sie in Projekten erlebte, teils hat sie auch ungeknackte Nüsse mit ins Masterseminar gebracht, mit der ehrlichen Anfrage, ob wir vielleicht noch einen anderen Blick darauf hätten. Diese Palette als eine Normalität zu erzählen, finde ich einen zentralen Aspekt, der mir auch in der Kommunikation an Studierende, die ihre Qualifizierungsarbeiten schreiben, wichtig ist.
Ich möchte aber noch zwei Dinge zu den Schattenseiten dieser ansonsten sehr überzeugenden Lehrpraxis sagen. Die erste Schattenseite ist die, die oft in intellektuellen Erzählungen romantisiert wird. Das sind die Abende am Küchentisch, bei der Professorin zu Hause oder wenn am Sonntagmorgen gemeinsam der Herausgeber*innenband diskutiert wird. Das lebt von einer Entgrenzung, in der zentrale Vermittlungsprozesse qualitativer Sozialforschung in großer Selbstverständlichkeit extracurricular stattfinden. Das andere ist, dass wir in der Lehre qualitativer Sozialforschung oft von Partizipation und Interpretationsgruppen auf Augenhöhe, jenseits von Statusgruppenzugehörigkeiten, sprechen. Je ausgeprägter dieses Narrativ ist, umso mehr müssen wir hinschauen. Das gilt gerade auch für die Auswahlprozesse beim Lernen-Dürfen von großen Figuren der qualitativen Sozialforschung. Dabei müssten wir uns selbstkritisch auch fragen, wer welche Ausbildungswege als qualitativ Forschender warum gehen kann und was das mit Ungleichheitsdynamiken zu tun hat, die in unseren Lehr-Lern-Arrangements eingeschrieben sind. Wen fördern sie, wen schließen sie aus?
Günter Mey: Ich würde auch gerne ein aktuelles Beispiel anführen und dabei gar nicht die Ebene von Best oder Worst Case berühren, sondern einfach einen Aspekt herausstellen, der mich begeistert hat. An der Hochschule Magdeburg-Stendal biete ich die »Projektwerkstatt Qualitatives Arbeiten« (PW, Mey 2021; Mruck und Mey 1998) an, bei der ich jede Woche für vier Stunden mit denen zusammenkomme, deren Bachelor- und Masterarbeiten ich betreue, und im Sinne werkstattförmigen Arbeitens im gemeinsam Peer-to-Peer-Austausch sich die Teilnehmenden wechselseitig ergänzen und unterstützen. Dazu eine erste Beobachtung: In der Regel ist es so, dass die Masterstudierenden zwar einen etwas größeren Vorsprung aufweisen und die Bachelorstudierenden eher das Gefühl haben, sie wüssten noch nicht so viel, sich dies aber nivelliert, wenn auch die Masterstudierenden erstmals eine qualitative Qualifikationsarbeit schreiben. Eine zweite Beobachtung ist, dass die Studierenden, wenn sie neu in die PW kommen, fast allesamt markieren, dass sie gerne Interviews führen möchten – scheinbar verbinden sie (nicht ganz zu Unrecht und wohl auch aufgrund der Inhalte meiner Einführungsvorlesung) mit qualitativer Forschung vor allem Interviewstudien. Im letzten Jahr kamen dann drei Studierende in die PW, bei denen dies anders gelagert war. Nach den Diskussionen in der Gruppe entschied sich eine der Studierenden mit ihrem Interesse an pferdegestützter Supervision dann für eine Videografie und hat die aufbereiteten Aufnahmen – im Sinne eines Selbst-Konfrontationsinterviews (Breuer 1995) – mit der Supervisorin hinsichtlich der Abläufe und Interventionen kontrastiert (Köhler 2023). Eine andere Studentin wollte Interviews zum Thema Ruhestand führen. Da ich um ihre Leidenschaft für die Fotografie wusste, schlug ich ihr vor, dies als methodischen Zugang zu wählen. Sie hat ihre Arbeit dann in Anlehnung an den Photovoice-Ansatz konzipiert (Mai 2023). Die dritte Studentin interessierte sich dafür, wie in Altenheimen miteinander kommuniziert wird, und wollte dazu Interviews mit den dort Wohnenden führen. Da sie aber noch ein Praktikum zu absolvieren hatte, schlug ich vor, dieses zu nutzen. Sie machte eine vierwöchige Ethnografie, sehr aufwendig mit vielen ausführlichen Protokollen (Wieck 2023). Damit bin ich beim Punkt. Mich hat es total begeistert, dass die drei als Bachelorstudierende sich auf ein richtiges Abenteuer eingelassen haben, also nicht nur ein Interesse verfolgten, sondern dieses dann auch gegenstandsangemessen methodisch gelungen formierten. Alles mit großer Begeisterung und einem immensen Workload. Damit sind wir bei den Schattenseiten. Qualitative Forschung, ernst genommen, ist ungeheuer aufwendig, wirklich harte Arbeit und verlangt Durchhaltevermögen und Frustrationstoleranz. Am Ende gibt es dafür zwölf Credits im Bachelor plus vier Credits für die Teilnahme an der PW. Das steht in keinem Verhältnis. Das zweite aus meiner Sicht Problematische ist: Wenn ich diesen Raum so öffne und Studierende wirklich den Vorschlägen nachgehen, wurden sie nicht mal von mir in den vorangegangenen Semestern an der Hochschule darauf vorbereitet, weil es in der Standardlehre gar nicht möglich ist, die ganze Vielfalt an Verfahren vorzustellen. Insofern ist es auch kein Wunder, dass sie Interviews einsetzen wollen, weil ich in der Vorlesung und in zugehörigen Übungen das anbiete, aber nicht in die Breite gehen und Gegenstandsangemessenheit für alle Methoden durchspielen kann. Darüber wäre zu diskutieren, wie angesichts der Pluralität von Methoden und Ansätzen die Lehre auszurichten ist, um sich auf Gegenstände einzulassen, sie zu erkunden, offen zu sein für Fragestellungen. Gleichzeitig gilt es, nicht die Constraints zu übersehen. Das ist ein Spannungsfeld, das nicht allein von der Begeisterung der Studierenden und Lehrenden ausgeglichen werden kann. Denn trotz der Magic Moments braucht es ungeheuer viel Energie und wir kommen sehr schnell an den Punkt der Entgrenzung, sowohl bei denjenigen, die die Arbeiten betreuen, und noch mehr bei denen, die diese Qualifikationsarbeiten schreiben.
Günter Mey: Die Bandbreite an Möglichkeiten, aber auch die damit einhergehenden Herausforderungen und Begrenzungen der Lehr-Lern-Arrangements in der durch die Bologna-Reform entstandenen Modulstruktur in Studienplänen verweisen auf ein Spannungsfeld (Kanter, Jürisch und Mey 2019). Inwieweit bestehen hier Vorgaben, die sich mit den Ansprüchen und Prinzipien qualitativer Forschung – insbesondere Offenheit – reiben?
Nicole Weydmann: Um diese Frage zu beantworten, ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass die Lehre qualitativer Forschung an unterschiedlichsten Orten und in unterschiedlichsten Kontexten stattfindet. Das bedeutet auch, entweder in eher qualitativen Methoden freundlich oder unfreundlich gesinnten Umgebungen eingebunden zu sein. Ebenso gilt zu differenzieren, ob Lehrende auf einer unbefristeten Professur oder in prekären, befristeten Anstellungen lehren, ob Lehrangebote curricular verankert sind oder nicht. Im Kontext der Lehrwerkstätten wird jedoch auch deutlich, dass Lehrende über diese Spannungsfelder hinweg mit ähnlichen didaktischen und strukturellen Herausforderungen ringen. Ein zentraler Aspekt dabei ist die Umsetzung der paradigmatischen Fundamente qualitativer Forschung in der Lehre, im Sinne eines Anspruchs an Offenheit, an wechselseitige Kommunikation und der Bestandsaufnahme, dass dieser Anspruch den hochschulischen modularen Strukturen widerspricht. Daher stellt sich die Frage: Für wen oder was lehren wir? Diese Frage wird im Kontext von Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAW) besonders zugespitzt diskutiert, da hier die Orientierung auf eine effiziente marktförmige Produktion zur Entwicklung von notwendigen Fachkräften noch stärker empfunden wird. Wie lassen sich diese Logiken mit der Enkulturation in eine offene, explorative Forschungshaltung der qualitativen Forschung verknüpfen? Lehrende sind entsprechend aufgefordert, sich zu positionieren und zu klären, welche Ziele sie mit ihrer Methodenlehre verfolgen, ob hierbei vielmehr ein eher pragmatischer Werkzeugkasten zur fachlichen Anwendung oder auch erkenntnistheoretische Einbettungen gelehrt werden. In den Lehrwerkstätten ist diese Aushandlung ein regelmäßiger Diskussionspunkt, insbesondere, da die Lehre qualitativer Forschung zumeist zeitlich und personell sehr eng aufgestellt ist. Daher behaupte ich, dass die Lehre qualitativer Forschungsmethoden eine politische Dimension hat, weil Lehrende sich in diesem Spannungsfeld positionieren müssen. Aktuell zeigt sich diese Dimension auch in den Diskussionen um gesellschaftliche Transformationen und in der Nachhaltigkeitsdebatte, sodass sich daraus die Frage ergibt: Wie politisch ist qualitative Sozialforschung und welche Perspektiven eröffnen wir darin unseren Studierenden? Also, wie sehr lasse ich mich auf marginalisierte Gruppen ein und trage dazu bei, Vielstimmigkeit hörbar zu machen? Oder wie sehr reproduziere ich professionskonforme und marktgängige Logiken, die vielleicht von meinem Dekanat oder meiner Hochschulleitung gewünscht werden?
Petra Panenka: Die Frage betrifft aus meiner Sicht nicht nur die Herausforderungen und Begrenzungen von Lehr-Lern-Arrangements, sondern auch der Strukturierung durch das Curriculum. So gibt ein Curriculum stets schon Rahmenbedingungen für das Konzipieren von Lehr-Lern-Arrangements vor. Bereits 2003 wurden im Berlin Communiqué8 der Konferenz der europäischen Hochschulminister*innen die Learning Outcomes als stärkendes Element des Bologna-Prozesses genannt, weil sie unter anderem eine kriterienbasierte Vergleichbarkeit ermöglichen. Damit ging die zunehmende Implementierung des didaktischen Modells Constructive Alignment (Biggs, Tang und Kennedy 2022) an Hochschulen einher, um Learning Outcomes, Lehr-Lern-Aktivitäten und Prüfungsformen aufeinander abzustimmen. Im Hinblick auf die Prinzipien qualitativer Forschung bringt das die Herausforderung mit sich, dass aufgrund der Bestimmung der Learning Outcomes die beiden anderen Elemente für die Gestaltung einer Lehrveranstaltung stärker festgelegt werden. Das bedeutet, es erfolgt zugunsten der Vergleichbarkeit eine Vorstrukturierung, die während der Durchführung der Lehrveranstaltung kaum noch verändert werden kann. Gerade um das Erproben von qualitativen Methoden und damit einhergehend das Auseinandersetzen mit Prinzipien wie Offenheit oder (Selbst-)Reflexivität zu ermöglichen, erscheint mir zum einen auf der Ebene der Curricula eine höhere Flexibilisierung sinnvoll. Zum anderen kann auf der Lehrveranstaltungsebene ein partizipatives (Er-)Lernen (Bading und Panenka 2024) von Methoden das Lehren von Prinzipien qualitativer Sozialforschung fördern, indem Lerninhalte nach den konkreten Bedarfen der Studierenden situativ mit ihnen gemeinsam ausgehandelt und Lehr-Lern-Arrangements gestaltet werden.
Wenngleich die konkrete Durchführung einer Lehrveranstaltung von der einzelnen Lehrperson abhängig ist, denke ich, dass darüber hinaus auch Unterschiede zwischen den Hochschultypen bestehen. Ich habe in verschiedenen Studiengängen gelehrt: an der Universität, der Pädagogischen Hochschule und derzeit arbeite ich an der Hochschule Fulda in der Qualitätsentwicklung in der Lehre. Dabei nehme ich wahr, dass an der Universität in der Lehre theoretische Grundlagen und Methodologien im Vordergrund stehen, während an der HAW durchaus die Tendenz zu einem, wie Nicole Weydmann es nannte, pragmatischen Werkzeugkasten besteht. Das liegt aus meiner Sicht an der stärkeren Orientierung an den jeweiligen späteren Berufen, wie beispielsweise bei der Qualifizierung von Fachkräften in den Ingenieurwissenschaften oder den Gesundheitswissenschaften. In meiner eigenen Lehre erachte ich zwar das Erlernen von methodologischen Hintergründen für sehr wichtig, kann jedoch sehr gut verstehen, dass Lehrende aus einer anderen Fachkultur in bestimmten Studiengängen darauf weitestgehend verzichten.
Debora Niermann: Ich lehre in beiden Kontexten – an Universitäten wie HAW – und erlebe dieses Spannungsfeld natürlich auch. Gleichzeitig sollten wir aufpassen, dass es nicht zu einer Überspitzung der Dichotomie von anwendungsbezogenem Methodenkoffer an den HAW versus methodologiefokussierter universitärer Lehre kommt. Selbstverständlich gibt es berechtigte Tendenzen, aber das Ziel ist letztendlich das gleiche: eine Balance zu schaffen, in der es uns gelingt, dass Studierende in der Lage sind, methodologisch informierte Begründungen für Forschungsentscheidungen zu treffen. Ich denke aber auch, dass es eine positive Herausforderung für uns sein kann, genauer hinzuschauen, wo wir zur Entwicklung von Schlüsselkompetenzen (Kunz et al. 2021) beitragen. Was vermitteln wir in der qualitativen Methodenlehre, das auch jenseits des klassischen wissenschaftlich-akademischen Berufsfeldes einsetzbar ist? Gerade wurden schon die Ingenieurwissenschaften erwähnt. Da gibt es Überraschungen, auch wenn wir an Methoden mit gewissem Sonderstatus wie die Ethnomethodologie denken. Dabei kann in Sachen Usability beispielsweise gerade die Ethnomethodologie zeigen, dass der grüne Button auf dem Kopierer die Bedienung des Geräts nur vermeintlich anleitet und die menschlichen Sinnzuschreibungen zum Bedienvorgang kaum ersetzt (Suchman 1987). Um ein weiteres Beispiel zu nennen: Die Konversationsanalyse hat in den Auswertungen von Suicide Hotlines gezeigt, wie die Gesprächsführung in den ersten zwei Minuten gestaltet sein muss, damit die Gespräche nicht abgebrochen werden und stattdessen weitere Stabilisierung geschaffen werden kann (Bloch und Leydon 2019). Ich sehe an der Stelle noch viel Potenzial, gemeinsam zu diskutieren und zu benennen, wo die mehrfachen Kompetenzgewinne und Anschlüsse für die jeweiligen Professionen liegen. Da ich ursprünglich aus der Sozialen Arbeit komme, fällt mir dazu ein Text von Cornelia Helfferich und Jan Kruse ein mit dem Titel: »Vom professionellen Blick zum hermeneutischen Ohr« (Helfferich und Kruse 2007). Darin veranschaulichen sie sehr eingängig die Bedeutung des Einübens der Prinzipien von Offenheit, Kommunikativität und Reflexivität für die spätere berufliche Praxis.
Günter Mey: Ich frage mich, wenn ich diese Ausführungen höre, ob innerhalb der quantitativen Forschung in der gleichen Weise wie in der qualitativen Forschung über die Frage von Lehre, die Notwendigkeit der Lehre – gerade mit Blick auf die Professionalisierung und zukünftige Berufspraxis – und in einem ähnlich klingenden Legitimationsdiskurs debattiert würde. Denn bei der Diskussion um die Schlüsselqualifikationen (Kunz et al. 2021), so richtig diese auch ist, schwingt immer auch mit, es könnte für qualitative Forschung nicht ausreichend sein, dass es sie gibt und sie gute Resultate erzielt. Wir haben scheinbar immer noch einen Legitimationsdruck, obschon nach über 50 Jahren Debatte zwischen quantitativer und qualitativer Forschung unsere Position stärker sein könnte und sich nicht in dieser Rechtfertigungslogik zu bewegen bräuchte.
Debora Niermann: Ich denke, das ist eine eigentlich schlüssige formation professionnelle unsererseits: Wir beschäftigen uns die ganze Zeit mit der Analyse von Interaktionen, den gemeinsamen Bedeutungsherstellungen, und das heißt, wir verdoppeln das auf dieser Ebene des Lehrdiskurses. Das ist einerseits stimmig und führt andererseits sicherlich auch zu überzogenen Ansprüchen, die wir an die Qualität unserer Veranstaltungen haben.
Nicole Weydmann: Als qualitativ Forschende ist die Gegenstandsbezogenheit eine unserer zentralen Prämissen, daher verwundert es mich nicht, wenn wir diese auch konsequent für unsere Lehre reflektieren. Vielmehr erscheint es mir als eine logische Folge, dass wir unsere Lehre, unser Lehrhandeln und auch die damit verbundenen Kommunikationsräume auf Gegenstandsangemessenheit reflektieren. Und dies umso mehr, wenn wir dabei zu dem Schluss kommen, dass die strukturellen Bedingungen der Vermittlung qualitativer Denkweise und Haltung und dem damit verbundenen Offenheits- und Flexibilitätspostulat entgegenstehen (Schreier und Breuer 2020). Die Bedingungen von hochschulischer Lehre sind häufig nicht gegenstandsangemessen: weder für den Gegenstand der qualitativen Methodenlehre, noch für die Lernprozesse unserer Studierenden und auch nicht mit Blick auf die Bedingungen für Lehrende qualitativer Methoden. Aus diesem Grund erscheint mir das starke Reflexionsinteresse von Lehrenden qualitativer Methoden als erkenntnistheoretisch in unserem Kompetenzbereich begründet. Als eigenes didaktisches Format nutzen wir in der qualitativen Forschung die Forschungswerkstätten (Dausien 2007; Fuhrmann et al. 2021; Stamann und Janssen 2019) und mit unserer Reflexionsleistung glaube ich auch, dass wir gute und wichtige Impulse in die hochschulweite Didaktik hineintragen können und sollten – die auch über den Horizont des Forschenden Lernens hinausgehen. Ich sehe es als Teil unserer Verantwortung, Reflexionsräume zu öffnen und hochschulische Strukturen explizit zu spiegeln. Unsere qualitativen Perspektiven auf Lehren und Lernen scheinen mir essenziell für die Weiterentwicklung hochschulischer Strukturen. Als qualitativ Sozialforschende haben wir eine starke Expertise in Verstehensprozessen (Kruse 2009) und sollten uns mit dieser auch entsprechend einbringen.
Petra Panenka: Als sozialisierte Ethnologin bestand für mich weder in der Forschung noch in der Lehre eine Dichotomie zwischen qualitativen und quantitativen Methoden. Der Fokus lag immer auf der Gegenstandsangemessenheit, der (Selbst-)Reflexivität und der Offenheit in der Forschung. Die für ein solches Forschen notwendigen Fähigkeiten versuche ich den Studierenden stets mitzugeben, unabhängig davon, ob sie in Forschungsprojekten qualitativ oder quantitativ forschen. Die Unterscheidung und die historisch begründete Notwendigkeit der Rechtfertigung der qualitativen Sozialforschung lernte ich erst in anderen Disziplinen, insbesondere in der Psychologie (Mey und Mruck 2020) kennen. Und doch kennen wir beispielsweise aus der Marienthal-Studie (Jahoda, Larzarsfeld und Zeisel 1975 [1933]) ein Verbinden beider Denktraditionen, das im Fall von Mixed-Methods-Forschungen gerade in den letzten 15 Jahren stark zugenommen hat (Schreier 2017). Parallel differenzieren sich die Methoden der qualitativen Forschung zunehmend weiter aus. Vor diesem Hintergrund stelle ich mir die Frage: Wie viel Raum braucht die Lehre qualitativer Methoden, gerade wenn sie Entwicklungen wie Mixed Methods mitdiskutieren will und dadurch die Verknüpfung mit quantitativen Methoden ebenfalls zum Lerninhalt macht?
Günter Mey: Bei der Vermittlung spielt Digitalisierung eine zunehmende Rolle, seien es Erklärvideos, Lehrvideos und anderes, das an vielen Hochschulen und Universitäten entwickelt wurde und in Kursangebote eingebunden wird und sich auf Lernplattformen findet. Spätestens im Nachgang von Corona liegen sehr viele besprochene PowerPoint-Präsentationen vor oder andere Digitalisate, in denen in kleinen Häppchen qualitative Forschung vermittelt wird. Hier stellt sich die Frage, wie »gutes« Lehrmaterial auszusehen hat, und damit verbunden die Frage nach Didaktisierung und möglicher Überdidaktisierung. Es gibt nicht wenige, die – immer noch oder wieder – vorschlagen, dass Studierende einfach in das kalte Wasser springen sollen und so überrascht werden und genau dabei etwas Produktives entstehen kann. Eine solche Haltung lässt sich als Gegenpol zur geplanten Didaktik verstehen.
Debora Niermann: Das mit dem kalten Wasser ist uns anekdotisch als ein nahezu klassischer Ansatz in der Ausbildung der Chicago-School-Ethnograf*innen bekannt. Howard S. Becker (Becker und Keller 2016) zwang seine Studierenden in der ersten Sitzung, sich ohne präventiv vermitteltes Methodologie- oder Methodenwissen auf eine Fieldsite festzulegen und dort die nächsten zehn Wochen zu verbringen. Erst danach wurden die gemachten Beobachtungen entlang von Notizen diskutiert. Dieser Sprung ins kalte Wasser hat auf den ersten Blick einige Vorteile: Zum einen können Feldzugangsängste gar nicht erst aufgebaut werden, zum anderen werden die biografischen Lebenswelten der Studierenden als Forschungsbezüge ernst genommen – eine Verbindung, vor der wir uns im deutschsprachigen Raum oftmals scheuen (Bethmann und Niermann 2015). Aber seine Schattenseiten hat dieses erst einmal einfach Machenlassen natürlich auch. Formate, wie das von Becker, lebten didaktisch vom großen Zauber, in dem der Meister das von den Studierenden mitgebrachte Material erkenntnis- und überraschungsreich entschlüsselt. Diese Interpretationskunst des Meisters galt es für die Schüler*innen zu dekodieren und sich im gemeinsamen Arbeiten an unterschiedlichsten Beispielen im Seminarkontext anzueignen. Für die Gegenwart würde ich, im Gegensatz dazu, eine regelrecht öffentliche Wissenskultur im Feld qualitativer Methoden konstatieren, die andere Lehr-Lern-Formate ermöglicht und einfordert. In den Zeiten, als der Magdeburger Methodenworkshop vor 25 Jahren und das BMT vor 18 Jahren gegründet wurden, war der Zugang zu Ressourcen zur Aneignung von qualitativem Methodenwissen, abgesehen von den ersten einzelnen Lehrbüchern, recht mau. Vor diesem Hintergrund hatte der Besuch der Methodenevents einen bedeutsamen Stellenwert. Da ging es aber nicht nur darum, die Autor*innen der Lehrbücher einmal live zu erleben, eventuell selbst aktiv Material einbringen zu können, sondern vor allem darum, erfahrungsgebundene Wissenserzählungen austauschen zu können, die nicht Teil der Lehrbücher waren. Das war lange ein fruchtbares Format. Inzwischen haben wir es mit einer Bandbreite digitaler Formate zu tun, die bereits vor Corona zu beobachten war, aber nun auch im Bereich der Podcasts einen enormen Schub erhalten hat. Diese Ressourcen binden Lehrende oftmals konstruktiv in ihre Veranstaltungen ein.
Nicole Weydmann: Die derzeitige Unübersichtlichkeit der qualitativen Methoden umfasst einerseits einen weitgehend kanonisierten Kernbereich und andererseits eine unüberschaubare Methodenvielfalt (Knoblauch 2007; Mey 2018). Eine unserer großen Lehraufgaben ist es, hierfür Koordinatensysteme zu entwickeln. Das wirft die Frage auf, wie wir uns in dieser Materialvielfalt bewegen können und welche Handreichungen Lehrende hierfür entwickeln sollten. Viele Lehrende investieren unglaublich viel Arbeit in ihre E-Learning-Plattformen, um dann frustriert festzustellen, dass nur wenige Studierende dieses Angebot wirklich nutzen. Auf diesen Plattformen finden sich dann häufig auch die Studierenden, die ohnehin bildungsnah sind und leichten Zugang zu Lektüre finden. Daher frage ich mich, ob wir mit der Diversifizierung von Zugängen auch mehr Studierende erreichen können oder darin nicht vielmehr die alten Strukturen reproduzieren und die engagierten Studierenden mit der großen Materialvielfalt erreichen und andere Studierende unerreichbar bleiben. Gleichzeitig höre ich mit Freude, wenn mir Studierende beispielsweise berichten, dass sie beim Joggen den Podcast vom Methodenkoffer9 gehört haben. Solche Formate schaffen alternative Zugänge, was aber für uns als Lehrende bedeutet, Zugänge zu zeigen, die in dieser Materialvielfalt Orientierung geben können.
Petra Panenka: Bei der Diskussion zum Lehrmaterial erscheint es mir wichtig, auch disziplinäres Wissen und professionsspezifische Kompetenzen mitzudenken. Die bestehende Methodenpluralität bringt die Frage mit sich, welche Methoden und durch die qualitative Forschung erworbenen Kompetenzen in einer bestimmten Disziplin oder im späteren Beruf besonders relevant sind. Denn gerade fachliche Lerninhalte unterliegen beständiger Transformation und mit diesen auch die Auswahl der sich weiter ausdifferenzierenden Methoden. In diesem Kontext können Lehrende nur eine Auswahl an Methoden lehren. Trotz dieser Einschränkung ist es jedoch unabdingbar, dass sie die bestehende Methodenvielfalt und auch die eigene method(olog)ische Positionierung transparent machen. Gerade für eine solche Verortung wäre ein Koordinatensystem sehr hilfreich.
Hinsichtlich der Frage nach der (Über-)Didaktisierung kann aus meiner Sicht eine höhere Partizipation der Studierenden eine Möglichkeit des Entgegenwirkens darstellen. Damit meine ich insbesondere, dass eine Lehrperson beim Lehren an den Lebenswelten der Studierenden anknüpft und ihre Rolle die einer Lernbegleitung wird. Als solche kann sie die – sehr oft diversen – Kenntnisse, Bedarfe und Wünsche der Studierenden aufgreifen. Gerade im Hinblick auf eine sinnvolle Nutzung neuer und auch digitaler Wissensbestände sowie Lehr-Lern-Tools besteht in einer partizipativen Kooperation zwischen Studierenden und Lehrenden eine große Chance. So können Studierende auch digitale Tools und Kompetenzen in die Lehrveranstaltung mit einbringen, welche aus ihrer Erfahrung im Beruf eingesetzt werden.
Debora Niermann: Das halte ich für einen wichtigen Punkt und würde gerne in diesem Zusammenhang auf QUASUS10 eingehen. QUASUS ist eine Onlineplattform zur Vermittlung qualitativer Methodenkompetenzen, zu der wir im deutschsprachigen Raum viel positive Resonanz von Lehrenden und Studierenden erhalten. Auf QUASUS stellen wir neben niedrigschwelligen Einstiegstexten zu Methoden und Praktiken qualitativer Forschung eine weitere, zentrale Wissensressource zur Verfügung und das ist das konkrete Erfahrungswissen qualitativ Forschender.11 In kurzen Clips erzählen Forscher*innen aus dem Mittelbau der Pädagogischen Hochschule Freiburg von positiven, unspektakulären, aber eben auch schwierigen Erfahrungen, zum Beispiel während des Interviewens, Ethnografierens oder dem Durchführen von Gruppendiskussionen. Auch über die Herausforderungen der Datenauswertung wird gesprochen und über Arten der Formulierung der eigenen Forschungsergebnisse. Ein relevanter Transfer ist das aus meiner Sicht deshalb, weil darüber ein bislang oftmals exklusiver Kommunikationsraum einer größeren Öffentlichkeit zugänglich wird, der ansonsten fast nur im informellen Austausch in Seminargruppen Platz hat und dann – wenn es ihn überhaupt gibt – jeweils sehr gebunden ist an die Erfahrungshintergründe der einen lehrenden Person. Dazu kommt, dass gerade im deutschsprachigen Raum Lehrbücher zwar betonen, wie unvorhersehbar qualitative Forschungsprozesse verlaufen, sie dann aber doch sehr idealisierte Forschungsprozesse abbilden. Da bleibt in der Regel rätselhaft, wie es gelingen kann, zum Beispiel in laufenden (Abschluss-)Arbeiten bei einem unerwartet nicht funktionierenden Feldzugang oder bei vermeintlich scheiternden Interviewinteraktionen konstruktiv zu reflektieren, gegenstandsangemessen zu entscheiden und handlungsfähig zu bleiben. Ich bin froh, dass es inzwischen zumindest einzelne Methodenbücher gibt, die sich stärker den Einblicken in erlebte Forschungspraxis widmen. Es gibt von Jeannine Wintzer (2016) zum Beispiel einen wunderbaren Band von Studierenden für Studierende über das Durchführen qualitativer Qualifikationsarbeiten.
Ich möchte aber, wenn es um digitale Formate geht, dafür plädieren, dass wir nicht nur die Medien vervielfältigen, also Podcasts oder Videos produzieren, sondern dabei auch die Wissensformen, die wir vermitteln wollen. Erfahrungswissen ist dabei ein zentraler Pfeiler mit viel Anschlussfähigkeit an verschiedene digitale Formate. Ein anderer im deutschsprachigen Raum sträflich vernachlässigter Zugang ist die Beschäftigung mit einschlägigen aktuellen qualitativen Studien. Wir haben insbesondere in der Lehre eine erstaunliche Ignoranz gegenüber dem, was wir selbst produzieren. An diesem Punkt bin ich aus meinen US-amerikanischen Forschungszusammenhängen anders geprägt. In der Lehre, etwa einem Einführungskurs in die Ethnografie, wird dort in jeder Sitzung eine Ethnografie gelesen. Das beginnt mit Klassikern, wie dem sehr empfehlenswerten Appendix in Street Corner Society von William Foot Whyte (1943), und geht dann über zu viel diskutierten ethnografischen Gegenwartsbestsellern wie On the Run von Alice Goffman (2014; vgl. Niermann 2021). Ich freue mich sehr, dass mit Podcastformaten wie dem Methodenkoffer sowohl Erfahrungswissen als auch jüngere qualitative Studien stärker im Gespräch sind.
Nicole Weydmann: Ich nutze die Erfahrungsberichte von QUASUS ebenfalls regelmäßig in der Lehre, auch um die vielfältigen Erfahrungen von Forschenden in der Praxis aufzuzeigen und darin auch meine eigene Lehre vielstimmiger zu machen und methodische Zugänge in ihrer Vielfältigkeit aufzuzeigen. Dennoch möchte ich in diesem Zusammenhang auch betonen, dass wir mit digital angereicherten Formaten wie dem Flipped Classroom – also nach selbstständiger Wissensaneignung seitens der Studierenden erfolgen Übungen sowie Wissensanwendungen im Austausch mit den Lehrenden – und Blended Learning – als Verschränkung von Präsenzveranstaltungen und E-Learning-Angeboten – nicht davon ausgehen können, auch gleichzeitig unsere Lehre zugänglicher zu machen und klassische Bedingtheiten von Lehren und Lernen überwinden zu können (Wintzer 2023). Denn auch in diesen neuen Formaten reproduzieren sich die Interaktions- und Beziehungsstrukturen, die Machtverhältnisse und sozialen Determinanten.
Petra Panenka: Gerade im Kontext digitaler Lehrkonzepte, Lehr-Lern-Arrangements und Tools ist mir auch der bereits genannte Aspekt der Reproduktion von Machtstrukturen sehr wichtig. So gilt es, gerade in digitaler Lehre Wege zu finden, die für Studierende eine wirklichkeitsnahe Forschungspraxis aufzeigen. Dies kann beispielsweise durch die Schilderung eigener Forschungserfahrungen und der dabei erlebten Pitfalls sowie der situativen Entwicklung von Strategien während des Forschungsprozesses geschehen.
Günter Mey: Da vorhin die Idee der Meister*in-Schüler*in genannt wurde, nur der Hinweis: Als wir 2010 beim BMT über die Lehre debattierten und Christoph Maeder immer wieder vom »Meister-Schüler-Verhältnis« sprach, blieb dies nicht unwidersprochen. Denn im Grunde ist es die Frage nach der Beziehung, die egalitärer gedacht werden kann als in der Zuordnung Meister*in versus Schüler*in. Diese Idee hat auch mit der Historie qualitativer Forschung zu tun, die sich in der Struktur solcher Veranstaltungen wie dem BMT ebenfalls ausdrückt. Am Anfang waren es vor allem jene sehr prominenten Personen, die einen Ansatz entwickelt und dazu Lehrtexte geschrieben hatten, die die Forschungswerkstätten anboten. In den letzten Jahren sind viele andere Akteur*innen hinzugekommen, nicht wenige aus dem »Nachwuchs«-Bereich, auch weil sich die qualitative Forschungslandschaft ändert und mit ihr die qualitative Forschung. Hierzu gehört weiterhin, dass sich die Erzählungen ändern müssen, hin zu solchen über die Grenzen und Begrenzungen, inklusive solchen über das Scheitern. Meine Erfahrung ist, dass sich die – in unseren Veranstaltungen, aber oft auch in unseren Texten – idealisiert inszenierten Forschungsprozesse in den studentischen Arbeiten wiederholen. So finden sich zum Beispiel im Rahmen meiner Vorlesung im dritten Semester Bachelor bei der Bearbeitung der Aufgabenstellung, ein Exposé zu einer fiktiven Studie zu verfassen, ganz oft Idealvorstellungen eines Forschungsprozesses und Imaginationen über die Lösbarkeit aller Herausforderungen. Vermutlich erzeugt dieses Idealbild zusätzlichen Stress. Insofern wäre es auch Aufgabe von uns, in der Lehre ein realistischeres Bild von Forschung zu vermitteln. Das meint keine Preisgabe von Idealen und Standards und auch keine Lightversion.
Debora Niermann: Bei der Frage, wie wir dieses realistischere Bild von Forschung vermitteln, ist zu bedenken, dass jedes Lernen Modelle braucht, und das heißt, wir benötigen auch modellhafte Erzählungen von Misslungenem. Es gibt diesen schönen Band Mit gescheiterten Interviews arbeiten von Judith Eckert und Diana Cichecki (2020). Darin zeigen sie entlang zahlreicher Studien, wie vermeintlich große, nahezu irreparabel anmutende Fehler im methodischen Vorgehen sich konstruktiv haben drehen lassen. Das sind jetzt nicht immer Beispiele, in denen das Krisenexperiment zum großen Erweckungserlebnis wird, aber das Scheitern eben doch noch zumindest bedingt erkenntnisproduktiv gewendet werden konnte. Inspirierend finde ich auch, wie Julia Boecker (2022) im Methodenkapitel in ihrer ausgezeichneten Studie zu Fehlgeburt und Stillgeburt über ihr Herumirren und schließliches Orientierungfinden im Datenkorpus schreibt. Das hat nichts mit dem zu tun, was wir in der Ethnografie schnell als narzisstische Nabelschau oder als Too Much Confessional Tale abtun, sondern mit empirischer Methodologie, die bislang im US-amerikanischen Raum viel präsenter ist. Die Normalität, mit der wir in der deutschsprachigen Methodenkultur Methodologie an den Ausgangspunkt setzen, um davon ausgehend in die Forschungspraxis und ins Handeln zu kommen, macht es uns da schwierig. Das schafft einen Kohärenzdruck, dem sich hoffentlich unsere Forschungsgegenstände mit ihrer je eigenen Beschaffenheit auch widersetzen. Daher kann es sinnvoll sein, noch einmal über den Tellerrand hinauszuschauen und teils stärker vom Phänomen als von der Methodologie aus zu denken. Noch immer ist es aber so, dass wir uns verteidigen müssen, wenn wir das konsequent tun, während die Glättungen in den Beschreibungen der Erfahrungen bei der Datenproduktion oder beim Sampling häufig belohnt werden. Ich denke da im Umkehrschluss an eine Kollegin von mir, die gewissenhaft Theoretical Sampling betrieben hatte, um im Nachgang unzählige Male die Zahl von 23 Fällen rechtfertigen zu müssen, weil sie zum Beispiel bei Peer-Reviewer*innen damit auf Irritation stieß. Ein einsichtsreicher Beitrag von Mark Mason (2010) beschäftigt sich ebenfalls systematisch mit dieser Spannung von erstaunlich glatten Fallzahlen bei gleichzeitig postuliertem Theoretical Sampling in Grounded-Theory-Studien.
Petra Panenka: Zu dieser gesamten Diskussion möchte ich noch einen anderen Aspekt hinzufügen, nämlich die (Weiter-)Entwicklung von Lehre auf der Grundlage von Erkenntnissen aus Evaluationsergebnissen. Häufig werden auf Lehrveranstaltungsebene hierzu Fragebögen herangezogen, jedoch hat diese Form der studentischen Rückmeldung nicht immer den gewünschten Effekt. Ich finde, dass das Scholarship of Teaching and Learning (SoTL), also die Beforschung der eigenen Lehrveranstaltung und das Publikmachen der gewonnenen Erkenntnisse (Vöing, Reisas und Arnold 2022), eine sehr gute Möglichkeit bietet, die eigenen Lehrkompetenzen zu reflektieren. Mit dem Fokus auf der eigenen Lehrpraxis können in SoTL-Projekten Studierende sehr eng einbezogen und dadurch Gelingensbedingungen einzelner Lehrveranstaltungen oder -einheiten en détail mit ihnen gemeinsam (Students as Partners) eingehend untersucht werden. So kann beispielsweise zum einen eruiert werden, in welchen Momenten, aus welchen Gründen und auf welche Weise die Herstellung des Zusammenhangs zwischen Methode, Methodologie und Theorie gelungen ist. Zum anderen wird aber eben auch entdeckt, wenn in einer Lehrveranstaltung das Lernen der Studierenden aus bestimmten Gründen nicht funktioniert hat. Neben dem Grundsatz des studentischen Informiertseins über die einzelnen Forschungsschritte gilt es dabei stets zu klären, inwieweit an der eigenen Hochschule und in einer Publikation eine Anonymisierung der involvierten Studierenden sowohl als Seminarteilnehmende als auch als Forschungspartner*innen gewährleistet werden kann.
Nicole Weydmann: In den Lehrwerkstätten treibt uns das Thema der Bewertungsstrukturen in allen Gruppen um, da Lehrende einerseits Erfahrungsräume für nicht standardisierte offene Forschung, kreative Prozesse und Reflexionsräume entwickeln und andererseits am Ende objektive und standardisierte Leistungsüberprüfungen stattfinden sollen. Darin sind Lehrende aufgefordert, Formen zu finden, wie sie Kreativität und Reflexionskompetenzen einerseits anstoßen können und andererseits Vulnerabilitäten und das gegebene strukturelle Machtgefüge von Hochschulen im Blick behalten. Leistungsbewertungen haben entsprechend auch eine ethische Dimension.
Mit dem Netzwerk der Lehrwerkstätten versuchen wir uns mit den verschiedenen Problemdimensionen des Lehrens qualitativer Methoden in einem Peer-to-Peer-Austausch auseinanderzusetzen. Entsprechend stehen dort die unterschiedlichen Zugangsweisen zu Bewertungen mit ihren jeweiligen Rastern immer wieder auf der Agenda, indem wir unsere Bewertungsbögen vorstellen und diskutieren. Elemente aus dem Forschenden Lernen können uns dabei helfen, Taxonomien zu finden, gleichzeitig bleibt es an uns, Reflexionstiefe zu bewerten und im Verhältnis zu fachwissenschaftlichen Reproduktionen zu gewichten. Gerade in der paradigmatischen Differenz mit den quantitativen Methoden befinden wir uns hier in einer kontinuierlichen Suchbewegung. Gleichzeitig sehe ich uns als Lehrende auch in der Verantwortung für unsere Studierenden, das gemeinsame Feld der Forschungsmethoden gleichberechtigt und konstruktiv gemeinsam zu gestalten. Ein wichtiger Aspekt mit Blick auf die Studierbarkeit ist hierbei die Frage nach dem Workload: Wie können wir im Kontext der zumeist zeitlich stark limitierten Räume für qualitative Methoden dennoch offene Verstehensprozesse ermöglichen, die unseren Studierenden grundlegende Zugangswege zu qualitativen Methoden eröffnen? Es scheint mir da keine einfachen Antworten zu geben, sondern vielmehr ein Ausloten zwischen einerseits geeigneten didaktischen Formaten und andererseits der Anpassung und Mitgestaltung hochschulischer Strukturen, sodass mehr offene Lernformate für qualitative Methoden zur Verfügung stehen. Ich hoffe, dass wir mit dem überarbeiteten und aktualisierten Konzept der FQS-Debatte »Lehren und Lernen qualitativer Methoden«12 zahlreiche neue Beiträge anregen können, die auch Fragen der Bewertbarkeit von qualitativen Arbeiten im Rahmen der qualitativen Methodenlehre aufgreifen.
Petra Panenka: Die gemeinsame Diskussion zeigt aus meiner Sicht viele Herausforderungen, aber auch Chancen in der Lehre qualitativer Methoden auf. Um Studierenden das Erlernen qualitativer Methoden im Studium zu ermöglichen, braucht es beides: die Auseinandersetzung mit dem Lernen in konkreten Lehrveranstaltungen sowie die Diskussion des gesamten Curriculums im Kollegium und mit der Hochschulleitung. Auf diese Weise können Studierende qualitative Methoden systematisch aufeinander aufbauend erlernen, unerwünschte Redundanzen in Lehrveranstaltungen vermieden und Raum zum Vertiefen bzw. Einüben von qualitativen Methoden geschaffen werden. Das ist unser Kerngeschäft, bei dem durch eine intensive Auseinandersetzung Transformationen herbeigeführt werden. Für mich ist es unabdingbar, dass im Sinne eines partizipativen (Er-)Lernens qualitativer Methoden Studierende sowohl an der Gestaltung einzelner Lehrveranstaltungen als auch an der Curriculumentwicklung beteiligt werden. In welchem Maße eine solche Partizipation stattfinden kann, ist immer eine Frage zeitlicher Kapazitäten, insbesondere auf der Seite der Studierenden, aber auch bestehender Hochschulstrukturen und sich darin manifestierter Machtstrukturen. SoTL kann eine Möglichkeit sein, etablierten Hierarchien entgegenzuwirken und innovative Lehrkonzepte unter Einbindung der Studierenden zu entwickeln. Im Rahmen von SoTL können Studierende nach dem Students-as-Partners-Ansatz an der Beforschung von Lehrveranstaltungen mitwirken. Durch die Veröffentlichung solcher SoTL-Ergebnisse lassen sich dann erprobte Wege aufzeigen, die andere Lehrende inspirieren und über den alltäglichen Austausch mit Kolleg*innen hinausgehen können und auch ermutigen, ebenfalls Veränderungen der Lehre mit Studierenden gemeinsam durch eine Beforschung der Lehrveranstaltung anzugehen.
Debora Niermann: Das ist doch ein gelungener Schlussakzent in unserem Austausch, gerade weil SoTL eindrücklich das Potenzial aufzeigt, was es bedeuten kann, wenn wir Lehren und Lernen qualitativer Forschung selbst zum Untersuchungs- und Entwicklungsgegenstand machen, um Hochschullehre zu transformieren. Damit kann auch die Performativität gemeinsam praktizierter Forschung in der Lehre ihre starke Kraft entwickeln.
Günter Mey: Dies weitergedacht und wie mehrfach in der Diskussion herausgestellt, nämlich die Prinzipien qualitativer Forschung auch in der Selbstanwendung viel strikter auszuschöpfen, würde an den Universitäten und Hochschulen alte und neue Diskussions- und Diskursräume eröffnen. Darin könnten Systemwidersprüche und auch Kritik selbst zum Thema (gemacht) werden und damit würde qualitative Forschung weniger als ein Methodenarsenal denn mehr als ein für soziale, kulturelle und gesellschaftliche Fragen relevanter Ansatz gestärkt.
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Vöing, Nerea, Sabine Reisas und Maik Arnold, Hrsg. 2022. Scholarship of Teaching and Learning – Eine forschungsgeleitete Fundierung und Weiterentwicklung hochschul(fach)didaktischen Handelns. Köln: Bibliothek der Technischen Hochschule Köln.
Wieck, Antonia. 2023. Reden ist Gold – eine ethnografische Studie zur Bedeutung von Gesprächssituationen im Altenheim. Bachelorthesis Hochschule Magdeburg-Stendal.
Wintzer, Jeannine, Hrsg. 2016. Herausforderungen in der Qualitativen Sozialforschung. Forschungsstrategien von Studierenden für Studierende. Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum
Wintzer, Jeannine. 2023. »Praktiken der Hochschullehre mittels Flipped Classroom und Forschendem Lernen umkehren: Das Beispiel einer qualitativen Methodenausbildung in der Geografie«. Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research 24 (2): Art. 24. https://doi.org/10.17169/fqs-24.2.4074
Whyte, William Foote. 1943. Street corner society: The social structure of an Italian slum. Chicago, IL: University of Chicago Press.
Günter Mey, Prof. Dr. habil., ist Professor für Entwicklungspsychologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal und Privatdozent an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth sowie Co-Leiter des Instituts für Qualitative Forschung in der Internationalen Akademie Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Qualitative Forschung, Wissenschaftskommunikation und performative Sozialwissenschaft sowie Weiterentwicklung der Lehre zu qualitativer Forschung. 2015 wurde er für sein Angebot »Projektwerkstatt Qualitatives Arbeiten« mit dem Innovationslehrpreis der Hochschule ausgezeichnet.
Kontakt: Prof. Dr. habil. Günter Mey,
Hochschule Magdeburg-Stendal, Angewandte Humanwissenschaften,
Osterburger Str. 25, D-39576 Hansestadt Stendal
E-Mail: guenter.mey@h2.de
https://orcid.org/0000-0002-2887-4303
Debora Niermann, Dr.in phil., ist PostDoc-Researcher am Zentrum für Kindheiten in Schule und Gesellschaft an der Pädagogischen Hochschule Zürich (CH), Co-Projektleitung des qualitativen Methodenportals QUASUS an der Pädagogischen Hochschule Freiburg sowie Mitherausgeberin der Beltz Juventa-Buchreihe Qualitativ Forschen – Aktuelle Ansätze. Arbeitsschwerpunkte: Pädiatrische Palliative Care, Hospice Care, Global Urban Health, US-amerikanische Ethnografie, textuelle Performanz in der qualitativen Sozialforschung.
Kontakt: Dr. Debora Niermann,
Pädagogische Hochschule Zürich, Zentrum für Kindheiten in Schule und Gesellschaft,
Lagerstrasse 2, CH-8090 Zürich
E-Mail: debora.niermann@phzh.ch
https://orcid.org/0000-0003-2447-1985
Petra Panenka, Dr.in phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Qualitätsentwicklung in Lehre und Studium an der Hochschule Fulda. Forschungsschwerpunkte: Anthropologe der Bildung, kompetenzorientierte Lehre (Forschendes und Partizipatives Lernen), Skilled Practice und soziokulturelle Praktiken, Mensch-Umwelt-Beziehungen, Phänomenologie, Ethnologie der Sinne, qualitative Forschung mit Fokus auf Ethnografie und Grounded-Theory-Methodologie.
Kontakt: Dr. phil. Petra Panenka,
Hochschule Fulda, Leipzigerstr. 123, D-36037 Fulda
E-Mail: petra.panenka@verw.hs-fulda.de
Nicole Weydmann, Prof.in Dr.in, ist Professorin für Qualitative Methoden an der Hochschule Furtwangen, Mitglied des Lehrwerkstätten Netzwerks für Lehrende qualitativer Forschungsmethoden und Mit-Herausgeberin der FQS-Debatte »Lehren und Lernen qualitativer Methoden«. Arbeitsschwerpunkte: Qualitative Sozialforschung mit Fokus auf reflexiven und performativen Methoden, Lehr- und Lernbedingungen von qualitativen Forschungsmethoden. Psychische Gesundheit und Mensch-Umwelt Beziehungen in Zeiten krisenhafter Umweltveränderungen, Zugänge und Konzepte von Gesundheitsversorgung, mit Schwerpunkt traditioneller und alternativer Medizin in Indonesien.
Kontakt: Prof. Dr. Nicole Weydmann,
Hochschule Furtwangen, Angewandte Gesundheitswissenschaften,
Robert-Gerwig-Platz 1, D-78120 Furtwangen im Schwarzwald
E-Mail: nicole.weydmann@hs-furtwangen.de