Psychologie – eine Wissenschaft des »gestörten Weltbezugs«?

Autor/innen

  • Gerhard Benetka
  • Thomas Slunecko

DOI:

https://doi.org/10.30820/0942-2285-2023-1-38

Schlagworte:

Psychologiekritik, Phänomenologie, Kontakttheorie, Erkenntnistheorie, mentale Repräsentation, Dualismus, Heidegger, Merleau-Ponty

Abstract

Davon ausgehend, dass die psychologische Forschung nur wenig alltagstaugliches Wissen hervorzubringen vermag, wird im ersten Teil des Textes das naturwissenschaftliche Selbstverständnis des Faches einer prinzipiellen Kritik unterzogen: Weil das Weltbild der Naturwissenschaften letztlich auf der Abstraktion von personalen Bezügen basiert, entstehen für eine sich als Naturwissenschaft verstehende Psychologie notwendigerweise Schwierigkeiten, sinnstrukturiertes Alltagshandeln adäquat zu erfassen. Dies wird in der Folge erkenntnistheoretisch argumentiert. Mit der Durchsetzung des naturwissenschaftlichen Weltbilds geht die Durchsetzung einer Erkenntnistheorie einher, die wir mit Dreyfus und Taylor als vermittlungsgebunden bezeichnen: Die physikalische Welt wird erkannt, indem wir sie mental repräsentieren. In der Folge wird gezeigt, dass und wie die gegenwärtig das Fach dominierende kognitiv-neurowissenschaftliche Psychologie sich diesem epistemologischen und ontologischen Dualismus verbunden hat. Gegen diese epistemologischen Vorannahmen der Mainstream-Psychologie wird mit Bezug auf Heidegger und Merleau-Ponty für ein nicht-dualistisches Grundverständnis plädiert, das von einer unmittelbaren Eingebundenheit der Menschen in die Welt, in der sie »leben, weben und sind«, ausgeht. Am Schluss wird eine Art Synthese angedeutet: Der Repräsentationalismus ist zur Beschreibung von Situationen geeignet, bei denen wir uns angesichts von Störungen aus unserer Alltagsverhaftetheit, aus einem ursprünglichen Engagiert-Sein mit der Welt lösen und unser Verhältnis zur Welt neu adjustieren. Die Reflexion dieses Vorgangs vermag die lebensweltlichen Voraussetzungen unserer alltäglichen Handlungsvollzüge sichtbar zu machen – ohne dabei jedoch den gestörten Weltbezug epistemologisch auf Dauer stellen zu müssen.

Autor/innen-Biografien

Gerhard Benetka

Gerhard Benetka, Univ.-Prof. Dr., ist Dekan der Fakultät für Psychologie der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Geschichte der Psychologie und der Kulturpsychologie.

Thomas Slunecko

Thomas Slunecko, ao. Univ.-Prof. Dr., lehrt und forscht an der Abteilung für Kognition, Emotion und Methoden der Fakultät für Psychologie der Universität Wien. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich Kulturpsychologie, qualitative Methoden und Psychotherapie. Zudem leitet er das Institut für Kulturpsychologie und qualitative Sozialforschung (IKUS) in Wien, ist Psychotherapeut und Mitglied des österreichischen Psychotherapiebeirates.
038-058 34093

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Zitationsvorschlag

Benetka, Gerhard, und Thomas Slunecko. 2023. „Psychologie – Eine Wissenschaft Des »gestörten Weltbezugs«?“. Journal für Psychologie 31 (1):38-58. https://doi.org/10.30820/0942-2285-2023-1-38.